Obermaier, Frederik/Obermayer, Bastian, Die Ibiza-Affäre –

Innenansichten eines Skandals – Wie wir die geheimen Pläne von Rechtspopulisten enttarnten und darüber die österreichische Regierung stürzte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 2. A. 2019. 268 S. Angezeigt von Gerhard Köbler. ZIER 9 (2019) 81. IT

Wer die Krone hat, hat die Macht. Das wussten schon die Kaiser und Könige des Altertums und des Mittelalters, auch wenn ihre Macht über die Angehörigen ihrer Reiche angesichts der geringen technischen Möglichkeiten ihrer Zeiten in Vergleich zu der Gegenwart ziemlich begrenzt war. Aber die Krone Österreichs der Gegenwart ist nicht irgendeine Zeitung, sondern mit 700000 täglich verkauften Exemplaren und einer Reichweite von etwa dreißig Prozent eine Meinungsmacht, gegen die man angeblich in Österreich nicht, mit ihr dagegen, wenn man sie bekommt, wunderbar regieren kann, weshalb sie sehr erstrebenswert ist.

 

Die beiden in Eggenfelden und Rosenheim 1984 und 1977 geborenen, als Leiter und leitender Redakteur des Ressorts Investigative Recherche der Süddeutschen Zeitung tätigen und bereits mittels eines anonymen John Doe gemeinsam den internationalen Bestseller Panama Papers – Die Geschichte einer Enthüllung - veröffentlichenden Verfasser erhielten wohl 2019 von jemandem, den sie schon seit Jahren kennen und dem sie dementsprechend vertrauen, eine nach ihren Worten auch für sie seltsam wirkende, aber Macht verheißende Nachricht. Es werde sich bald jemand auf einem sicheren Kanal melden, den sie sich auf jeden Fall anhören sollten. Es gehe um einen Mann an der Spitze eines europäischen Landes – welcher Journalist würde eine solche Geschichte, hinter der vielleicht eine gute Geschichte stecke, nicht hören wollen, zumal dann, wenn er gerade die Panama Papers enthüllt hätte und die Andeutung einige Tage später durch einen tatsächlichen Anrufer dahingehend erhärtet und vertieft wird, dass es um jemanden gehe, der höchste Regierungsverantwortung trage und sehr wichtig sei, gegen den man einiges in der Hand habe, der anfällig für Korruption sei, der aber sehr mächtige Verbündete und Geldgeber habe, so dass man vor ihm Angst habe, zumal es nicht nur einer sei, sondern sogar zwei.

 

In der Folge berichten die beiden Verfasser in dreißig Kapiteln spannend und detailliert über die Einladung der beiden Politiker Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus von der Freiheitlichen Partei des (kleinen) Landes Österreich zu einem Essen in einer Villa auf Ibiza durch die (angebliche, sehr reiche) Nichte eines Oligarchen aus Russland und ihre verschlungene Annäherung an das dabei heimlich in fragwürdiger Weise hergestellte Tonmaterial und Videomaterial. Nach einem einleitenden Vorwort Armin Wolfs über vielleicht nur einen Streifschuss und dem einführenden Prolog geht es nacheinander um 15 Minuten, Sushi, Wodka und Red Bull, Play, Zack, zack, zack, keine Bewegung, mysteriöse Spender, weiße Bildschirme, Machtfantasien, weiter im Film, die Orgien der anderen, Konkurrenz, das weiße Ibiza und (letztlich doch nicht ausreichend verdächtige) schwarze ungepflegte Fußnägel (eines als geil empfundenen Lockvogels), helle Aufregung, das Ende der Welt, einen Tag der Entscheidung, Finale auf Ibiza, Treffen mit der (über die Leichtfertigkeit von Gudenus und Strache erstaunten, angeblich nicht erpressten und nicht entlohnten, vorgeblichen) Oligarchennichte, Joschi mach das klar, einen absichernden Ohrenvergleich, ein Kammerl (der Süddeutschen Zeitung), ein WhatsApp an HC Strache, ein Whatsapp von HC Strache, live, Wiener Wahnsinn, Jetzt erst recht (aber künftig überall wohl besser in einem möglichst sicheren Kammerl als in einer verwanzten Villa), Kurz‘ Schluss, Jagd auf die Fallensteller und Ermittlungsanordnung. Geschickt pendeln die Verfasser und ihre Sympathisanten zwischen dem seinerzeitigen Ibiza in dem Juli 2017 und ihrem eigenen München 2019 hin und her, bis am 17. Mai 2019 um 18 Uhr mit der zeitgleichen Veröffentlichung des mittlerweile berühmten Ibizavideos auf den Webseiten der Süddeutschen Zeitung und des Spiegel klar war, dass der Vizekanzler der Republik Österreich und der Fraktionsvorsitzende seiner Partei politisch nicht nur durch einen Streifschuss beschädigt, sondern sogar durch einen Blattschuss zumindest vorläufig bis zu einer unwahrscheinlichen, aber durch Wähler in Österreich doch wohl auch nicht unmöglichen Auferstehung erledigt waren.

 

Nach dieser heroischen Tat erklären die beiden Verfasser möglichen Interessenten in dem Untertitel ihres Werkes, wie sie die geheimen Pläne von Rechtspopulisten enttarnten und darüber die österreichische Regierung stürzte. Dabei haben sie nach den ersten vertrauensbildenden Maßnahmen eigentlich außer der Dechiffrierung und der anschließenden, geschickt inszenierten Publikation eines ihnen von bewusst im Dunkel gelassenen Nutznießern zugespielten, heimlich verdeckt gewonnenen Materials nichts Außerordentliches geleistet. Welcher Journalist würde eine solche Geschichte auf der Suche nach Macht in Form einer Aufsehen erregenden Erledigung feindlicher Politiker, Bekanntheit und Autorenhonorar nicht hören wollen, wo doch auch jeder Journalist nur ein Mensch ist, der mit anderen Menschen oder Journalisten um die Meinungsmacht konkurriert und in diesem Ringen um die Macht diese innerhalb größerer Netzwerke am ehesten dem zufällt, der die meisten mächtigen Freunde hat und am geschicktesten vorgeht, also den höchsten Mehrwert bietet.

 

Der nach den früheren Premierministern Islands und Norwegens dabei erledigte, in Wien 1969 geborene, von einer Drogistin nach Aussteigen des Vaters allein erzogene, nach Hauptschule und Abbruch der Handelsschule zu einem Zahntechniker ausgebildete, mit fünfzehn Jahren der schlagenden deutschnationalen Schülerverbindung Vandalia beitretende, die Studienberechtigungsprüfung bestehende, ein Studium aber nicht abschließende, über einen Zahnarzt und Bezirksobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs dieser Gruppierung beitretende und in Auseinandersetzung mit dem charismatischeren Jörg Haider 2005 zu dem Bundesparteiobmann und auf Grund von Wählerstimmen nach der Nationalratswahl 2017 unter Sebastian Kurz zu dem Vizekanzler aufsteigende Heinz-Christian Strache gewann seine Wähler vor allem über sehr nationalistische Zielsetzungen während der aktuellen Migrationen und strikte verbale Ablehnung von Korruption. Wie ein insgesamt sechsstündiges Video belegt, erörterte er jedoch scheinbar geheim mit einem Lockvogel in Ibiza den Erwerb der Krone und Wahlkampfhilfen für seine Partei gegen staatliche Aufträge und Privatisierung Gewinn versprechender Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie die Umgehung der Meldepflicht möglicher rechtswidriger Parteispenden. Obwohl er dabei stets betonte, nichts Rechtswidriges ausführen zu wollen, offenbarten seine Ausführungen doch so starke Abweichungen der inneren Einstellungen und möglichen Planungen von öffentlich behaupteten, Wähler beeindruckenden und verleitenden Positionen, dass ihn die Veröffentlichung des Videos durch die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel zu Fall brachte und einigermaßen folgerichtig den Sturz der gesamten Regierung Österreichs nach sich zog.

 

Wer diesen Fall wollte und bewirkte, werden die beiden Verfasser inzwischen wohl wissen oder ahnen. Sie behalten es dem Leser aber mit Hinweis auf den Informantenschutz bewusst und ausdrücklich vor. Wer wird denn auch freiwillig und gern nach solchen bisherigen politischen und finanziellen Erfolgen die damit gewonnene und erwiesene Macht auf der Suche nach weiteren Erfolgen und zusätzlicher Macht über den unverhüllten Hinweis auf das vorsichtigere und erfolgreichere Kammerlrezept hinaus noch durch wahrheitsgemäße offene Benennung von Informanten auf das Spiel setzen wollen?

 

Im Grunde haben Gefällte und Fäller sich bei der Ibizaaffäre nur wiederum als das erwiesen, was sie sind, nämlich als Menschen, die Macht, Geld und Ruhm erstreben und dabei Angebote abgeben, die andere nicht oder kaum ablehnen können. Es geht ihnen anscheinend nicht um die Wahrheit als solche, sondern nur um die ihnen günstig erscheinende Wahrheit beispielsweise gegen und über Rechtspopulisten oder andere. Das dürfte aber weltweit gleich sein und nur den alten Weisheiten über das Wesen des Menschen entsprechen, dass Macht oder Aussicht auf Macht letztlich fast jeden korrupt macht und mundus vult decipi, ergo decipiamus, weshalb Politiker wie Heinz-Christian Strache, Sebastian Kurz, Donald Trump, Wladimir Putin oder Benjamin Netanjahu und beliebig viele andere ebenso wie wohl auch Journalisten, die nach einer unvorhersehbaren Enthüllung bewusst veröffentlichte Nachrichten erhalten wie „geh doch scheißen, du hässlicher dummer Jude“ und grundsätzlich auch nur das Spiegelbild oder Ergebnis ihrer sich insgeheim ebenfalls Macht, Geld und Ruhm wünschenden und in Zweifelsfällen Lüge, Täuschung und Korruption nicht scheuenden, sondern genießenden Wähler und Leser sind.

 

Zumindest seit die Menschen den Staat gebildet haben, gibt es die Macht weniger über viele, die sie so gut wie möglich in eigenem Interesse in ihren Händen halten. Seit der Aufklärung ist dabei der Machtwechsel durch Wahlen selbverständlich, bei der auch die Inhaber der Macht oder der Krone Chancen haben, die sie gern verteidigen. Wenn sie Gefahr laufen, ihre Macht zu verlieren, bedienen sie sich nicht nur der ihnen gewogenen eigenen Medien und Netzwerke, sondern anscheinend auch des tödlichen Blattschusses durch geeignete Instrumente, der zumindest vorübergehend den Verlust der Macht verzögern oder erschweren und den Gewinn der Macht durch einen Angreifer mit Recht oder ohne Rechtfertigung verhindern oder ausschließen kann.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler