Die SS nach 1945.

Entschuldungsnarrative, populäre Mythen, europäische Erinnerungsdiskurse, hg. v. Schulte, Jan Erik/Wildt, Michael (= Berichte und Studien Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung 76). Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2018. 451 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER 9 (2019) 82. IT

Vom 6. bis 8. Dezember 2013 fand im Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden ein Workshop statt, im Zuge dessen aktuelle Erkenntnisse zu der „zweite(n) Geschichte der SS“ (so die beiden Herausgeber im Titel der Einleitung, S. 9) – nämlich jener nach dem Sturz des Nationalsozialismus – ausgetauscht wurden. Wie gemeinhin üblich, wurden die 19 überarbeiteten Beiträge von insgesamt 21 männlichen und weiblichen Verfassern (wobei sich Michael Wildt auf die Co-Herausgeberschaft und die Co-Autorschaft der Einleitung beschränkt), deren Funktionen und wichtigste Schriften im Anhang (S. 447 – 451) aufgelistet sind, nun gesammelt publiziert. Gegliedert in fünf Themengruppen versuchen die jeweiligen Ausführungen zu skizzieren, in welcher Hinsicht die nationalsozialistische Schutzstaffel (SS) nach 1945 gesellschaftlich noch eine Rolle spielte. Zur Sprache kommen nacheinander Entschuldungsnarrative, juristische Aufarbeitungsversuche, personelle Kontinuitäten, populäre Mythen und europäische Erinnerungsdiskurse, wobei sich die beiden erstgenannten Sektionen vorwiegend mit spezifischen Fragen zur Internierung und zur Strafverfolgung von ehemaligen SS-Angehörigen beschäftigen und so aus dem Blickwinkel der Rechtsgeschichte am ertragreichsten sind. Auf diese Teile wird daher in dieser Besprechung näher eingegangen, während die weiteren, durchaus verdienstvollen Beiträge kurz im Überblick vorgestellt werden sollen.

 

