Rieks, David, Live-Berichterstattung aus der strafrechtlichen Hauptverhandlung
Das Strafverfahren zwischen Gerichtöffentlichkeit und den Ansprüchen auf Rundfunköffentlichkeit und Fernsehöffentlichkeit ist, je mehr sich eine zunehmend technisierte Berichterstattung aus dem Gerichtssaal etabliert hat, durch Berichterstattung via „Liveticker“, durch schriftliche Live-Berichterstattung, „Twittern aus der Hauptverhandlung“ zu einem neuen juristischen Problem geworden. „Court-TV“ stieß seit jeher an die strikten Grenzen des § 169 GVG. Mit dem EMöGG ist seit 2017 ein partieller Raum für erweiterte Öffentlichkeit geschaffen. Sie wird von den einen seit jeher als unlauterer Einbruch, von anderen als zu kleinmütig bekämpft.
Die strafrechtliche, von Martin Heger betreute, an der Humboldt-Universität in Berlin angenommene Dissertation konzentriert sich – auf breiter, auch historisch angelegter – Basis auf die zeitgleiche journalistische Live-Berichterstattung aus den Gerichtssälen per Twitter, auch verstanden als Mikroblogging-Dienste und Social-Media-Plattform.
Mit der historisch gewachsenen Öffentlichkeitsmaxime und ihrem Telos wird ein vertrautes Diskussionsforum betreten. Die vieldiskutierte Norm § 169 GVG und die Ausschlüsse von Öffentlichkeit gemäß den §§ 170ff. GVG schränken die neuen Gerichtsberichtserstattungsformate möglicherweise nicht generell ein. Doch die Studie greift weiter aus. Sie analysiert, auch rechtsvergleichend mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die Schutzzwecke des Normenbestands und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in der immerhin drei bedeutende „dissenting opinions“ für die partielle Erweiterung von Saalöffentlichkeit zur Medienöffentlichkeit votierten.
Die Schwerpunkte der Probleme liegen bei der diffizilen Frage der Einflüsse auf die Wahrheitsfindung, bei dem Persönlichkeitsrecht und dem Recht an dem eigenen Bild, der Reichweite der Unschuldsvermutung und den Gefahren der Prangerwirkungen. Rechtspolitisch ist der Befund nach sozial-, medien- und rechtswissenschaftlichen Grundlagen höchst umstritten. Die sorgfältig aufgezeigten Gefährdungspotentiale des Gerichtsfernsehens führen Rieks jedenfalls zu dem Ergebnis der Richtigkeit der bisherigen Einschränkungen und zur Relativierung der neuen Möglichkeiten des EMöGG.
Die Live-Ticker-Berichterstattung soll de lege lata unerlaubt sein (S. 317 ff.). Zu Recht wird, unabhängig von der rechtspolitisch strittigen Fragestellung, jedenfalls der „Flickenteppich“ der richterlichen Sitzungspolizei problematisiert.
Die sehr lesenswerte, in ihren grundsätzlichen Abwägungen und im Ergebnis die Gefährdungskonstellationen als überwiegend weiterhin bewertende Studie bietet in ihrer Material- und Argumentationsfülle eine begrüßenswerte analytische Leistung, an der die künftigen rechtlichen und rechtspolitischen Überlegungen nicht vorbeigehen dürften. Das für eine weitergehende demokratische Kontrolle und für einen freien medialen Diskurs sinnvoll einsetzbare Gerichtsfernsehen, wie es u a. Dieter Grimm befürwortet hat, hat mit der sehr zurückhaltenden Position Rieks‘ weniger gewonnen.
Das prinzipielle Dilemma zwischen einer sachlichen, schnellen und die neuen Technologien nicht generell ins Abseits stellenden Live-Berichterstattung und der oftmals vergleichsweise abstrakt im Vorhinein restriktiv spekulierenden Ordnungs- und Sitzungsgefährdung, die schon allzu oft zu fragwürdiger autoritärer Sitzungspolizeimacht geführt hat, wird auch hier letztlich gegen liberalere Praxis aufgelöst. Den mit durch mediale Berichterstattung mit produzierten „Schauprozessen" verbundenen Gefahren wird -durch eine mehr oder geringfügige Revision der bisherigen Normen auch mit dem EMöGG nicht entgegengewirkt. Deren eigentlichen gesellschaftlichen und medienspezifischen Ursachen ist mit solchen legislativen, sich allenfalls vorsichtig vortastenden Reparaturarbeiten und der Kur von Symptomen jedenfalls schwerlich beizukommen.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen