Leonhard, Jörn, Der überforderte Frieden.
Das Buch ist pünktlich zum 100. Jahresgedächtnis des Versailler Vertrags erschienen. In einem breiten Ansatz, wie ihn bereits Gerhard Schulz vor 50 Jahren verfolgt hat, bettet der Freiburger Historiker Jörn Leonhard den Vertrag in die Geschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts ein und versucht, dessen Bedeutung für die gesamte Epoche ansatzweise neu zu bewerten. Beginnend mit dem Jahr 1916 schildert er den Weg zum Waffenstillstand, dann sehr detailliert die Friedensverhandlungen und diskutiert anschließend deren Auswirkungen auf die Folgejahre. Im Mittelpunkt steht zwar der Versailler Vertrag, doch da um ihn herum die europäische Geschichte des Zeitraums zwischen 1918 und 1923 mit Ausblicken auf die Entwicklung in der Welt erzählt wird, kommen auch immer wieder die anderen Pariser Vorortverträge (Saint-Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres) in den Blick. Schließlich wird auch der den Abschluss bildenden Vertrag von Lausanne von 1923, in dem jungtürkische Nationalisten eine Revision der Vereinbarungen von Sèvres erreichten, nicht vergessen.
Die Darstellung beruht auf veröffentlichten Quellen und der wichtigsten Forschungsliteratur; die rund 2500 Titel des Literaturverzeichnisses sind nicht annähernd ausgewertet. Dennoch schimmert immer wieder der Anspruch durch, das Viele, das bisher zum Thema geschrieben wurde, abschließend zusammenzufassen. Die Qualität der fast 100 Abbildungen entspricht nicht dem, was man heute erwarten darf; die Karten sind zum Teil so kontrastarm, dass sie unbrauchbar sind.
Es wird routiniert und gekonnt erzählt. Leonhard pflegt einen literarischen, teils anekdotischen Stil. Zahlreiche Charakteristiken von Personen und viele Genrebilder sollen Atmosphäre spiegeln und dem Buch den Charakter der großen Erzählung geben. Es wird auch immer wieder auf Ego-Dokumente zurückgegriffen; das macht die Darstellung lebendig und dem Laien zugänglicher. Doch führt dies in der Sache oft nicht weiter. Form und Ausstattung sprechen dafür, dass sich das Buch an ein breites Publikum wendet. Auf dieses wird aber insofern wenig Rücksicht genommen, als immer wieder die Gefahr besteht, dass es in der Masse der Details wie im Umfang des Werkes untergeht.
Der Autor rechtfertigt die umfangreichen Ausführungen zur Vorgeschichte der Friedensverhandlungen damit, dass der Weg dahin nur aus der Erschöpfung der Kriegsparteien verstehbar sei (für welchen Friedensschluss der Weltgeschichte gilt das nicht?). Dabei werden aber viel zu viele Fakten ausgebreitet, die das Verständnis für Verlauf und Ergebnis der Konferenzen nicht fördern. Sie sind auch insofern überflüssig, als der Autor diesen Zeitraum schon in seiner Geschichte des Ersten Weltkrieges behandelt hat. Eine Reduzierung des Stoffes und eine Verdichtung der Erzählung wünscht man sich nicht nur hier. Schon weitaus überzeugender ist, dass auf die Kriegsfolgen, die die Verhandlungen bestimmt und begleitet haben, näher eingegangen wird.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass an die Friedenskonferenz in allen Ländern viel zu hohe Erwartungen geknüpft worden seien. Denn schon den Zeitgenossen war bewusst, dass nach der großen Katastrophe des Krieges nicht nur Frieden geschlossen werden müsse, sondern eine umfassende Neuordnung zu schaffen sei. Leonhard schildert genau und breit den Gang der Verhandlungen, konzentriert auf die drei entscheidenden Siegermächte, USA, Großbritannien und Frankreich, so wie das vor ihm schon viele getan haben. Das Hin-und-her der jeweiligen Positionen hätte sehr viel öfters im Blick auf die Lösung zusammengefasst werden müssen.
An zentralen Erwartungen waren da zum einen die nationalpolitischen Versprechen der Alliierten an ihre Verbündeten und zum andern Hoffnungen in den Kriegsgesellschaften auf eine grundlegende Neugestaltung der inneren Verhältnisse. Diese nicht zuletzt ausgelöst durch die konkurrierenden Utopien von Woodrow Wilsons demokratischer Welt und Lenins Weltrevolution. Vor allem aber seien die Opfer bei allen Kriegsteilnehmern so hoch gewesen, dass nur deren vollständige Erfüllung diese hätten kompensieren können. Dies war aber selbst für die Siegerstaaten nicht möglich, da sie untereinander zu Kompromissen gelangen mussten. Daher habe bei ihnen das Gefühl vom „verstümmelten Sieg“ und bei den Verlierern das vom „großen Betrug“ Wurzeln geschlagen Dazu sei der Anspruch der Kolonien auf Selbstbestimmung gekommen. Obwohl damit eher die Verbesserungen des Status innerhalb der Kolonialreiche als formale Unabhängigkeit gemeint war, wollten die siegreichen Kolonialmächte ihnen auch diese nicht zugestehen. Sie haben im Gegenteil ihre Kolonialreiche noch weiter ausgedehnt, indem sie den Besitz der Verlierer als „Mandate“ des Völkerbundes übernahmen.
