Biebl, Gregor, Bayerns Justizminister

v. Fäustle und die Reichsjustizgesetze. Ein Beitrag zum deutschen Föderalismus in der Bismarckzeit (= Münchener Universitätsschriften, Juristische Fakultät, Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 90). Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach 2003. XVII, 349 S. Besprochen von Werner Schubert.

Biebl, Gregor, Bayerns Justizminister v. Fäustle und die Reichsjustizgesetze. Ein Beitrag zum deutschen Föderalismus in der Bismarckzeit (= Münchener Universitätsschriften, Juristische Fakultät, Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 90). Aktiv Druck & Verlag GmbH, Ebelsbach 2003. XVII, 349 S.

 

Bekanntlich ist es Bayern gelungen, in § 8 des Einführungsgesetzes zum GVG von 1877 die Beibehaltung der obersten Gerichtsbarkeit für Zivilsachen zu sichern, die seitdem durch das Bayerische Oberste Landesgericht ausgeübt wird. Dies war angesichts des Widerstandes Preußens und des mehrheitlich zentralistisch eingestellten Reichstags alles andere als selbstverständlich. Biebl geht in seinem Werk anhand der archivalischen und veröffentlichten Quellen der Frage nach, welche Ziele Bayern für die Reichsjustizgesetze anstrebte, wie es diese zu verwirklichen suchte und welche Abstriche es bei seinen Vorstellungen machen musste, welche Erfolge es verzeichnen konnte und welche Kompromisse es schließlich eingehen musste. Aus dem erzielten Ergebnis folgte die Fragestellung, „weshalb es den Mittelstaaten, allen voran Bayern, gelang, gerade bei dieser Thematik eigene Interessen gegen Preußen durchzusetzen“ (S. 2). Allerdings geht der Verfasser nicht auf die Haltung Bayerns zu jeder einzelnen Vorschrift des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG), der Civilprozessordnung (CPO) und der Strafprozessordnung (StPO) nach und verweist hierzu auf die vorhandenen Quelleneditionen. Vielmehr beschränkt sich die Untersuchung im wesentlichen auf zwei Komplexe, die das Hauptziel der bayerischen Bestrebungen bildeten, den Erhalt der bayerischen Justizhoheit, „insbesondere manifestiert an der Bewahrung der eigenen Gerichtsorganisation und des Bayerischen Obersten Landesgerichts sowie die Beibehaltung der bayerischen Strafgerichtsverfassung, vor allem in Bezug auf die Schwurgerichte“ (S. 3). Der für die Vertretung bayerischer Interessen in Berlin maßgebende Akteur war der Justizminister v. Fäustle (1817-1887), dessen Biographie Biebl anhand bisher unberücksichtigt gebliebener Quellen S. 6ff. ausführlicher erschließt, als dies bisher möglich war. Seine grundlegende liberale Einstellung konnte Fäustle als Justizminister (ab 1871) gegen den katholisch geprägten Hofstaat und den Landtag, in dem die Patriotenpartei (Zentrum) die Mehrheit hatte, nur mit Hilfe des Ministerpräsidenten v. Lutz sowie des Königs und mit reichsdeutscher Unterstützung durchsetzen. Dies schloss allerdings nicht aus, dass er gleichzeitig beharrlich bayerische Interessen verfolgte, soweit sie liberalen Forderungen nicht zuwider liefen. Eine besondere Rolle spielte Ludwig II., der, obwohl „ohne politischen Sachverstand“ (S. 48), bei seinem überhöhten monarchischen Selbstwertgefühl Fäustle klare Anweisungen zur Erhaltung des obersten Landesgerichts als einen „wichtigen symbolischen Teil der bayerischen Justizhoheit und damit seiner souveränen Rechte als Landesherr“ (S. 324) erteilte. Allerdings gelang es Bayern nicht, die oberste Landesgerichtsbarkeit verfassungsrechtlich abzusichern. Vielmehr beruhte sie nur auf einer mit einfacher Mehrheit abänderbaren Gesetzesbestimmung. Hinzu kam noch, dass dem obersten Landesgericht die strafrechtliche Kompetenz fehlte.

 

Biebl arbeitet S. 39ff. zunächst den politischen Hintergrund heraus, von dem aus die Beteiligung Bayerns an den Reichsjustizgesetzen erfolgte und zu verstehen ist. Der Verfasser geht hier u. a. auf die bayerische Gerichtsverfassung und Prozessgesetzgebung sowie das liberale Ministerium, das Kabinettssekretariat, die liberale Presse, den Landtag und die Stellung Bayerns zum Deutschen Reich der 70er Jahre insbesondere als Mitglied des Bundesrates näher ein. Anschließend werden die vornehmlich preußischen Vorarbeiten zu den Reichsjustizgesetzen bis 1871 beschrieben. Insgesamt stellte Bayern mehr oder weniger im Bundesrat nach Preußen die zweite Macht dar und galt zumindest dem äußeren Anschein nach als „Exponent des Föderalismus“. Jedoch hing sein Einfluss grundsätzlich von einem guten Einvernehmen mit Preußen ab; eine dauerhafte und verlässliche Zusammenarbeit mit den übrigen Mittelstaaten kam kaum zustande (vgl. S. 82f.). – In den Abschnitten „Entstehungsgeschichte der Reichsjustizgesetze ab der Reichsgründung bis zur Vorlage der Entwürfe im Bundesrat 1873“ (S. 101ff.) und „Die Reichsjustizgesetze im Bundesrat und Reichstag 1874-1876“ (S. 185ff.) geht Biebl den Einflüssen Bayerns auf die einzelnen Gesetzgebungsstadien im wesentlichen chronologisch vor. Dabei erwies sich der dauernde Blick auf die gleichzeitigen Vorgänge in Berlin – die Gesetzesvorlagen bis 1876 stammten überwiegend aus Preußen – als notwendig. Unabdingbar für die bayerische Einflussnahme war die rechtzeitige Einbeziehung der Mittelstaaten (Württemberg, Sachsen und Baden) in die Vorarbeiten zu den Reichsjustizgesetzen, was Fäustle und Mittnacht (Württemberg) 1872 für das GVG durchsetzten. Im weiteren Verlauf ging es Bayern darum, den Regelungsumfang des GVG erheblich einzuschränken (Ausschluss der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit; keine Vorschriften über die Gerichtsorganisation im einzelnen). Allerdings konnte es nicht verhindern, dass der Reichstag wieder Vorschriften über das Richteramt in die Vorlage aufnahm. Den bayerischen Belangen trug jedoch teilweise der von Preußen bis zuletzt scharf bekämpfte § 13 GVG Rechnung, wonach die Bestimmungen über das Richteramt in den Staaten, in denen Vorschriften für die richterliche Entscheidung über die Enthebung eines Richters vom Amte oder über die Versetzung eines Richters an eine andere Stelle oder in Ruhestand nicht bestanden, nur gleichzeitig mit der landesgesetzlichen Regelung der Disziplinarverhältnisse der Richter in Wirksamkeit treten sollten. Damit unterlag Bayern nicht dem von ihm sonst befürchteten Zeitdruck.

 

Während der Verhandlungen im Bundesrat gelang es Fäustle 1874, in der GVG-Vorlage die dort vorgesehenen Großen Schöffengerichte durch die – von Preußen bisher scharf abgelehnten – Schwurgerichte zu ersetzen, eine Entscheidung, der sich der preußische Justizminister Leonhardt zu allseitigem Erstaunen anschloss. Umstritten war aber bis zuletzt die Zuständigkeit der Schwurgerichte in Pressestrafsachen, die Preußen erst 1876 als Vorbehalt für die Landesgesetzgebung zugestand. Im Hinblick auf die am französischen Recht orientierte bayerische CPO von 1869 hatte Leonhardt in seinem Ministerialentwurf von 1871 die gemeinrechtliche Verfahrensteilung bereits aufgegeben. Als Sicherung gegen Prozessverschleppungen sollten Landgerichtsurteile nicht mehr der Berufung, sondern nur noch der Revision unterliegen. Bayern wäre dem wohl mit einer Einschränkung (Überprüfung auch der Urkundenauslegung in zweiter Instanz) gefolgt, wenn sich Preußen nicht schon 1871 in den Beratungen der CPO-Kommission des Bundesrates in der Reichsgerichtsfrage so starr und kompromisslos verhalten hätte. Dies nötigte Bayern zu dem Vorschlag, einen Reichsrechtshof neben dem Reichsoberhandelsgericht zu etablieren (S. 146 ff.), einen Ausweg, der von Württemberg und Sachsen nicht dauerhaft unterstützt wurde. Im Justizausschuss des Bundesrates konnte Bayern dann die Bestimmung durchsetzen, wonach es Staaten, welche mehrere Oberlandesgerichte errichteten, gestattet sein sollte, einen obersten Landesgerichtshof beizubehalten für diejenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, welche nicht durch ein Spezialgesetz dem Reichsgericht zugewiesen waren (vgl. S. 193ff.). Am gleichen Tage wurde die Berufung gegen erstinstanzliche Zivilurteile der Landgerichte wieder ermöglicht. Auch das Rechtsmittelsystem der StPO konnte Bayern nachhaltig beeinflussen. Endlich waren die bayerischen Stimmen ausschlaggebend dafür, dass das Reichsgericht nach dem „Gesetz über den Sitz des Reichsgerichts“ vom 11. 4. 1877 nach Leipzig und nicht wie von Preußen gewünscht nach Berlin kam. Hierbei wie auch bei anderen Fragen hatte sich v. Fäustle vorher darüber versichert, dass Bismarck kein gesteigertes Interesse in dieser Beziehung hatte. – Im vorletzten Abschnitt behandelt Biebl die bayerischen Ausführungsgesetze zu den Reichsjustizgesetzen, die im Landtag zu keinen größeren Grundsatzdebatten führten. Einen Hauptstreitpunkt bildete die Zahl der einzurichtenden Landgerichte, welche die liberalen Abgeordneten so gering wie möglich halten wollten. Abschließend fasst Biebl den bayerischen Anteil an den Reichsjustizgesetzen zusammen und stellt dabei besonders die Rolle v. Fäustles als engagierten, umsichtigen und ausdauernden Interessenvertreter Bayerns und die Grundlage seiner Erfolge heraus. Ein Sachregister fehlt leider.

 

Das Werk Biebls stellt eine willkommene und wichtige Ergänzung der bisher vorliegenden Arbeiten und Quellensammlungen zu den Reichsjustizgesetzen dar, in denen die bayerischen Einflüsse auf diese Gesetze nicht detailliert behandelt werden konnten. Allerdings bleibt für den „nicht bayerischen“ Leser die Frage offen, wie die von Fäustle erzielten Erfolge im Hinblick auf die preußischen Vorlagen zu den Reichsjustizgesetzen zu beurteilen sind. Mit seinen Vorschlägen zur Abschaffung der Schwurgerichte und zur Beseitigung der zweiten Tatsacheninstanz für die erstinstanzlichen Zivilurteile der Landgerichte war Leonhardt seiner Zeit weit voraus. Die Schwurgerichte wurden 1924 durch den aus Bayern stammenden Reichsjustizminister Emminger beseitigt, die zweite Tatsacheninstanz in Zivilsachen wurde durch die ZPO-Reform 2002 erheblich eingeschränkt. Die Ersetzung der Schwurgerichte durch Große Schöffengerichte wäre wohl 1875/76 im Reichstag ohnehin gescheitert, auch wenn der Bundesrat an den preußischen Vorschlägen festgehalten hätte. Dagegen wäre die Reform des Rechtsmittelsystems in Zivilsachen durchaus durchsetzbar gewesen bei entsprechender Gestaltung des erstinstanzlichen Verfahrens. Dies hätte auch die bis heute anhaltende starke Überlastung des obersten Gerichts (Reichsgericht) zumindest in engeren Grenzen halten können. Eine solche Reform hätte jedoch ein Zusammenwirken des bayerischen und preußischen Justizministers vorausgesetzt, das bei der wenig flexiblen Haltung Preußens in der Reichsgerichts-Frage ausgeschlossen war, abgesehen davon, dass Fäustle und Leonhardt persönlich kaum miteinander ins Gespräch kamen. Der wohl bis ins Persönliche reichende Gegensatz zwischen Leonhardt und seinen Mitarbeitern auf der einen Seite und Fäustle auf der anderen Seite dürfte eine Verbesserung des zivilprozessualen Rechtsmittelsystems blockiert haben, eine Thematik, welche die Reformdiskussion bis heute erheblich belastet. Ähnliches gilt für die Ausgestaltung des erstinstanzlichen Landgerichtsverfahrens, das zahlreiche Verschleppungsmöglichkeiten bot, die erst durch mehrere ZPO-Novellen (1924, 1933 und 1976) zurückgedrängt werden konnten. Die Bilanz der bayerischen „Erfolge“ bleibt also – mit Ausnahme der Institution des Obersten Landesgerichts – zwiespältig, da Bayern sich nicht zusammen mit Preußen für eine effektivere Reform insbesondere des Rechtsmittelrechts eingesetzt hat. Unbestritten positiv zu bewerten ist dagegen das bayerische Engagement für das endgültige Zustandekommen der Reichsjustizgesetze Ende 1876. Die Untersuchungen Biebls, die sämtliche in Betracht kommenden bayerischen Archivquellen und Parlamentaria auswerten, belegen eindrucksvoll, dass der Beitrag der Bundesstaaten zur Reichsgesetzgebung – allen voran derjenige Bayerns – einen nicht zu unterschätzender Einflussfaktor darstellt, ohne den sich die grundlegenden Gesetze der Kaiserzeit nicht voll erfassen lassen.

 

Kiel                                                                                                               Werner Schubert