Sehr aufschlussreich gestaltet sich Jan Erik Schultes kritischer Blick auf die Organisationsverfahren gegen SS (Schutzstaffel), Gestapo (Geheime Staatspolizei) und SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS) vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg 1945/46, die helfen sollten, „einen Mittelweg zu beschreiten zwischen einer unterschiedslosen Kollektivbestrafung und einer Straffreiheit für die vielen Mittäter gerade auch in den besonders inkriminierten Organisationen“ (S. 33). Die Strafbarkeit von Organisationen war daher in dem Statut des IMT (Art. 9, 10, 11) als integraler Bestandteil des Londoner Viermächteabkommens vom 8. August 1945 verankert worden und ermöglichte so, gemessen an der bloßen Anzahl der potentiell betroffenen Personen, „den größten (Straf-)Prozess der Geschichte und somit […] ein Novum sowohl im Völkerstrafrecht als auch im Strafrecht schlechthin“ (S. 31). Mit Blick auf ihre Aussagen in den zugelassenen Eingaben und eidesstattlichen Erklärungen (allein ca. 136.000 ehemalige SS-Angehörige hätten diese Gelegenheit zur Äußerung genutzt, dazu noch 7000 Vertreter des SD und 2000 Gestapo-Männer) und auf die Strategien der zugeordneten Verteidiger bemüht sich der Verfasser zu zeigen, „welche Geschichtserzählungen und Apologien dem Gericht präsentiert wurden“ und „für welche der später […] kolportierten Narrative und apologetischen Diskurse über die SS im Nürnberger Organisationsverfahren die Grundlage geschaffen wurde oder sie doch zumindest eine erste Artikulationsmöglichkeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges fanden“ (S. 32). Bereits in ihrem Anklagevortrag habe die Anklagebehörde die Linie, die ausgesuchten Organisationen jeweils als geschlossene Systeme zu behandeln, nicht konsequent durchgehalten und dadurch der Verteidigung Gelegenheit geboten, mit mehr oder weniger Erfolg durch eine Aufspaltung in verschiedene Teilbereiche einzelne Sektoren herauszulösen und „deren Ferne zu den Verbrechen oder zu den verbrecherischen übrigen Segmenten der Organisation herauszustellen“ (S. 41). Besonders über die personalstarke Waffen-SS wurden wahrheitswidrig zahlreiche entlastende Mythen strapaziert: Sie sei „der vierte Wehrmachtsteil“ gewesen (Aussage Hans Jüttner, ehedem Chef des SS-Führungshauptamtes); ihre Vorläuferorganisation, die SS-Verfügungstruppe, sei immer schon eine physische, moralische und militärische Elite gewesen; rassistische Motivation habe keine Rolle gespielt; die SS-Totenkopfsturmbanne hätten organisatorisch und personell nichts mit der Waffen-SS zu tun gehabt. Darüber hinaus wurden „die historischen Verhältnisse im Reichssicherheitshauptamt und im Hauptamt Ordnungspolizei verzerrt dargestellt“ und wurde versucht, „mithilfe des Konstrukts der Dienstgradangleichungen“ die SS-Mitgliedschaft der Polizisten unter Verschweigen des Umstandes, „dass die Angleichung des SS-Dienstgrads an den Polizeidienstgrad erst nach einem individuellen, selbstverantworteten und freiwilligen Eintritt in die SS erfolgte“, als reine Formalie kleinzureden (S. 50f.). Die Verteidiger „trugen […] dazu bei, einheitliche apologetische Narrative zu entwickeln oder zu verstärken und unter den ehemaligen Angehörigen der von ihnen verteidigten Organisationen zu verbreiten“, womit sie gemeinsam mit ihren Zeugen zu „Multiplikatoren für bestimmte Erzähltopoi“ wurden (S. 54). Im Urteilsspruch wurde dann zwar die SS – wie auch das Korps der Politischen Leiter der NSDAP, die Gestapo und der SD – zur verbrecherischen Organisation erklärt, doch ausgenommen von dem Verdikt wurden neben all jenen, die individuell nichts von den Verbrechen gewusst und sich nicht an solchen beteiligt hatten, alle zwangsweise zur Waffen-SS Eingezogenen oder vor dem 1. September 1939 aus der Allgemeinen SS wieder Ausgetretenen sowie als Formation die Reiter-SS, deren Mitglieder das Gericht in Verkennung der realen Gegebenheiten für zwangsweise in die SS eingegliederte, unpolitische Sportler hielt. Entscheidend aber sei, so die nachvollziehbare These des Verfassers, dass durch das dargestellte Procedere lange nachwirkende apologetische Narrative auf den Weg gebracht worden seien und das später „in der Gesellschaft und in den Kreisen der SS-Veteranen ‚Sagbare‘ schon in Nürnberg definiert (wurde)“ (S. 55).

 