Der schillernde Begriff der Selbstbestimmung, den die alliierten Mächte während des Krieges gegen die Mittelmächte ausgespielt hatten, erwies sich während der Verhandlungen als eine schwere Bürde. Das gilt nicht weniger für die „Vierzehn Punkte“ des amerikanischen Präsidenten, die falsche Hoffnungen weckten und deren Umsetzung nur unzulänglich gelang. Die Frustration der Deutschen war hier deswegen besonders groß, da sie sich zwischen November 1918 und Mai 1919 aus einer Mischung von Vorsatz und Verzweiflung unrealistischen Träumen hingegeben haben, da sie die Niederlage nicht wahrhaben wollten.
Leonhard gibt sich Mühe, Wilson gegen seine idealpolitischen Verehrer und seine realpolitischen Kritiker in Schutz zu nehmen. Seine berühmte Proklamation sei vor allem als Statement gegen die Gewaltdiplomatie des Deutschen Reiches bei den Friedensverhandlungen mit Russland in Brest-Litowsk entstanden, man dürfe ihr nicht „jenen Grad an Eindeutigkeit“ unterstellen, der nach Kriegsende in sie hineingelesen wurde. Diese Verteidigung überzeugt nicht, da die „Vierzehn Punkte“ zwangsläufig Hoffnungen wecken mussten und das auch beabsichtigt war. Gerade weil sie vor allem propagandistisch eingesetzt wurden, mussten die von Leonhard ins Feld geführten diplomatischen Feinheiten und Vorbehalte untergehen.
Der gemeinsame Kampf gegen die Feinde hatte die Interessengegensätze unter den Siegern verdeckt. Während der Verhandlungen brachen diese aber so vehement auf, dass sie allein schon deswegen fürchteten, gleichberechtigte Verhandlungen mit den Verlierern zu führen. Trotz der Siegesfeiern und der inszenierten Einigkeit zwischen den großen Drei bzw. Vier standen deren Handlungsmöglichkeiten in einem erkennbaren Gegensatz zu deren weitgehenden Gestaltungsansprüchen. Zum einen dadurch, dass während der Verhandlungen die Bürgerkriege wie insbesondere die Nationenbildungskriege im Osten Europas und im Vorderen Orient weitergegangen seien, deren Ergebnisse zu revidieren die in Paris verhandelnden Staaten nicht die Macht hatten. Zum anderen standen die Staatsmänner unter einem gewaltigen öffentlichen Druck. Ironischerweise nahm man daher in Paris, wo das Zeitalter der neuen Diplomatie eröffnet werden sollte, bald wieder Zuflucht zu den Mitteln der Geheimdiplomatie. Auch insofern sind die Pariser Friedensverhandlungen ein gutes Beispiel dafür, dass diese im demokratischen Zeitalter keinesfalls vernünftiger, gerechter und solider waren als in den Zeiten des Ancien Régime. Daher, so Leonhard, war es schon ein Erfolg, dass der Friede überhaupt zustande kam.
Auch in anderer Hinsicht schneidet der Versailler Vertrag im Vergleich zu früheren Friedensschlüssen schlecht ab. Der Verfasser stellt heraus, dass die monarchische Kultur der Friedensschlüsse das „wohltätige Vergessen“ kannte. Sieger und Besiegte saßen sich daher am Verhandlungstisch nicht mehr als Feinde gegenüber. Doch genau das war in Versailles der Fall. Die Kriegführung des Gegners sei kriminalisiert und die Verhandlungen zeitweise als moralisches Gericht inszeniert worden. Schuld und Schulden seien gegeneinander aufgerechnet worden. Dadurch sei der Friedensschluss zusätzlich durch Verletzungen als Folge einer solchen Moralisierung belastet worden.
Eine weitere These ist, dass mit den Friedensschlüssen von Paris der Erste Weltkrieg noch nicht zu Ende war. Er habe sich in den in den Kriegen, die mit der Bildung neuer Nationen einhergingen, Bürgerkriegen und Revolutionen fortgesetzt. Leonhard zieht im Jahre 1923 die Grenze. Das ist durchaus einsichtig, da in den Vereinbarungen von Lausanne auch das Osmanische Reich, das inzwischen in die türkische Republik übergegangen war, in die Friedensordnung einbezogen wurde. Obwohl er ein „Gewaltkontinuum“ von den Balkankriegen bis zu diesem Vertrag konstruiert, warnt er vor einer vorschnellen Charakterisierung dieser Epoche als Zwischenkriegszeit. Eine solche Bezeichnung würde die anderen Gründe, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hätten, relativieren. Gegen eine derartige Festlegung der Friedensverträge will er anschreiben, indem er immer wieder die historische Offenheit der Situation hervorhebt. Versailles und die anderen Pariser Vereinbarungen hätten einen eigenen Stellenwert und seien nicht nur Abschnitt der fortdauernden Gewalt in der Welt und insbesondere in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Auch die Sieger nahmen nach dem Friedensschluss Hypotheken mit nach Hause. Die enttäuschten Kolonialvölker wollten nun ihre Unabhängigkeit nicht mehr auf dem Verhandlungsweg, sondern im Kampf suchen. Hier habe die Dekolonisierung begonnen. Da Amerika und Großbritannien Frankreich die vertragliche Absicherung seiner Gewinne verweigerten und aus der Illusion des Sieges heraus habe es zu seinem Schaden auf dem europäischen Kontinent eine hegemoniale Stellung angestrebt, die seine Kräfte überstiegen. Die USA wurden in der Weltwirtschaftskrise Opfer ihrer schon während des Krieges gewonnenen fiskalischen und wirtschaftlichen Dominanz und in Italien trug das Trauma von der „vittoria mutilata“ nicht wenig zum Aufstieg des Faschismus bei.
Die Pariser Verträge setzten die Internationalisierung der Beziehungen zwischen den Staaten seit dem 19. Jahrhundert fort, doch zugleich leisteten sie einem extremen Nationalismus Vorschub. Er erwies sich als eine schwere Belastung in der Zwischenkriegszeit. Denn er trat in der Form von Grenzkonflikten und territorialen Revisionsforderungen, des Ausschlusses von Minderheiten und eines zunehmenden Assimilierungsdrucks im Innern bis hin zu Verfolgung und Mord in Erscheinung. Selbst die klassischen Einwanderungsländer schotteten sich jetzt ab. Daher blieb die Internationalisierung, wie sie am sichtbarsten im Völkerbund institutionalisiert worden war, in Ansätzen stecken und scheiterte seit den dreißiger Jahren vollständig.
Der Völkerbund sei unter anderem auch deswegen gegründet worden, um den in Paris geschlossenen Frieden weiterzuentwickeln und seine Schwächen, die natürlich auch vielen Zeitgenossen nicht verborgen blieben, sukzessive zu heilen. Nicht zuletzt der Rückzug Amerikas hatte dann aber zur Folge, dass die Organisation, trotz einiger Verdienste, zum Instrument wurde, mit dem Frankreich und Großbritanniens ihre Vorherrschaft in Europa und den Erhalt ihrer Kolonien sicherten.
Auf Zustimmung wird das Resümee, das so oder ähnlich auch schon öfters gezogen wurde, stoßen. Auch Leonhard ist der Ansicht, dass die Staatenordnung des 19. Jahrhunderts wie die Grundlagen der bürgerlichen Welt mit den Friedensschlüssen zerbrochen seien. Die Menschen seien verunsichert und enttäuscht zurückgeblieben, die Fortschrittshoffnungen zerplatzt und das Vertrauen in die bisherigen Systeme und Institutionen geschwunden. – Doch waren all diese Folgen zum wenigsten solche des Friedens, vielmehr solche des großen Krieges.
Leonhard liefert eine große zusammenfassende Erzählung der Weltepoche zwischen 1917 und 1923. Sein Blick geht immer wieder sowohl auf die inneren Verhältnisse der Staaten als auch auf die Auswirkungen der Beschlüsse der Konferenz auf einzelne Menschen. Er berücksichtigt Finanzen, Wirtschaft, Kunst und Kultur als Spiegel der Zeit. Dadurch unterscheidet sich sein weitgehend anregendes Buch von vielen vergleichbaren, die sich vorwiegend auf Politik und Diplomatie konzentrieren. Durch den breiten räumlichen und chronologischen Zugriff ergeben sich immer wieder bisher wenig oder kaum gesehene Zusammenhänge.
Das Buch beeindruckt also durch die Vielfalt der Aspekte und die wechselnden Sichtweisen von der hohen Diplomatie bis zum Schicksal Einzelner. Doch auch durch die souveräne Verarbeitung des Stoffes und einer klaren (manchmal zu wissenschaftlichen) Terminologie. Meist finden sich in den jeweiligen Zusammenfassungen weiterführende Einsichten, die in den vorausgehenden, oft konventionellen Darstellungen nicht sichtbar werden. Das alles ist aber mit einer manchmal ermüdenden Breite der Darstellung erkauft. Bei allem Respekt für die Leistung bleibt für den Fachmann am Ende das Gefühl, angesichts des exorbitanten Umfang des Buches so viel Neues auch wiederum nicht erfahren zu haben.
Eichstätt Karsten Ruppert