Schneider, Sabine, Belastete Demokraten –

Hessische Landtagsabgeordnete der Nachkriegszeit zwischen Nationalsozialismus und Liberalisierung (= Politische und parlamentarische Geschichte des Landes Hessen 47). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2019. XI, 560 S. Angezeigt von Gerhard Köbler. ZIER 9 (2019) 82. IT

Seit der in der frühen Neuzeit beginnenden Aufklärung haben sich früher feste geistige Konturen allmählich gelockert und ist scheinbar gedanklich Festes allmählich in Zweifel und Bewegung geraten, wofür auch die christliche Kirche ein anschauliches Beispiel zu bieten vermag. Hatte die Kirche seit der Durchsetzung der Geldwirtschaft den Ablasskauf als praktische Möglichkeit der Vergebung von Sünden ohne wirkliche innere Anteilnahme gefördert, so konnte Martin Luther 1517 diese einträgliche und einfache Praxis radikal und erfolgreich sogar als Einzelner angreifen und damit ziemlich rasch Millionen von Anhängern gewinnen, die der alten Übung abschworen und entschieden neue Gedanken vertraten. In dem weltlichen Leben führte in diesem Zusammenhang die in Frankreich 1789 verkündete Lehre von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dazu, dass auf Grund der Meinungsfreiheit politische Überzeugungen miteinander in Wettbewerb traten, der bald in kurzen zeitlichen Abständen von den Wählern bewertet und verändert werden konnte, so dass mehr und mehr die Kandidaten zu bedenken hatte, welches politische Programm ihnen mit welcher Persönlichkeit eine Mehrheit in den Entscheidungsgremien bescheren konnte, deren Leistungen freilich bei der nächsten Wahl zu einer Prüfung anstanden. oder anstehen konnten

 

Mit einem jüngeren politischen Teilaspekt dieser Problematik beschäftigt sich die vorliegende Studie, welche die von Eckart Conze betreute, an dem Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften der Universität Marburg 2017 angenommene, an eine Studie Hans-Peter Klauschs von 2011 über die nationalsozialistische Belastung zahlreicher ehemaliger Landtagsabgeordneter Hessens anknüpfende Dissertation der Verfasserin in leicht überarbeiteter Gestalt der Öffentlichkeit zu ihrer Verfügung stellt. Sie gliedert sich nach einer Einleitung über Gegenstand und Fragestellung, über die begriffliche Problematisierung von nationalsozialistisch Belasteten und Demokraten, über Quellen und Methoden sowie über Forschungsstand und Aufbau in fünf Abschnitte. Diese betreffen eine andere Sicht auf die hessische Parteiengeschichte mit SPD, BHE, GDP, FDP und CDU in dem politischen Umgang mit dem Nationalsozialismus, die Vergangenheiten elfer, alphabetisch geordneter Politiker von Rudi Arndt  über Gustav Hacker, Eitel Höhne, Ernst Holtzmann, Heinrich Kohl, Hermann Krause, Heinrich Rodemer, Ernst Schauß, Ludwig Schneider und Frank Seiboth bis Tassilo Tröscher, Wege in die Politik, Demokratisierung und Liberalisierung sowie die Thematisierungen persönlicher Vergangenheiten.

 

In dem überzeugenden Ergebnis stellt die Verfasserin fest, dass innerhalb ihrer elf Biographien für die Zeit bis 1945 durchaus Unterschied vorliegen, dass sich die Lebensläufe in den fünfziger Jahren schrittweise jedoch so weit einander annäherten, dass sich eine Perspektive auf den Landtag Hessens und die Nachkriegsgesellschaft sowie die Bundesrepublik insgesamt eröffnete, wobei die Einstufung durch die Spruchkammern als Entlastete oder Mitläufer Möglichkeiten und Freiheiten bot. Die Betroffenen distanzierten sich nicht nur negativ von dem Nationalsozialismus, sondern unterstützten trotz vielfältigen Unterschieden in der Motivation die Demokratie durch den Beitritt zu einer Partei, die Übernahme von Ämtern und öffentliche Werbung für den neuen Staat, wobei sich für keinen Betroffenen an Hand der Quellen nachweisen lässt, dass er eine Stelle oder ein Amt auf Grund seiner nationalsozialistischen Belastung nicht bekommen hätte. Nach abschließender Ansicht der Verfasserin ist allen untersuchten Politikern gemein, dass sie ihr Geschichtsbild und ihr Verhältnis zu dem Nationalsozialismus, so vielfältig es auch war, nach 1945 ausdifferenzieren und neu bestimmen und sich parallel dazu in der Demokratie zurechtfinden und einen Anpassungsprozess und Lernprozess durchlaufen mussten, der einigen schneller gelang, während andere weniger wendig waren.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler