Georgi, Oliver, Und täglich grüßt das Phrasenschwein.
Zum Los des Politikers in demokratischen Staaten gehört es, unter ständiger Beobachtung zu stehen. Handlungen und Aussagen der gewählten Repräsentanten werden von der Wählerschaft und von einer kritischen Medienöffentlichkeit aufmerksam registriert und umgehend kommentiert. Jeder kleine Fauxpas trägt so die Gefahr in sich, zu einer großen Sache aufgeblasen zu werden, dem Betroffenen drohen Einbußen im Renommee oder gar der Sturz. Was Wunder, dass unter diesen Rahmenbedingungen viele – vielleicht sogar die meisten – Politiker es für klüger halten, sich nicht mit konkreten und klaren Stellungnahmen angreifbar zu machen, und stattdessen Allgemeinplätze strapazieren, die – wiewohl inhaltsleer – in wohlklingenden Formeln Substanz suggerieren.
Oliver Georgi, politischer Redakteur bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), hält diese Tendenz zur Flucht in Phrasen und Floskeln für so bedenklich, dass er sich nun auf 200 Seiten näher mit dem Thema auseinandersetzt und eine Lanze für eine authentische Gesprächskultur bricht: „Wie könnte ein Ausweg aus diesem Dilemma aussehen, den Phrasen abzuschwören und eine präzisere, offenere Sprache zu sprechen, ohne damit zu ihrer Verrohung beizutragen? Wie kann der verständliche Wunsch vieler Wähler nach mehr Authentizität auch in der politischen Kommunikation eingelöst werden, ohne ‚Klartext‘ mit der verantwortungslosen Sprache der (Rechts-)Populisten zu verwechseln? Darum soll es in diesem Buch gehen. Und um noch etwas: um mehr Selbstkritik und Ehrlichkeit auch bei uns selbst, den Wählern und den Journalisten. Denn auch wir nutzen jeden Tag Phrasen – und das häufig aus denselben Gründen wie die politischen Vertreter.“ An Letztere sei allerdings ein strengerer Maßstab anzulegen, denn: „Nicht nur was Politiker tun, kann die Gegenwart und die Zukunft verändern. Sondern auch die Art und Weise, wie sie darüber reden“ (S. 13).
Vertrauen und Ehrlichkeit beschwören, „klare Kante“ zeigen und „nah bei die Leut“ sein, sich rechtschaffen empören und an die Verantwortung appellieren, fortwährend den eigenen Mut und den Wert der Stabilität betonen, Zukunftsorientierung vermitteln – es seien besonders diese andauernd bemühten Felder aus dem Kanon erwünschter politischer Werthaltungen, die durch den unentwegten sprachlichen Missbrauch inhaltlich entleert und allzu häufig in ihr Gegenteil verkehrt würden. Beispielsweise lasse sich errechnen, „dass in 73 Prozent der Fälle, in denen [Bundeskanzlerin Angela] Merkel während ihrer zweiten Amtszeit einem deutschen Politiker ihr ‚volles Vertrauen‘ ausgesprochen hatte, nach durchschnittlich 33,3 Tagen der Rücktritt erfolgte“ (S. 15). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe 2017 den angeblich 2004 von Franz Müntefering geprägten Begriff „sich ehrlich machen“ „fast ein Dutzend Mal (verwendet), als er über die Flüchtlingspolitik und die Zuwanderung nach Deutschland sprach. […] Aber: Warum sagen Politikerinnen und Politiker […] nicht einfach ‚wir müssen ehrlich sein‘ […]? […] Wenn man so will, versuchen sich Politiker mit Phrasen wie dieser […] an der rhetorischen Quadratur des Kreises: Fehler zuzugeben, ohne Fehler zuzugeben“ (S. 38). In Anbetracht dieses verbreiteten, unangemessen zahmen Verhaltens unserer höchsten politischen Repräsentanten sei bei vielen Bürgern „die Sehnsucht (groß), dass ‚kantige‘ und ‚authentische‘ Politiker und Politikerinnen den bis zum Einschlafen ritualisierten Betrieb ‚aufmischen‘. […] Das Problem ist aber: Wir sind in dieser verständlichen Sehnsucht nicht konsequent – und verstärken gerade dadurch paradoxerweise noch die Tendenz, dass unsere politischen Repräsentanten in Phrasen und leeren Formeln reden“ (S. 48). Als SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück 2013 humorvoll-frech seinen Mittelfinger symbolisch einsetzte, musste er „danach erleben, dass viele von jenen, die seine regelmäßigen ‚Kontrollverluste‘ vor der Wahl noch als Ausweis einer raubeinigen Authentizität gefeiert hatten, ihn nun genau dafür verdammten“ (S. 53). 2015 besucht Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel das sächsische Heidenau, wo es zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen gekommen war, bezeichnet, „Klartext“ redend, rassistische rechtsradikale Randalierer als „Pack“ und muss für seine Wortwahl anschließend viel Kritik einstecken. „Politiker lernen daraus […], dass klare Worte gefährlich sein können, weil die Wähler sie in Wirklichkeit doch nicht so schätzen wie behauptet. Wer kann es Politikern da verübeln, dass sie im Zweifel […] lieber den sicheren Weg durch die Welt der Phrasen wählen?“ (S. 60).
CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn habe mit Recht festgestellt, „Politiker, Medien und Bürger hätten das Streiten verlernt; statt sich mit den Argumenten des anderen auseinanderzusetzen, würden Meinungsäußerungen schnell in ein Gut-Böse-Schema gepresst, je nachdem, ob einem die Meinung gefalle oder nicht“. Tatsächlich „beobachten wir immer mehr moralisierende Generaldebatten, die durch die immer aufgeregtere Berichterstattung der Medien binnen Minuten losbrechen können und in denen kaum noch differenziert wird“. Zu wünschen sei, so Spahn, „dass wir erst einmal davon ausgehen, dass der oder die andere nicht alle Grundlagen von Humanität und Moral untergraben will, wenn ihm oder ihr mal der Kragen platzt“ (S. 65ff.). Schon 1992 habe der SPD-Politiker Erhard Eppler die gravierenden Folgen angesprochen, wenn das Notwendige nicht gesagt und stattdessen abstrakt um die Dinge herumgeredet würde, nämlich „Wahlenthaltung, Protestparteien und Rechtsradikalismus“ (S. 67). Das gelte analog auch für die Medien, denn einer Studie zufolge habe in der Flüchtlingskrise bis zum Spätherbst 2015 „kaum ein Kommentar die Sorgen, Ängste und auch Widerstände eines wachsenden Teils der Bevölkerung auf(gegriffen)“ (S. 70). Es sei daher „an der Zeit, auch den Begriff der ‚politischen Korrektheit‘ wieder differenzierter zu betrachten. […] Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs […], eine verantwortungsvolle, nicht diffamierende oder menschenverachtende Sprache, sollten und müssen wir beibehalten. Das würde auch den Unterschied klarmachen, der zwischen verantwortungsvollem ‚Klartext‘ und jenem vermeintlichen der Rechtspopulisten besteht: Man kann sehr wohl offen, unerschrocken und aufrichtig kommunizieren, ohne zu diskriminieren“ (S. 72).
Die Mitverantwortung des Wählers für den unbefriedigenden Status quo kommt in der folgenden Feststellung des Verfassers zum Ausdruck: „In den Merkel-Jahren […], als die Welt von Krise zu Krise schlitterte, gab es eine weitverbreitete Sehnsucht nach einer Politik der ‚ruhigen Hand‘ – und eine junge Generation, […] in der sich viele nichts sehnlicher wünschten, als so zu sein wie ihre Eltern. Ist es ein Wunder, dass so eine Generation keine rebellischen, mutigen oder gar aufmüpfigen Politiker hervorbringt, die auch sprachlich etwas wagen, sondern eher den einschläfernden GroKo-Konsens schätzt? Jede Generation, könnte man sagen, hat immer auch die Politiker – und die politische Sprache –, die sie verdient“ (S. 150f.). Wiewohl die Verhältnisse in Deutschland primärer Gegenstand der Erörterung sind, verweist der Band am Rande auch auf den Missbrauch von politischen Phrasen im Ausland, etwa durch die frühere britische Premierministerin Theresa May im Zuge des „Brexit“-Prozesses oder durch den US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, „das Paradebeispiel dafür, wie tief Politiker mit ständigen Wiederholungen selbst offenkundiger ‚Fake News‘ in das Bewusstsein der Wähler eindringen können“ (S. 163).
In seinem letzten Kapitel stellt sich Oliver Georgi die Frage, was getan werden könne, „um zu einer neuen politischen Sprache zu finden, die mit weniger Floskeln auskommt und die Politik wieder näher an ihre Wähler heranbringt, ohne der Provokationsrhetorik der AfD hinterherzulaufen“ (S. 189). Seine fünf Thesen plädieren für mehr Bewusstsein für die Bedeutung der Sprache bei den Politikern, für Präzision und Differenzierung im Sprachgebrauch, für den Mut zur Kontroverse, für ein Ausbrechen aus der medialen Empörungsroutine und für mehr Ehrlichkeit und Realitätsbezug im Hinblick auf das Bild, das wir von unseren politischen Repräsentanten erwarten. Zweifellos legt der Verfasser in seiner streitbaren Schrift den Finger in eine für den allgemeinen Verdruss am politischen Establishment ursächliche Wunde. Nichtsdestotrotz stehen der Realisierung seiner gewiss erstrebenswerten Forderungen nach Ansicht des Rezensenten wirkmächtige Strukturen entgegen, vorrangig die stark irrationalen Mechanismen politischer Willensbildung in Anbetracht unbestimmter „gefühlter“ Bedrohungen, der die traditionellen Verhaltensnormen zunehmend missachtende, weitgehend unkontrollierte und unlimitierte Diskursraum der neuen Medien und die Funktionsgesetze medialer Kommunikation per se.
Kapfenberg Werner Augustinovic