Andrew H. Beattie beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der alliierten Internierung und stellt dazu drei grundlegende Fragen: „Welchen Platz nimmt die SS in der Geschichte der Internierung und der Geschichtsschreibung dazu ein? Welche Rolle spielte die SS im zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskurs über die Internierung? Und welche Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft der SS-Angehörigen kann man in diesem Kontext feststellen?“ (S. 58). Eine grundsätzliche Einigung der Alliierten im Juli 1944, „dass jede Besatzungsmacht Mitglieder der SS, der SA, der Gestapo ‚und anderer mit Waffen ausgestatteter Kräfte oder Hilfsorganisationen‘ zu Kriegsgefangenen erklären dürfte“ und darüber hinaus „deutsche Arbeitskräfte für Reparationen herangezogen werden konnten“, habe unterschiedliche Verhaftungsdirektiven der Sowjetunion und der Westmächte hervorgebracht. So habe der NKWD-Befehl Nr. 00315 angeordnet, „SS-, SA- und Volkssturm-Mitglieder sowie KZ- und Gefängnispersonal wie Kriegsgefangene zu behandeln und zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion zu transportieren“ (was nicht ausnahmslos erfolgte, denn im Oktober 1945 habe man wiederum verfügt, „ehemalige SS-Angehörige doch in der SBZ [= Sowjetische Besatzungszone; W. A.] zu internieren“; S. 62), während „laut den westlichen Vorschriften SS-Personal in den Zivilinternierungslagern in Deutschland interniert werden (sollte)“, was de facto jedoch oft erst im Anschluss an eine westliche Kriegsgefangenschaft geschehen sei (S. 60; eine nähere Darstellung dieser westlichen Direktiven findet sich dort unter der Fußnote 15). Irreführend sei die Annahme, „dass es sich bei der Internierung primär um eine strafrechtliche Maßnahme gegen ‚mutmaßliche Kriegsverbrecher‘ gehandelt habe“, vielmehr sei sie „in erster Linie eine sicherheitspolitische Säuberungsmaßnahme gegen einen breiteren, heterogeneren Personenkreis“ gewesen (S. 63f.). Andrew H. Beattie weist darauf hin, dass den Zeitgenossen nicht nur SS-Leute, sondern gleichermaßen auch die ehemaligen Funktionäre der NSDAP als bevorzugt berechtigte Zielgruppe für eine Internierung erschienen. Obwohl sowohl im Osten (wo aus den oben angeführten Gründen nur sehr wenige SS-Angehörige in den Speziallagern einsaßen) als auch im Westen bereits zeitgenössisch „die SS-Mitglieder unter den Internierten zur Legitimierung der Internierung (dienten) […,] wurde [in den westlichen Besatzungszonen; W. A.] die Internierung einzelner SS-Verbände und vieler einzelner SS-Mitglieder kritisch gesehen und deren Entlassung befürwortet und gefordert“ (S. 65f.), häufig unter Bemühung der von Jan Erik Schulte in seinem Beitrag ausgeführten apologetischen Narrative und mit tatkräftiger Unterstützung der christlichen Kirchen beider Konfessionen. In seinem Monatsbericht vom März 1946 bezeichnete der katholische Lagerpfarrer in Dachau die internierten SS-Männer gar als „wertvollstes Menschenmaterial für den Kirchenbau der Zukunft“, während weniger euphorische Stimmen nüchtern „die vielen (Wieder-)Eintritte als reine Konjunkturerscheinung oder Ausdruck eines Schutzbedürfnisses in schwieriger Lage“ werteten (S. 72f.). Der Verfasser des Beitrags folgert zusammenfassend: Im Rahmen einer „allgemeinen Exkulpationssolidarität“ stand die SS in der Hierarchie zwar „weit unten“, doch „aufgenommen wurden ihre Mitglieder früher oder später trotzdem. […] Im Endeffekt erschien selbst die Internierung des härtesten Kerns, wenn auch nicht als völlig unberechtigte, so doch als eine unglückliche und unbeliebte Besatzungsmaßnahme“ (S. 74).

 

Auch in den Narrativen der Todesmärsche – die eingebürgerte Bezeichnung für die von ausufernder Gewalt begleiteten Evakuierungen der Konzentrationslager (KZ) und ihrer Außenlager unter der Drohung näher rückender Fronten – sei, wie Martin Clemens Winter nachweisen kann, die SS zu einer Negativfolie stilisiert worden, hinter der die (Mit-)Täterschaft anderer Akteure und vorzugsweise der lokalen Bevölkerung bis in die unmittelbare Gegenwart kaschiert werde. In dieser Phase der Lagerräumungen hätten in einem „Transformationsprozess“ vorzugsweise „von Luftwaffe, Heer und Kriegsmarine zur SS-Wachtruppe überstellte Soldaten“ das nun an der Front benötigte, geschulte und erfahrene SS-Lagerpersonal ersetzt und die Eskorten gestellt – „sie waren zumeist diejenigen, die unterwegs Häftlinge erschossen, ob mit oder ohne ausdrücklichen Befehl“. Dazu kam, „dass in völlig neuem Ausmaß Gruppen und Einzelpersonen aus Polizei, Hitlerjugend (HJ) oder Volkssturm, aus ‚zivilen‘ Institutionen und Verwaltungen sowie gewöhnliche Einwohnerinnen und Einwohner kleiner Ortschaften in das Verbrechensgeschehen, in die Misshandlung und Ermordung tausender erschöpfter und wehrloser Menschen involviert waren“. Schon frühzeitig sei diesen Tätern klar geworden, „dass der Verweis auf eine alleinschuldige SS als plausibles Entlastungselement dienen könnte“ (S. 101f.). Wie Beispiele darlegen, zeigte man später weder im Osten, wo man die Thematisierung der breiten gesellschaftlichen Beteiligung an diesen Verbrechen als Gefahr für die Integration der Bevölkerung im Rahmen des propagierten Neuaufbaus der sozialistischen Gesellschaft betrachtete, noch im Westen an einer sauberen strafrechtlichen Aufarbeitung dieser komplexen Tathergänge ein wirkliches Interesse. In konsequenter Fortschreibung dieser Linie tragen auch die errichteten Erinnerungsmale an die Märsche und ihre Opfer sowohl auf dem Boden der Bundesrepublik als auch auf dem der seinerzeitigen DDR in aller Regel nur unspezifische Inschriften. So „konnte in beiden Teilen Deutschlands zwar an die Verbrechen vor Ort erinnert, aber zugleich gesellschaftliche Integration gewährleistet werden“, während „‘die SS‘ zu einer selbstevidenten Chiffre wurde“, die dazu diente, „die im sozialen Nahbereich verübten Taten zu externalisieren“ (S. 115). Unberücksichtigt und unerwähnt lässt der Beitrag leider das von diesen Ergebnissen womöglich in Teilen abweichende Erinnern an die Todesmärsche auf dem Gebiet des heutigen Österreich. So hat die Stadtgemeinde Eisenerz auf dem Präbichl zum Gedenken an die dort Anfang April 1945 auf dem Marsch nach Mauthausen ermordeten 200 ungarischen Juden 2004 ein Mahnmal nebst erläuternden Schrifttafeln errichten lassen, die als Täter des Massakers explizit den lokalen „Eisenerzer Volkssturm“ anführen. 18 Verantwortliche für die Bluttat waren im Frühjahr 1946 von der britischen Besatzungsmacht in Graz vor Gericht gestellt, zehn davon zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Die Gedenktafel an der Begräbnisstätte der Ermordeten am Leopoldsteiner See spricht indessen nur kryptisch und euphemistisch von dem Gedächtnis an „jüd(ische) KZ-Häftlinge, welche im April 1945 bei Eisenerz ihr Leben verloren“. In ihrer Schrift „Todesmarsch Eisenstraße 1945. Terror, Handlungsspielräume, Erinnerung: Menschliches Handeln unter Zwangsbedingungen“ (2005) haben die Verfasser Christian Ehetreiber und Heimo Halbrainer auch die auf den ersten Blick bemerkenswerte Tatsache festgehalten, dass ausgerechnet die SS dem Massaker Einhalt geboten und den Anführer des Volkssturms kurzfristig festgenommen habe. Unabhängig vom situativen Kontext entsprach jedoch gerade ein solches Eingreifen jenem SS-Ethos, das der Reichsführer-SS Heinrich Himmler seinen Männern stets predigte, nämlich sämtliche Befehle nach den Begriffen ihres Chefs „sauber“, will heißen: streng sachlich-funktionalistisch und frei von persönlichen Emotionen, effizient umzusetzen, was auch für Vernichtungsmaßnahmen galt.

 

Die zutiefst inhumane Realität derartiger Vernichtungseinsätze in Litauen steht im Zentrum des Beitrags von Kim Christian Priemel, der das Ludwigsburger Ermittlungsverfahren gegen das Einsatzkommando (EK) 3 thematisiert. Obwohl das der Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS (SD) unter Walter Stahlecker unterstehende, von SS-Standartenführer Karl Jäger befehligte EK 3 bereits in der zweiten Jahreshälfte 1941 bis zu drei Viertel der ursprünglich über 200.000 Juden Litauens ermordet hatte, sei ausgerechnet dieser Tatkomplex der alliierten Strafverfolgung der Einsatzgruppentäter entgangen, nicht zuletzt dank einer unglücklichen Hand bei der Auswahl der Angeklagten im Fall IX der Nürnberger Nachfolgeprozesse (NMT), unter denen sich nur drei Angehörige der Einsatzgruppe A – kein einziger davon vom EK 3 – befanden. Erst im Laufe der Ermittlungen gegen Täter des Sonderkommandos Tilsit (sogenannter Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958), die ihre Schuld unter anderem auf Karl Jäger abzuwälzen suchten, gerieten die Aktivitäten des EK 3 in das Visier der noch jungen Ludwigsburger Behörde, die ein Vorermittlungsverfahren einleitete. Mit Verweis auf den Rechtsgrundsatz ne bis in idem stellt der Verfasser fest: „Nur weil das EK 3 und namentlich sein Leiter Karl Jäger nicht auf der Nürnberger Anklagebank gesessen hatten, kamen sie überhaupt für die Ermittlungen wegen der Einsatzgruppenmorde in Frage“ (S. 134). Dass es dann nach anderthalb Jahrzehnten Ermittlungsarbeit nicht einmal zu einer Verhandlung, geschweige denn zu einer Verurteilung kommen sollte, liege an verschiedenen Ursachen: an dem Ableben der am schwersten belasteten Akteure (Jäger erhängte sich schon 1959 in seiner Zelle), an einer unzureichenden personellen Ausstattung und der Arbeitsüberlastung in Ludwigsburg und vor allem an den damaligen strafrechtlichen Erfordernissen konkreter, individuell zuordenbarer Tatvorwürfe. Nicht zu leugnen sei, dass so „die Verbrechen auf einem der zentralen Schauplätze des Holocausts von der alliierten wie von der deutschen Justiz weitgehend ungesühnt blieben“ (S. 144), aber auch, dass die Ermittlungen viele wertvolle Einsichten in personelle und funktionelle Strukturen der deutschen Vernichtungspolitik und des Besatzungsalltags im Osten zu Tage förderten und damit ein historiographisch und in noch ausständigen Verfahren nutzbares, neues Level der Erkenntnis generierten.

 

Den Umgang der sowjetischen Justiz mit Angehörigen des SS- und Polizeiapparates skizzieren die Ausführungen Mike Schmeitzners. Man müsse diese Verfahren in ihrer Gesamtheit wohl „als rechtsförmig, aber nicht als rechtsstaatlich bezeichnen, da wichtige Elemente eines ‚fair trial‘ (wie die politische Unabhängigkeit der Gerichte, die Existenz von Verteidigern und von Öffentlichkeit) häufig oder ganz fehlten“ (S. 160). Öffentliche Prozesse, für die der Verfasser den Begriff der „Demonstrationsprozesse“ reklamiert (denn hier standen in aller Regel die tatsächlich Verantwortlichen vor Gericht, während in den berüchtigten „Schauprozessen“ die Angeklagten genötigt wurden Taten zu gestehen und zu bereuen, die sie gar nicht begangen hatten), wurden ab Dezember 1943 auf der Rechtsgrundlage des Ukaz 43 des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR gegen Deutsche und Kollaborateure durchgeführt. In einer ersten Verfahrenswelle von Ende 1945 bis Anfang 1946 in ausgesuchten, ehemals deutsch besetzten sowjetischen Städten seien 67 der 86 Angeklagten zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, während die Beschuldigten der zweiten Welle im Herbst 1947 ebenso von der zwischenzeitlichen Aufhebung der Todesstrafe (die Anfang 1950 wieder eingeführt wurde) profitierten wie die Angeklagten des in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), also auf ostdeutschem Boden, nach dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 10 verhandelten Sachsenhausen-Prozesses. Diese öffentlichen Prozesse seien allerdings „nur gegen mehrere Hundert Deutsche“ geführt worden, während „die Zahl der durch Geheimverfahren verurteilten Deutschen bei mehreren Zehntausend“ gelegen habe (S. 152). „Die meisten Angehörigen des SS- und Polizei-Komplexes […] wurden im Zuge der Massenverfahren von 1949/50 als Kriegsgefangene in der UdSSR verurteilt“, zumeist zu langjährigen Zeitstrafen. Offiziere der Allgemeinen SS und der Waffen-SS, „denen keine ‚konkrete verbrecherische Betätigung‘ nachzuweisen war, (mussten) ‚allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur SS als Kriegsverbrecher an das Gericht überstellt werden‘“, eine deutliche Differenz sowohl zur eigenen Rechtspraxis während der Demonstrationsprozesse als auch zu jener der Westalliierten (S. 153). Todesurteile seien im „exzessiven“ Zeitraum der Todesstrafe von 1944 bis 1947 (damals sei „die westalliierte Praxis um das Vier- bis Fünffache“ übertroffen worden; S. 160) gegen ungefähr 450 SS-Angehörige vollstreckt worden (30 gegen SS-Generäle und prominente Polizeiführer wie den Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln oder den früheren Chef des SS-Hauptamtes, Kurt Wittje, mindestens 80 gegen Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes, mindestens 290 gegen Angehörige der Polizeibataillone, SS-Polizeiregimenter, der Einsatzgruppen und der Gendarmerie und um die 50 gegen KZ-Wachmannschaften aus insgesamt 15 Konzentrationslagern). Die beiden hochrangigen und erheblich belasteten Amtschefs im Reichssicherheitshauptamt, Friedrich Panzinger und Bruno Streckenbach, wurden hingegen „aus Nützlichkeitsgründen ‚zurückgehalten‘ und jahrelang abgeschöpft [… und] ‚erkauften‘ sich ihr Überleben in der Haft mit der Preisgabe wichtiger Informationen, beispielsweise über die deutschen Agentennetze in Europa“ (S. 159). In Summe sei es angemessen, „von ‚besonderer Härte‘ im strafrechtlichen Umgang mit SS- und Polizei-Angehörigen für die unmittelbare Nachkriegszeit“ zu sprechen, wobei ungeachtet rechtsstaatlicher Einwände „nicht aus dem Blick geraten“ dürfe, dass es sich bei dem Großteil dieser Verurteilten „tatsächlich um Täter handelte, die eine mörderische Praxis entfaltet hatten“ (S. 160).

 

Wie bereits erwähnt, ergänzt der Sammelband diese fünf Beiträge mit juristischem Fokus um zahlreiche weitere Aspekte zum Nachleben der SS. Zur Sprache kommen die Aktivitäten der in der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) netzwerkenden Veteranen der Waffen-SS (Karsten Wilke), die personellen SS-Kontinuitäten im Bundesnachrichtendienst (BND) (zwei Beiträge: Bodo V. Hechelhammer, Gerhard Sälter) sowie im Bundeskriminalamt (BKA) (Herbert Reinke) und als Kuriosum die Vita Günther Niethammers, des „Ornithologen von Auschwitz“ (Swen Steinberg). Welche populären Bilder von der SS in der Öffentlichkeit kursieren, zeigen die Beiträge zur Veteranenarbeit der Waffen-SS (Jens Westemeier), zu Film und Fernsehen der 1970er-Jahre (Andreas Eichmüller), zur kulturellen Praxis im deutschen Rechtsextremismus (Carl-Eric Linsler, Michael Kohlstruck) und zur Deutung der Wewelsburg in Kreisen der extremen Rechten (Dana Schlegelmilch). Schließlich reflektieren vier Beiträge der Umgang mit dem SS-Erbe im europäischen Kontext am Beispiel der elsässischen Zwangsrekrutierten (Christiane Kohser-Spohn), der Kontroverse um die bosnische SS-Division „Handschar“ (Sabina Ferhadbegović), der Namensänderungen von ehemaligen SS-Angehörigen in Rumänien (Thomas Klipphahn) und der Errichtung „europäischer“ Gedenkstätten in Osteuropa durch „germanische“ Veteranen der Waffen-SS (Steffen Werther). Ein abschließender Artikel deutet das Thema SS im literarischen Werk des Literatur-Nobelpreisträgers von 1999, Günter Grass, der erst 2006 in seinem Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ seine kurzzeitige Zugehörigkeit zu einem Verband der Waffen-SS öffentlich machte, unter dem Gesichtspunkt des Schreibens als Schamabwehr (Jennifer Zimmermann). So gewinnt der Leser des vorliegenden Werks einen bunten Einblick in die breit gestreuten Kontexte, durch welche die historische SS in mancherlei Gewand bis in die Gegenwart geistert. Ein seriöses verstehendes Einordnen dieser Präsenzen setzt in jedem Fall die profunde Kenntnis der „ersten Geschichte der SS“, also ihrer historischen Entwicklung und Verantwortungsbereiche während des Dritten Reiches, voraus.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic