Lehne-Gstreinthaler, Christine, Iurisperiti et oratores –

Eine Studie zu den römischen Juristen der Republik (= Forschungen zum römischen Recht 60). Böhlau, Wien 2019. 552 S. Angezeigt von Gerhard Köbler. ZIER 9 (2019) 10. IT

Das römische Recht hat wohl die gesamte bisherige Rechtsgeschichte der von dem Menschen weitgehend beherrschten Erde stärker als jedes andere Recht beeinflusst, auch wenn zahlreiche Menschen außerhalb Roms zu ihrem Inhalt ebenfalls in vielfältiger Weise beigetragen haben. Es entstand nach dem allgemeinen derzeitigen Wissen aus der Auslegung der Bestimmungen der Zwölftafelgesetze von 451/450 v. Chr. durch Sachkundige auf dem Forum Roms in vielfältigen Streitigkeiten zwischen römischen Bürgern. Mit den in diesem Rahmen tätigen Römern bzw. ihren sententiae und opiniones bzw. der römischen „Rechtswissenschaft“ der Republik beschäftigt sich die vorliegende umfangreiche Studie der in Innsbruck 1984 geborenen und nach der Matura des Jahres 2002 an dem akademischen Gymnasium in Innsbruck an der Universität in Rechtswissenschaft und klassischer Philologie ausgebildeten Verfasserin, die sich nach der Titelei zugleich als 2012 an der Universität Innsbruck vorgelegte Dissertation versteht und eine etwas längere, in der Einleitung dargelegte Entstehungsgeschichte aufweist, wobei es ursprüngliches Ziel der Dissertation war, die Rolle der Juristen in dem Prozessrecht neu zu erforschen und dazu alle vorhandenen responsa der Republik auf ihre prozessrechtliche Relevanz zu untersuchen.

 

Allerdings gelangte die Verfasserin bei ihren diesbezüglichen Studien trotz des wichtigen Werkes Wolfgang Kunkels über die römischen Juristen und der kürzeren wegweisenden Arbeiten Detlef Liebs‘ und Okko Behrends‘ relativ rasch zu der Erkenntnis, dass noch viel Forschungsbedarf zu der oft wenig beachteten republikanischen Epoche besteht, der etwa die soziale Stellung und die Aufgabenbereiche betrifft. Dabei erkannte sie, dass das Respondieren zwar eine wichtige, aber bei weitem nicht immer die hauptsächliche Beschäftigung der römischen iuris consulti oder iuris periti und für viele eher nebensächlich und zudem in Ausbildung und Professionalisierung keineswegs mit der Gegenwart der Rechtswissenschaft und der Juristen vergleichbar ist. Zusätzlich hielt sie eine Beschränkung auf das römische ius civile für unangemessen, weil auch das ius publicum relevant war, so dass sie in dem Ergebnis überzeugend nicht nur die rechtlichen Auskünfte geordnet nach Rechtsgebieten darstellt, sondern die gesamte rechtliche Tätigkeit.

 

Dementsprechend gliedert sie ihre weiterführende selbständige Untersuchung in zwei Teile. Diese betreffen zunächst die „Juristen“ der römischen Republik und anschließend deutlich kürzer das „Berufsbild“ der „Juristen“ während der römischen Republik.

 

In dem ersten Teil beginnt die Verfasserin naheliegend mit der Frühzeit und allgemeinen und methodischen Vorbemerkungen. Danach betrachtet sie die Priesterkollegien der pontifices, augures, fetiales und decemviri sacris faciundis und die decreta und responsa. Bei der anschließenden Säkularisierung kann sie namentlich Cato Censorius, L. Acilius, Quintus Fabius Pictor und weitere Rechtskundige des dritten vorschristlichen Jahrhunderts, für das zweite Jahrhundert M. Porcius Cato Licinianus, T. Manlius Torquatus, P. Cornelius Scipio Nasica Corculum, weitere Männer aus der gens Mucia, L. Coelius Antipater, L. Cassius Hemina, P. Rutilius Rufus, Quintus Mucius Scaevola pontifex sowie weitere bekannte Anwälte, für das erste vorchristliche Jahrhundert bis zu dem Ende der Republik Schüler des Quintus Mucius Scaevola pontifex, Ser. Sulpicius Rufus, A. Ofilius, P. Alfenus Varus, Q. Cornelius Maximus, Q. Aelius Tubero d. J., A. Cascellius, C. Trebatius Testa, Marcus Tullius Cicero, P. Nigidius Figulus und M. Terentius Varro nennen.

 

Für das Berufsbild weist sie auf agere, cavere und respondere hin, wobei sie respondere vorwiegend auf die außerprozessuale Beratung bezieht. Bei der Betrachtung des patronus vertritt sie die Ansicht, dass einige der sententiae iuris peritorum Urteile oder Schiedsurteile sind. Die Rechtsschulung erfolgte vor allem durch Anvertrauung an einen angesehenen Freund oder Bekannten der Familie mittels eines in dem Durchschnitt einjährigen tirocinium fori mit dem Schwerpunkt auf der Tätigkeit als Anwalt in Prozessen und Politiker sowie vereinzelt der juristischen Beratung von Freunden und Bekannten, so dass Lehrer und Übung entscheidend sein konnten.

 

Der Rechtsunterricht erfolgte wohl auf der Grundlage eines Rhetorikunterrichts primär in öffentlich zugänglichen Philosophieschulen. Allerdings war der rhetorische und philosophische Unterricht anscheinend noch in dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert wenig differenziert und spezialisiert. Deswegen ist nach der einleuchtenden Ansicht der Verfasserin kaum davon auszugehen, dass der Unterricht in Rhetorik wie in Recht in der Zeit der Republik eine besonders starke Spezialisierung aufwies.

 

Als erste rechtliche Literaturgattung ermittelt die Verfasserin wohl aus der mündlichen Rechtsberatung erwachsene commentarii als der Geschichtsschreibung nahestehende Verarbeitung von Amtsaufzeichnungen und Dienstberichten etwa des Sextus Aelius Paetus, des Quintus Fabius Pictor, eines der beiden Cato, des C. Sempronius Tuditanus, des C. Iunius Gracchanus, des M. Iunius Brutus oder des M. Antistius Labeo. Die Zahl rechtlicher Werke war dabei nach der Verfasserin schon zu der Zeit Ciceros vermutlich sehr groß. Allerdings gingen diese Schriften bereits in dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert großenteils verloren.

 

Insgesamt war nach Ansicht der Verfasserin wegen der familiären Vernetzung und der geringen Zahl der Familien der Oberschicht die Befassung mit dem Recht wohl vielfach Familienangelegenheit und blieb stets der Rhetorik untergeordnet. Von einer professionellen Ausbildung ist wohl erst in der Hochklassik (Nerva bis Marc Aurel bzw. 96-180 n. Chr.) auszugehen und ein starker historischer und philosophischer Ansatz ist selbst bei Schriften zu dem ius civile zu erwarten. Dementsprechend wird die sehr gelungene Untersuchung der Verfasserin über iurisperiti et oratores der mit Caesar und Augustus endenden römischen Republik bei allen künftigen Arbeiten über das römische Recht und seine spätere weltweite Wirkung beachtet werden müssen, auch wenn der römische „Jurist“ der Republik selbst wohl noch fraglich bleibt.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler