Kuppel, Daniel, „Das Echo unserer Taten“.
Ihrem Selbstverständnis als elitäre Speerspitze der nationalsozialistischen Bewegung entsprechend, war die im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess (IMT) zu einer verbrecherischen Organisation erklärte Schutzstaffel (SS) unter anderem Planer und Exekutor der im Holocaust gipfelnden bevölkerungspolitischen Maßnahmen des Regimes. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und verstärkt in den letzten Jahrzehnten hat sich die Geschichtswissenschaft eingehend mit dieser Gliederung der NSDAP befasst und eine Fülle von Studien hervorgebracht. Dabei ging es immer wieder auch um die Frage, inwieweit die ideologische Indoktrination handlungsleitend für die Täter gewesen sei, und wirklich ließ sich bei vielen der für die Tötungsaktionen verantwortlichen Führer eine starke weltanschauliche Prägung durch den Nationalsozialismus nachweisen. Aber welcher Anteil fällt dabei den internen Schulungen der Institution SS zu, lässt sich gar eine unmittelbare Kausalität zwischen diesen Formen der Einflussnahme und der mörderischen Tat nachweisen?
Es sei vorweggenommen: Auch Daniel Kuppel kann diese Frage in seiner bei Michael Wildt an der Humboldt-Universität Berlin erarbeiteten und von Jan Erik Schulte mitbetreuten (beide ausgewiesene Kenner der Geschichte der SS) Dissertation nicht beantworten, zu viele Hindernisse ließen dahingehend tragfähige Aussagen nicht zu. Antisemitismus und Rassismus seien zu jener Zeit allgegenwärtige und keineswegs exklusiv auf die SS beschränkte Themen gewesen, wodurch ein Individuum im Laufe seiner Sozialisation sich solche Einstellungen überall hätte aneignen können. Dazu trete das massive Quellenproblem einer spärlichen, daher nicht signifikanten und zudem von subjektiven Interessen verzerrten Überlieferung von Ego-Dokumenten einiger weniger SS-Täter. Über allem stehe aber das Hauptproblem, dass Handlungen als soziale Praxis aus einer Vielzahl ursächlicher Momente hervorgehen, die über individuelle und kollektive Einstellungen hinausreichen: „Sind Motive also bereits bei der Analyse von Handlungen von Individuen theoretisch schwer rekonstruierbar, so stellen sie insbesondere auf der kollektiven Ebene als durch den Historiker unterstellte gruppenbezogene Mentalitäten eine ‚black-box‘ unbestimmbarer multikausaler Determinanten dar“ (S. 19). Skepsis sei daher auch angebracht, wenn die Täterforschung von „Indoktrination“ spreche, „obwohl eine Wirkung des Unterrichts auf das Denken der Masse an SS-Männern empirisch nicht nachgewiesen werden kann“ (S. 21).
Zur weltanschaulichen Schulung in der SS liegt bereits eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten vor, unter denen Hans-Christian Hartens „Himmlers Lehrer“ (2014) mit ihrer umfassenden Darlegung der Strukturen, des Personals und der Inhalte der SS-Schulung besonders herausragt. Daniel Kuppel geht auf diese Aspekte daher nur knapp und zusammenfassend in seinem ersten Kapitel „Organisieren“ ein. Inspiriert von den Arbeiten des Organisationssoziologen Stefan Kühl, interessiert ihn im Folgenden vor allem die praxeologische Dimension der Schulung. Unter einer solchen Perspektive erfolge das Hervorbringen des Denkens im Handeln, „weshalb Weltanschauung als fluide, wandelbar und weniger statisch, abstrakt und ahistorisch“ begriffen werden müsse, wie sie einst schon die SS-Druckschrift „Uns ist der Kampf“ interpretiert habe, als sie festhielt: „Unser Tun und Lassen bewegt sich nicht zwischen den Staketenzäunen toter Buchstaben. Uns verpflichten auch die ungeschriebenen Gesetze. Unsere Worte sollen nichts anderes sein als das Echo unserer Taten“. Dieser Logik folgend konnte, wie der Verfasser betont, nicht eine doktrinäre Vermittlung theoretischer Ideologeme das vordringliche Ziel der Schulungen sein, sondern vielmehr „die Erziehung zu einer alle Lebensbereiche umfassenden ‚Haltung‘, mit der die SS-Angehörigen den im Alltag von Krieg und Massenmord an sie gestellten Aufgaben gerecht werden konnten“ (S. 4f.) und die den Kern einer SS-Gruppenidentität konstituierte, deren Kenntnis und Akzeptanz eine unabdingbare Voraussetzung für den Aufstieg in der Organisation bildete.
Daniel Kuppel konzentriert sich auf die Bildungsmaßnahmen der Allgemeinen SS und der Waffen-SS; die in ihrer Mentalität stark von dem Inspekteur der Konzentrationslager, Theodor Eicke, beeinflussten SS-Totenkopfverbände werden, wie auch die Schulung der Polizei, in der Studie nicht berücksichtigt. Die Ansprache der SS-Angehörigen erfolgte im Zuge des Erziehungsprozesses sowohl auf der kognitiven Ebene (Kapitel 2: „Lernen“) als auch – Praktiken der Völkischen, der Jugendbewegung und der Reformpädagogik rezipierend – auf einer emotionalen Schiene (Kapitel 3: „Erleben“). Das Lernen sollte keinen Prozess der Vermittlung von Wissensinhalten im Einbahnsystem darstellen, sondern der Diskussion gebührenden Raum geben. Die Schulungsinhalte – die Vermittlung von Selbstbildern, von Zielen des gemeinsamen Kampfes und von Informationen über die definierten Gegner und Feinde – dienten in erster Linie der Formierung einer gemeinsamen Corporate Identity und wurden in Anbetracht der wachsenden Multiethnizität der SS im Zuge des Krieges geschmeidig, aber nicht immer friktionsfrei an die jeweiligen Erfordernisse adaptiert. Letztendlich bedeutete dann „die Internationalisierung der Waffen-SS keinen Bruch mit der SS-Weltanschauung, sondern lediglich eine Anpassung an die Gegebenheiten der jeweiligen Ethnien. […] Die flexible Interpretation der NS-Weltanschauung ermöglichte die Beibehaltung der Ideale der SS-Führung“ (S. 208). Die Möglichkeit zur emotionalen Erfahrung der erwünschten Gemeinschaft eröffnete sich zu allererst im Rahmen von SS-Feiern, die im Jahreslauf Volksbräuche und konfessionelle Feiertage umzuinterpretieren, zu ergänzen oder zu ersetzen trachteten, wobei insgesamt „die SS-Feierpraxis als Antikonzept zur Kirche ‚variabel, veränderlich und unabgeschlossen‘“ geblieben sei (S. 239). Beispielsweise lag „die Bedeutung des SS-Julfests […] nicht im Bereich des Ersatzreligiösen“, vielmehr kam ihm „die Funktion einer identitätsmäßigen Ausdrucksform der selbsternannten SS-Elite“ zu (S. 307). Gemeinschaftsstiftende Wirkung sollten ferner dem Ziel der Kameradschaftspflege zuzuordnende Praktiken, alle mit dem Sippengedanken einhergehenden Rituale sowie spezifische Angebote der Truppenbetreuung entfalten.
Um die Spezifik der SS-Erziehung schärfer zu konturieren, stellt das abschließende Kapitel 4 Vergleiche mit entsprechenden Maßnahmen in der Wehrmacht sowie in der Roten Armee an. Die Wehrmacht habe der SS zwar als „Negativfolie“ gedient, anhand der sie „Teile ihres elitären Selbstbildes, […] eine in die ‚Kampfzeit‘ zurückreichende und ‚rassisch‘ auserlesene Formation zu sein“, generierte. Ein Vergleich zeige aber auch, „dass die Schulung über die postulierten Feinde in der Wehrmacht nicht weniger antisemitisch und rassistisch war als diejenige der Waffen-SS, wo jedoch bereits früher intensivere und reguläre Schulung existierte“. Das Schulungssystem der gegnerischen Roten Armee sei von der SS hingegen als „vorbildlich“ eingestuft worden, vor allem hinsichtlich des Umstandes, dass „die Sowjet- als auch die SS-Führung überzeugt waren, dass nur Soldaten, die von den politischen Ideen durchdrungen waren, die an sie gestellten Aufgaben vollumfänglich erfüllten“ (S. 478f.).
In seiner Bilanz legt der Verfasser Wert auf die Feststellung, dass der von ihm gewählte organisationssoziologische Blickwinkel „keinesfalls eine Entpolitisierung der begangenen Verbrechen“ bedeute. Dieser Ansatz lenke vor allem „den Fokus von empirisch nicht feststellbaren individuellen Tatmotiven von Hunderttausenden von SS-Angehörigen auf die Bedeutung von Weltanschauung als Corporate Identity für die soziale Ebene der SS als Organisation. […] Die historischen Quellen zeigen, dass neben der Herstellung von Zweckidentifikation durch die Übermittlung weltanschaulicher Inhalte durch Schulung und Feiern die Förderung von Kameradschaft, die Unterrichtung über strafrechtliche Konsequenzen bei Regelüberschreitungen sowie der finanzielle Aspekt relevant waren. Letzter basierte auf Fürsorgemaßnahmen sowie karrieristischen Perspektiven, die sich für die Teilnehmer von Schulungsmaßnahmen auftaten" (S. 479f.). Diese Aktivitäten hätten aber eben auch „Rechtfertigungsstrategien hinsichtlich genozidaler Handlungen sowie eine Motivsprache bereit[ge]stellt und dadurch dehumanisierend [ge]wirkt [, …] nicht in erster Linie in der Motivation zur Teilnahme an Gewalt, die effizienter durch Befehle erfolgen kann“, sondern indem sie dazu dienten, „Mordaktionen in die Indifferenzzone zu verschieben, den Männern also zu verdeutlichen, dass solche Aktionen in ihren Aufgabenbereich fielen“ (S. 477).
Daniel Kuppels Arbeit zeichnet sich weniger durch eine originelle Theoriebildung als durch ihre solide Anschaulichkeit, ihren Faktenreichtum, die vorbildliche Berücksichtigung der Forschungsliteratur und ihre zweckmäßigen Illustrationen aus, ein Namensindex erleichtert die Suche im Text. Fachkenner werden dennoch die eine oder andere inhaltliche Lücke orten, beispielsweise die fehlende Berücksichtigung des zentralen SS-Organs „Das Schwarze Korps“ im Kontext der Bemühungen zur Integration der Volksdeutschen (S. 183ff.), für die sich gerade dieses Blatt intensiv engagiert hat. Dass sich im Eifer des Gefechtes trotz aller Aufmerksamkeit Fehler einschleichen, belegt der Begleittext zu Abbildung 13 (S. 250), die eine Vereidigungsfeier der SS-Polizeidivision im serbischen Obrenovac 1943 dokumentiert. Nicht fünf Rekruten, wie fälschlich angegeben, sondern nur vier schwören hier den Fahneneid, jeweils mit der erhobenen Rechten. Die beiden in Frontalansicht abgebildeten Soldaten im Hintergrund sind hingegen anhand ihrer Kragenspiegel und Schulterstücke eindeutig als höhere Dienstgrade zu identifizieren.
Kapfenberg Werner Augustinovic