Oestmann, Peter, Zur Gerichtspraxis im 19. Jahrhundert.
In der Geschichte lässt sich vielfach zwischen Sollen und Sein unterscheiden, wobei das Sollen grundsätzlich abstrakt und das Sein grundsätzlich konkret ist. Dementsprechend wird in dem Recht zwischen den Rechtssätzen als abstrakten Normen und zwischen Rechtsverfahren oder rechtlichen Prozessen als Anwendung der Tatbestände und Rechtsfolgen der Rechtssätze auf die Wirklichkeit des menschlichen Verhaltens getrennt. Da das Abstrakte wegen der Abstraktion der Einzelheiten zu Gunsten des Grundlegenden grundsätzlich einen geringeren Umfang hat als die vielfältigen Einzelgeschehnisse, hat sich die geschichtliche Betrachtung vielfach aus ökonomischen Überlegungen für das Abstrakte als das Grundsätzliche entschieden, weswegen beispielsweise die wenigen Reichskammergerichtsordnungen und Reichshofratsordnungen früher Aufmerksamkeit gefunden haben als die große Vielzahl der einzelnen Reichskammergerichtsprozesse oder Reichshofratsprozesse.
In Abweichung hiervon beschäftigt sich das vorliegende gewichtige Werk, das nach dem Vorwort des Verfassers in seinen Anfängen bis in den April 2006 zurückreicht, als er Albrecht Cordes und Serge Dauchy die Zusage für eine Tagung zu der Handelsrechtsgeschichte und Seerechtsgeschichte in Roscoff gab, mit einem einzigen Schmuggeleiprozess an Hand unterschiedlicher Gegebenheiten. Zu der Verwirklichung dieser Vereinbarung fuhr er in dem Februar 2007 nach Lübeck in das Archiv, wo in dem Benutzerraum noch heute der grüne Tisch steht, an dem Arnold Heise und seine Kollegen ihre Entscheidungen fällten. Weitere Archivaufenthalte folgten und in vielen Vorträgen berichtete Peter Oestmann seitdem über das Oberappellationsgericht der vier freien Städte. 2014 lag mit Hilfe Björn Czeschicks die Transkription der fünf für wesentlich gehaltenen Akten über die behandelten Geschehnisse vor.
In der Folge wurde der Prozess in seinen Einzelheiten durchgearbeitet. Über die Details berichtet die ausführliche Einleitung der Seiten 3 bis 74. Sie geht von den Prozessakten des 19. Jahrhunderts als Forschungsdesiderat aus und beschreibt nacheinander die konkrete Quelle, das entscheidende Gericht, den Sachverhalt, die Prozessgeschichte, die wesentlichen Rechtsfragen, die Arbeitsweise der Anwälte, die Verfügungen und Urteile des Gerichts, die Prinzipienjurisprudenz, den Umfang mit Rechtsquellen und Schrifttum, die Gerichtkosten, die eigenen Vorarbeiten und die Editionsgrundsätze. Dem folgt auf den Seiten 77 bis 1022 die Edition der Prozessakten OAG L I 22A, OAG L I 122 und in Teil 2 OAG L I 161, OAG L I 181 und OAG L I 202.
Insgesamt erschließt die kommentierte Edition erstmals eine umfangreiche Prozessakte des 19. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit für die rechtsgeschichtliche Forschung. Der Sache nach ging es in den fünf einzelnen Verfahren um Schmuggel auf der Ostsee zwischen der Hansestadt Lübeck und Russland, bei denen Hinweispflichten in Verträgen und Diskriminierungen von Ausländern erhebliches Gewicht gewannen. Möge die von dem Verfasser dabei erlebte reine Seeluft des Binnenmeers viele Leser durch ihre Frische und Kraft ebenso begeistern wie einst Arnold Heise und seine Richterkollegen einschließlich Peter Oestmanns, auch wenn die seinerzeit aktuelle Vergangenheit inzwischen von der Gegenwart so weit überholt worden ist, dass die Aufnahme des gesamten Textes ihrerseits eine weite und lange Reise in eine ferne See unter einem sachverständigen, faszinierten und hoffentlich von möglichst großem literarischem Ruhm bekränzten Kapitän erfordert.
Innsbruck Gerhard Köbler