Polian, Pavel, Briefe aus der Hölle.

Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz, aus dem Russischen v. Richter, Roman, bearb. v. Kilian, Andreas. Wissenschaftliche Buchgesellschaft/Theiss, Darmstadt 2019. 632 S., Abb., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

In keinem Begriff verkörpert sich heute so sehr der industrialisierte Massenmord, begangen vor allem, aber keineswegs ausschließlich an der jüdischen Bevölkerung Europas, wie in dem Namen des einstigen Lagerkomplexes von Auschwitz. Von Anfang September 1941 bis Ende Oktober 1944 wurden dort Menschen in großer Zahl vorsätzlich mit Gas getötet, ihre Leichen nach Wegnahme alles wirtschaftlich Verwertbaren in den Öfen der Krematorien verbrannt und ihre Asche anonym entsorgt. Zur Durchführung der im Rahmen dieses Massenvernichtungsprozesses in den fünf Verbrennungsanlagen anfallenden Tätigkeiten (mit Ausnahme des durch SS-Leute besorgten Einwerfens des Zyklon B-Granulats) wurden ausgewählte, überwiegend jüdische Häftlinge als Sonderkommando abkommandiert, dessen Stärke zeitweise bis zu 1000 Personen betrug und das bei Bedarf rund um die Uhr in Schichten zu je zwölf Stunden arbeitete. Als unmittelbare und unerwünschte Zeugen des Vernichtungsvorganges waren seine Mitglieder jederzeit der Gefahr ausgesetzt, selbst der Vernichtung anheimzufallen. Dass dies dann nicht immer konsequent ins Werk gesetzt wurde, lag nicht zuletzt an der starken Auslastung der Tötungsmaschinerie, deren reibungslosen Ablauf die deutsche Lagerleitung nicht durch den Einsatz neuen, erst einzuschulenden Personals beeinträchtigen wollte.

 

Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass das Ungeheuerliche, das in Auschwitz geschah, durch die penible Beseitigung der Augenzeugen, baulichen Anlagen, Akten und sonstigen Zeugnisse dereinst in Vergessenheit geraten und in Abrede gestellt werden könnte, entschlossen sich einige Angehörige des Sonderkommandos, heimlich Aufzeichnungen zu führen und in Behältnissen auf dem Lagerareal zu vergraben. Acht (der angeblich ursprünglich insgesamt 36) Verstecke dieser „Briefe aus der Hölle“ aus der Feder der fünf Verfasser Salmen Gradowski, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel und Marcel Nadjari – nur Letzterem gelang es, Auschwitz zu überleben – konnten zwischen Februar 1945 und Oktober 1980 im Bereich des einstigen Krematoriums III aufgefunden, sichergestellt und der Inhalt der zum Teil schon stark beschädigten Manuskripte weitgehend entziffert werden. Mit dem am 3. Januar 1945 im Lager verfassten, nach Kriegsende veröffentlichten, aber damals kaum rezipierten „Vorwort zur geplanten Anthologie Auschwitz“ des Auschwitz-Überlebenden Abraham Levite ergänzt ein weiterer authentischer Text dieses Korpus. Der vorliegende Band präsentiert die von Pavel Polian zunächst 2013 in russischer Sprache gesammelt herausgegebenen Schriften, aktualisiert und eingebettet in weitere Informationen, nun in deutscher Übersetzung. Nach einem Vorwort Hans-Heinrich Noltes und einigen Vorbemerkungen Pavel Polians berichtet ein erster Teil über die demografische Bilanz des Lagerkomplexes von Auschwitz (Opferzahlen), das Sonderkommando Auschwitz-Birkenau (Geschichte, Tätigkeit, Rotationen und Selektionen, Rolle beim Aufstand und bei der Zerstörung des Krematoriums IV im Oktober 1944, moralische Einschätzungen) und über die Entdeckungs-, Rekonstruktions- und Übersetzungsgeschichte der oben genannten Manuskripte. In einem zweiten Abschnitt werden anschließend jeweils die Biographien der sechs Chronisten und die Rezeptionsgeschichten ihrer Manuskripte kurz dargestellt, sodann folgen die Texte, ergänzt und erläutert durch kommentierende Anmerkungen in den Fußnoten. Drei Faksimile-Blätter vermitteln einen Eindruck von dem problematischen Zustand der Originalmanuskripte, vier Lichtbilder porträtieren vier der Verfasser (Gradowski S. 287; Lewenthal S. 556; Nadjari S. 556; Strasfogel S. 558). Abbildungen von Langfuß und Levite fehlen, wie auch der Band wohl ganz bewusst niemandem aus den Reihen der Täter ein Gesicht gibt. Ein über 120 Seiten starker Anhang – leider ohne Suchregister – versorgt den Nutzer großzügig mit dem notwendigen kontextualisierenden Detailwissen (Chronik Sonderkommando Auschwitz-Birkenau 1939 – 2019; Veröffentlichungen der Manuskripte des Sonderkommandos 1948 – 2019; Sowjetische Protokolle der Ergebnisse des Ortsaugenscheins in Auschwitz-Birkenau und erster Befragungen von Angehörigen des Sonderkommandos von Februar bis Mai 1945; 4 Kartenskizzen: Gesamtkomplex Auschwitz, Auschwitz I – Stammlager, Auschwitz II – Birkenau, Gelände Krematorium III mit Fundstellen der Manuskripte; Literaturverzeichnis).

 

Eine der größten Schwierigkeiten, die Gesamtzahl der Opfer von Auschwitz zu beziffern, besteht in der Praxis der SS, die bei der Ankunft zur unverzüglichen Vernichtung selektierten Menschen vor ihrer Tötung nicht mehr administrativ zu erfassen. Aufgrund einer überzogenen Einschätzung der technischen Kapazität der Anlagen hätten die Sowjets so rechnerisch die fragwürdige Zahl von vier Millionen errechnet, der sich Polen angeschlossen habe und die dann bis 1990 auch den Besuchern der Gedenkstätte Birkenau offiziell präsentiert wurde. Inzwischen erinnern die Tafeln dort nur mehr an eineinhalb Millionen ermordete Menschen. Der vormalige Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, habe im Nürnberger Prozess pauschal von zweieinhalb Millionen Juden gesprochen, die dort zur Vernichtung eingeliefert worden seien, seine vermutlich nicht vollständige Auflistung der jüdischen Opfer nach Ländern aus dem Gedächtnis ergebe wiederum die Summe von 1,13 Millionen. Nach exakteren neueren Einschätzungen wie jener Dieter Pohls (2008) sei höchstwahrscheinlich von einer Zahl von etwa 900.000 jüdischen Opfern in Auschwitz auszugehen. Hingegen verwirft der Verfasser scharf die von dem als „Neorevisionisten“ (S. 53) betitelten Fritjof Meyer 2002 in das Gespräch gebrachte Summe von 510.000 Auschwitz-Opfern und bezeichnet dessen Methode als „eine ideologische Form der Leugnung, in ihrer neuen, die klassische Geschichtswissenschaft nachahmenden, reduktionistischen Version“ (S. 54).

 

Dabei zeigen gerade die hier veröffentlichten authentischen Texte aus Auschwitz, dass alle Diskussionen um eine Summe, wie hoch sie auch ausfallen mag, als abstrakte Statistik an dem Wesentlichen vorbeigehen und das Grauen nicht annähernd so vergegenwärtigen wie die aus dem unmittelbaren Erleben schöpfenden und niedergeschriebenen Eindrücke einzelner, konkret fassbarer Menschen. Wären nicht, wie geschehen, Hunderttausende, sondern nur ein einziger Mensch in Auschwitz in einer Gaskammer ermordet worden, so hätte bereits dieser Mord den berühmten Zivilisationsbruch konstituiert. Die dabei von den Tätern erzwungene Kollaboration der jüdischen Angehörigen des Sonderkommandos brachte jene nicht nur täglich an ihre physischen und psychischen Grenzen, sondern am Ende vielfach die aggressive Kritik mancher Glaubensgenossen ein, so von Seiten Hannah Arendts, des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi und seiner Schülerin Regula Zürcher, die den Vorwurf in den Raum stellten, das Sonderkommando habe sich um persönlicher Vorteile willen am Judenmord mitschuldig gemacht. Solchen Stimmen schreibt Pavel Polian unmissverständlich (man beachte die Häufung in der Verwendung des Ausrufezeichens) und pragmatisch in das Stammbuch: „Ich erlaube mir, alle Richtenden daran zu erinnern: Es waren die Mitglieder des Sonderkommandos – sie und nur sie –, die lange einen Aufstand gehegt, geplant und letztlich auch in die Tat umgesetzt haben, dessen Beteiligte alle heldenhaft starben! Den einzigen bewaffneten Aufstand in der Geschichte von Auschwitz-Birkenau, dem auch SS-Angehörige zum Opfer fielen! Wohingegen der gesamten progressiven Menschheit das Fehlen von sechs Millionen ihrer Mitglieder irgendwie entgangen war und die züchtig-anständigen Alliierten aus der Anti-Hitler-Koalition weder genug Bomben noch Kerosin in ihren Lagern fanden, um diese perfekte Asche- und Knochenmehlfabrik zu zerbomben. […] Das Sonderkommando war keine Stabs-, sondern regelrecht eine Strafkompanie. Seine Mitglieder waren selbst zum Tod Verurteilte, die aber in den Kampf stürmten – in der Hoffnung, ihr Blutzoll werde sie von der niederträchtigen Schmach reinwaschen, zu der ihre Feinde sie, ohne zu fragen, verdammt hatten“ (S. 143f.).

 

War auch ihr gewaltsamer Aufstand gescheitert, so war hingegen der Versuch der Angehörigen des Sonderkommandos, sich der Nachwelt schriftlich mitzuteilen, weitgehend von Erfolg gekrönt. Salmen Gradowski (1908/1909/1910? – 1944) kam im Dezember 1942 in Auschwitz an, nach der Selektion wurde seine gesamte Familie in der Gaskammer getötet. Als Angehöriger des Sonderkommandos und Verschwörer starb er bei dem genannten Aufstand im Oktober 1944 „(heldenhaft) und im ungleichen Kampf, bei einem Schusswechsel mit SS-Leuten. Einige Augenzeugen benannten ihn als die zentrale Führungsfigur des Aufstands“ (S. 188). Zwei auch dessen literarische Begabung ausweisende Texte Gradowskis in Jiddisch konnten gefunden werden: Zunächst sein Notizbuch mit einem Begleitbrief, danach der Text „Im Herzen der Hölle“ mit Beobachtungen und Gedanken zu dem Geschehen in Auschwitz. In Letzterem finden sich unter anderem folgende Zeilen: „Vor unseren Augen sind bereits Hunderttausende Menschenleben vorübergezogen […]. All diese Menschen wussten, dass sie ans Messer geführt werden, aber keiner von ihnen unternahm auch nur einen Versuch, Widerstand zu leisten, den Kampf aufzunehmen – alle gingen wie die Schafe zur Schlachtbank. Ausnahmen gab es in unserer 16-monatigen Dienstzeit nur zwei“ (S. 300). Lejb Langfuß (um 1910 – 1944), „innerhalb des Sonderkommandos […] zweifelsfrei der frommste Jude“ und gleichfalls „zu den Anführern der Widerstandsbewegung“ zählend (S. 380f.), hinterließ, bevor er der letzten Selektion im Sonderkommando zum Opfer fiel, ebenfalls zwei persönliche Manuskripte in jiddischer Sprache: „Die Vertreibung“, unter allen Texten „der einzige, der die Ereignisse in dem Ausgangsghetto [Maków] behandelt“, sowie die im Original mittlerweile wieder verschollenen „Notizen“, worin „in fragmentarischer Form […] verschiedenste Ereignisse beschrieben (werden), angefangen beim Geschehen vor Ort, im KZ, bis hin zu […] Ereignissen […], die der Autor nur vom Hörensagen kannte“ (S. 383). Diese Schriften sollten nach Langfuß‘ Willen zusammen mit einem weiteren, bislang nicht aufgefundenen Text „Auschwitz“ unter dem übergreifenden Titel „Erschüttert von der Gräueltat“ geschlossen veröffentlicht werden. Auch Salmen Lewenthal (1918 – 1944), „ein im Diesseits verankerter Mensch mit zutiefst linken Ansichten“, hat „Notizen“ in Jiddisch hinterlassen, die mit Beobachtungen im Ghetto von Ciechanów im November 1942 einsetzen und nach dem missglückten Aufstandsversuch in Auschwitz-Birkenau im Oktober 1944, dem er besonders viel Raum gibt, enden. Darin beschreibe er die Ereignisse „nicht bloß als Chronist, sondern reflektiert sie auch in allerlei Kontexten, vom geopolitischen und makrohistorischen bis hin zum psychologischen und rein alltäglichen“ (S. 465). Ein weiterer, kurzer Text Lewenthals kommentiert auf wenigen Seiten das mit diesem gemeinsam aufgefundene, sogenannte „Tagebuch von Lodz“ des Dichters Emanuel Herszberg. Von Herman (Hersz) Strasfogel (1895 – 1944), im März 1943 aus Drancy nach Auschwitz deportiert, ist ein in französischer Sprache verfasster, an seine Frau und seine Tochter gerichteter und mit dem 6. November 1944 datierter Abschiedsbrief auf uns gekommen. Marcel Nadjari (1917 – 1971) wurde Ende 1943 in Athen verhaftet, anschließend in das Lager Chaidari überführt und von dort nach Auschwitz gebracht, wo er am 11. April 1944 eintraf. Er überlebte, indem er nach dem Aufstand seine Identität als Angehöriger des Sonderkommandos verschleiern konnte und so 1945 nach Mauthausen evakuiert wurde. Erst spät – Jahre nach seinem Tod – wurde sein an Freunde und Angehörige gerichteter Abschiedsbrief in Griechisch mit dem Datum 3. November 1944 ausgegraben. Nadjari hat darüber hinaus seine Erinnerungen in einer mit eigenen Zeichnungen versehenen „Chronik 1941-1945“ (abgeschlossen 1947, griechische Erstveröffentlichung posthum 1991) niedergeschrieben. Der abschließende, von Abraham Levite (1917 – 1990; er war nicht Angehöriger des Sonderkommandos und konnte 1945 während der Evakuierung von Auschwitz fliehen) verfasste, ursprünglich jiddische Text „Vorwort zur geplanten Anthologie Auschwitz“ sollte eine authentische Textsammlung einleiten, doch „die Autoren sind ebenso wie die Anthologie ums Leben gekommen, geblieben ist nur das Vorwort“ (S. 542).

 

In ihrer Gesamtheit vermitteln die Texte einen unmittelbaren Einblick in die erschreckende Inhumanität, mit der jüdische Mitmenschen ihrer Rechte, ihrer Freiheit, ihres Besitzes, ihrer Menschenwürde und letztendlich ihres Lebens beraubt wurden. Für Pavel Polian geben diese Schriften „die unmittelbarste Vorstellung und den einprägsamsten Eindruck davon, was in den Gaskammern und Krematorien von Birkenau geschah“, sie seien damit „die zentralen Egodokumente des Holocaust“ (S. 16f.). Sie machen darüber hinaus vor allem wieder einmal klar, was ganz allgemein Menschen anderen Menschen unter bestimmten Rahmenbedingungen anzutun in der Lage sind – eine Erkenntnis, die in Anbetracht eines heute wieder zunehmenden Antisemitismus und allerorten xenophobischer Tendenzen nicht aus dem Blick geraten darf. Neben den deutschen Vernichtern kommen in den Auschwitz-Texten Gradowskis und Lewenthals auch die Polen ausgesprochen schlecht weg. Salmen Gradowski schreibt von dem „polnischen Volk […] in der Mehrheit zoologische Antisemiten mit Leib und Seele. […] Sie freuten sich ja nur, als sie sahen, wie der Teufel, gerade erst in ihr Land einmarschiert, seine Grausamkeit gegen uns richtete. Mit geheucheltem Mitleid im Gesicht, aber mit Freude im Herzen, hörten sie die entsetzlichen herzzerreißenden Mitteilungen über immer neue Opfer […]. Vielleicht freuten sie sich darüber, dass das Piratenvolk gekommen war und für sie die Arbeit erledigte, derer sie selbst noch nicht fähig waren, weil es noch ein Körnchen menschlicher Moral in ihnen gab“ (S. 235). In polnischen Übersetzungen der Texte Gradowskis sei diese Passage, wie andere kompromittierende Stellen, einfach eliminiert worden. Doch auch Pavel Polian, der das drastische Gradowski-Zitat gleich an drei Stellen seines Buches abdruckt (S. 165f., 217f. u. 235), drückt sich nicht zimperlich aus: „Eigenen Landsleuten halfen die Polen bei der Flucht ziemlich gern; russischen Gefangenen schon weniger, aber immerhin halfen sie ihnen. Flüchtige Juden lieferten sie aus. Oder sie raubten sie aus und töteten sie, wenn sie sich einen Nutzen davon versprachen“ (S. 95). An späterer Stelle äußert er sich aber genau im gegenteiligen Sinn: „Wir hätten es heute leicht, Gradowski zu korrigieren, wissen wir doch von Abertausenden rechtschaffenen Polen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden retteten“ (S. 218). Wie soll es denn nun gewesen sein?

 

Ungeachtet des wissenschaftlich-sachlichen Anspruchs der Edition klingt im Ton immer wieder auch die subjektive Betroffenheit des 1952 als Jude in Moskau geborenen Verfassers an, der persönlich in Russland „Antisemitismus im Alltag“ und „vor allem […] an den Übergängen im Leben“ – so beim Zugang zur Universität und bei seiner Arbeitssuche nach dem akademischen Abschluss – erfahren musste (vgl. dazu seine Angaben in Anja Bochtlers Porträt der Woche „Zwischen zwei Welten“ vom 10. 4. 2018, Jüdische Allgemeine, online abgerufen am 21. 12. 2019). In den 1990er-Jahren hat der Geograf, Historiker und Literaturwissenschaftler – als solcher nennt er sich Pavel Nerler – mit den Interessensschwerpunkten jüdische Auswanderung und Deportationen sowie Leben und Wirken Ossip Mandelstams den Lebensmittelpunkt seiner Familie in das deutsche Freiburg verlegt. Von bitterer Ironie zeugen Passagen wie die folgenden: „Der systematische Austausch des Judenhasses als einer privaten Angelegenheit gegen die fachmännische deutsche Staatsjudophobie öffnete alle Schleusen und Ventile für jede Art von künftigen Pogromen (der Sündenerlass war inklusive). Noch bedeutete dieser Ersatz aber keinen Übergang vom Wort zur Tat, vom Herziehen und Bespucken zum Aufregendsten und Reizvollsten überhaupt: zum – Heil Hitler! – straffreien Morden, Vergewaltigen und Rauben“ (S. 374). Das kritische Urteil Hermann Langbeins, betreffend das Verhalten des Sonderkommandos beim Aufstand in Auschwitz, findet folgenden Kommentar: „Die von den Polen sorgfältig vorbereitete Flucht am 27. Oktober 1944 sei gescheitert und habe mit Hinrichtungen geendet. Und deshalb, so der unerwartete Schluss von Langbein, seien die Waffen, die es im Lager gegeben habe […], im Januar 1945 in Auschwitz ungenutzt geblieben. Wie nett es doch ist, die Juden auch noch dafür verantwortlich zu machen…“ (S. 130).

 

Dass die von den ehemaligen Angehörigen des Sonderkommandos Auschwitz-Birkenau verfassten und hinterlassenen Textfragmente der Forschung nun bequem in deutscher Sprache zur Verfügung stehen, ist zu begrüßen. Als seltene unmittelbare Zeitdokumente aus der Perspektive der Opfer verdichten sie die bürokratischen Aufzeichnungen der Täter (wie die Berichte der Einsatzgruppen) zu einer vollständigeren und konkreteren Wahrnehmung der heute als Holocaust bezeichneten Praxis des nationalsozialistischen Programms zur Auslöschung des europäischen Judentums. Die existenzielle Dimension und der apokalyptische Charakter dieser „Briefe aus der Hölle“ erzeugen vor allem menschliche Betroffenheit in der Konfrontation mit dem tagtäglichen Grauen unmittelbar im Zentrum des damaligen Mordgeschehens.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic