Becker, Peter, Verderbnis und Entartung

. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 176). Vandenhoeck, Göttingen 2002. 416 S., 21 Abb. Besprochen von Rainer Möhler.

Becker, Peter, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Insituts für Geschichte 176). Vandenhoeck, Göttingen 2002. 416 S., 21 Abb.

 

„Beim Gauner ist die ganze Welt verkehrt. Wenn wir also beim ehrlichen Arbeiter sagen, je fleißiger er arbeitet, desto näher liegt das gute Vorurtheil, daß er ein sittlich-tüchtiger Mann sey, so sprechen wir umgekehrt beim Gauner: je emsiger er schafft, ein um so niederträchtigerer Spitzbube wird er seyn ... Es fehlt ihm nur eine Kleinigkeit zum wirklichen Arbeiter: das sittliche Motiv und das sittliche Ziel, und mit dieser Kleinigkeit fehlt ihm Alles“ - Wilhelm Heinrich Riehl formulierte 1861 in seiner Schrift: „Die deutsche Arbeit“ das Unbehagen der bürgerlichen Welt an den „Gaunern“: Sie waren die erklärten Außenseiter, die „Anderen“, die es galt zu bestrafen und aus der Gesellschaft wegzusperren, aber sie waren auch Teil derselben bürgerlichen Gesellschaft und verkörperten sogar bürgerliche Werte im Sinne von Erwerbsstreben und Fleiß. Um die Faszination der Verbrecherwelt für die bürgerliche Gesellschaft und zeitgenössische Vorschläge zur Verhinderung von Delinquenz im 19. Jahrhundert dreht sich die „diskursgeschichtliche“ Arbeit von Peter Becker, eine in Göttingen eingereichte Habilitationsschrift. Peter Becker untersucht die zu Beginn des 19. Jahrhunderts rapide zunehmende Literatur über das Verbrechen aus verschiedener Provenienz nach Kontinuität und Diskontinuität in den Fragestellungen, Erklärungen und Konzepten; er benutzt dazu die „Archäologie des praktischen Blicks“ (S. 17), die auf einer systematischen Analyse der Argumentationsweisen, Metaphern und „Bildern“ in Texten von Kriminalpraktikern, Strafrechtlern, Medizinern, Anthropologen und Philosophen aufbaut. Die Verbrecherwelt stellte dabei das Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft dar, den Abgrund einer kriminellen Gegenwelt, wo Unsittlichkeit, Krankheit und Verderben regierten. Der Verbrecher verkörperte die Negation der bürgerlichen Identität, er stand für „das Böse“, den Missbrauch der Vernunft und der Freiheit, er machte die Gefahren eines übertriebenen Egoismus bei fehlendem Gemeinsinn deutlich. Peter Becker rekonstruiert in seinem ersten Teil des Buches den kriminologischen Diskurs als eine „Moralgeschichte des Bösen“, und zeichnet die Betrachtungen über die „Gesinnung“ des Verbrechers als dem eines „gefallenen“ Menschen nach. Beispielhaft geht er dabei auf die zeitgenössisch viel diskutierten Themen des Alkoholmissbrauchs und der Prostitution ein, Themen, die an der Schnittstelle zwischen bürgerlicher und krimineller Welt liegen. Im zweiten Teil der Arbeit geht es ihm dann um die Analyse des Wandlungsprozesses im kriminologischen Diskurs, der durch eine „Naturalisierung von Kriminalität“ gekennzeichnet war. Der Titel seines Buches birgt bereits die Hauptthese seiner Untersuchung: „Verderbnis und Entartung“, der Wandel vom Bild des moralisch-„gefallenen“ Menschens zur wissenschaftlichen „Erkenntnis“ über den biologisch-„verhinderten“, zum Verbrechen determinierten Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts. Dem geänderten Menschenbild des Delinquenten vom „gefallenen“ zum „verhinderten“ Menschen entsprach die Ersetzung des bürgerlichen Leitbildes des „vernünftigen“ Bürgers durch den des „gesunden“. Die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) und die neue Möglichkeit des quantitativen, „objektiven“ Nachweises der Ineffizienz bisheriger Maßnahmen und Methoden in Form von Kriminalstatistiken führten in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einem Zurückdrängen der Stimmen der Praktiker und zur Vorherrschaft von wissenschaftlichen Texten in der Diskussion über die Ursprünge des Verbrechens und die beste Kriminalpolitik. Der Verbrecher, der bislang auf einer „gleichberechtigten“ Kommunikationsebene als Mensch befragt und untersucht worden war, wurde immer mehr zum bloßen Objekt experimenteller Forschung, zur statistischen Größe und zum Gegenstand einer bevormundenden Verwaltung degradiert.

 

Die Konjunkturwelle der Kriminalitätsgeschichte hat inzwischen das 19. Jahrhundert und in ersten Versuchen sogar bereits das 20. Jahrhundert erfasst. Im Gegensatz zur Erforschung des Verbrechens und der Verbrechenswelten in der frühen Neuzeit richtet sich das Hauptaugenmerk der Forschung in der neueren Geschichte aber nicht auf die Geschichte der Kriminellen selbst, sondern auf ihre Perzeption durch die bürgerliche Gesellschaft. Von Interesse ist nicht das abweichende Verhalten, sondern die Reaktion auf Seiten der Polizei, Fürsorgeverwaltung, Justiz und – seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – der neuen Wissenschaftsdisziplin der Kriminologie, einer zunächst stark interdisziplinär ausgerichteten, heterogenen Forschergemeinschaft aus Juristen, Medizinern und Psychiatern zusammen mit Praktikern aus der inneren Verwaltung und dem Justizapparat. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang zwei neuere Veröffentlichungen, die zugleich zwei grundsätzliche Problemfelder der Beschäftigung mit einem Thema der Kriminalitätsgeschichte in der Neuzeit deutlich machen: Zum einen die subjektive Dimension des Verbrechensbegriffs: Regula Ludi mit „Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750-1850“ (1999), zum anderen die revolutionäre Neuerung, die das Zeitalter der Aufklärung in den Umgang mit abweichendem Verhalten einbrachte: die Vision einer besseren Welt, frei von Verbrechen und Verbrechern: Patrick Wagner mit „Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolitik in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus“ (1996). Peter Becker, der bereits mit mehreren Veröffentlichungen zum Thema hervorgetreten ist, hat mit seiner umfangreichen Studie diese Sichtweise auf der „diskursgeschichtlichen“ Ebene erweitert. Allerdings blieben dem Rezensenten die Auswahlkriterien seiner Quellentexte verborgen. Es verwundert vor allem, dass die eigentlichen Praktiker bei der langjährigen Betrachtung der Verbrecher, die leitenden Beamten in der Strafvollzugsverwaltung, nicht vertreten sind. Auch die zeitgenössischen Strafrechtler, unter denen Franz von Liszt (1851-1919) zu den Gründern der modernen deutschen Kriminologie gehört, kommen im Untersuchungsmaterial kaum vor. Stattdessen konzentriert sich Peter Becker wie in seinen früheren Veröffentlichungen vor allem auf den „polizeilichen Blick“, ein wichtiger Teil des Diskurses, aber nicht mehr. Auch das begriffliche Instrumentarium wird von Becker nicht eindeutig genug gehandhabt: Weder der Verbrechensbegriff noch der von ihm ohne Bedenken verwendete Begriff der „Asozialität“ werden in einer angemessenen Weise definiert und differenziert angewandt. Dadurch entstehen einige zu glatte Thesen des Buches, denn auch am Ende des 19. Jahrhunderts wussten die zeitgenössischen Kriminologen sehr wohl zwischen den verschiedenen Typen von Kriminalität und Kriminellen zu unterscheiden und jeweils adäquate Maßnahmen vorzuschlagen. Zu erinnern sei an die bekannte Trinität der Kriminalpolitik des bereits erwähnten Franz von Liszt in seinem Marburger Programm (1882): „Besserung der besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen Verbrecher; Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher". Entgangen ist Becker auch die zeitgenössische internationale Dimension des kriminologischen Diskurses, so vor allem die zahlreichen, seit 1872 regelmäßig stattfindenden internationalen Gefängnisskongresse (der erste fand 1846 in Frankfurt am Main statt) sowie der in der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV) seit ihrer Gründung 1889 gepflegte intensive Austausch zwischen Praktikern der Verbrechensbekämpfung und Wissenschaftlern aus Strafrechtspflege, Medizin und Psychiatrie. Es entsteht das Trugbild einer falschen Homogentität im kriminologischen Diskurs: Auch wenn der Siegeszug der „Biologisierung des Sozialen“ in diesem Bereich unaufenthaltsam voranschritt, war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und selbst noch im „Dritten Reich“ die Ursachenanalyse des Verbrechens („Anlage oder Umwelt“) nicht eindeutig entschieden. Trotzdem sei abschließend festgehalten, dass Peter Becker eine gut lesbare Studie zum kriminologischen Diskurs gelungen ist, in der der Wandel des Menschenbildes im 19. Jahrhundert am Beispiel des delinquenten Verhaltens anschaulich nachgezeichnet wird.

 

Saarbrücken                                                                                                  Rainer Möhler