Hansen, Marike, Erna Scheffler (1893-1983) –

Erste Richterin am Bundesverfassungsgericht und Wegbereiterin einer geschlechtergerechten Gesellschaft (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 111). Mohr Siebeck, Tübingen 2019. X, 209 S. Angezeigt von Gerhard Köbler. ZIER 10 (2020) 82. IT

Erna Scheffler wurde als Erna Friedenthal in Breslau an dem 21. September 1893 geboren. Ihr Urgroßvater war nach den Erkenntnissen der Verfasserin der hebräische Schriftsteller, Grundeigentümer und Kaufmann Marcus Bär Friedenthal, der 1812 nach Breslau gezogen war und dort die wachsende jüdische Gemeinde prägte. Ihre Großeltern Carl Philipp Friedenthal und seine Ehefrau Klementine Dyhrenfurth traten zu dem evangelischen Glauben über und erzogen ihren Sohn Paul Friedenthal, der zunächst seinem älteren Bruder Ernst (1850-1921) nach Nordamerika gefolgt war, evangelisch, so dass er als mit Margarethe Kupfermann verheirateter wohlhabender Eigentümer einer Ölmühle nahe Breslau gut in die örtliche Gesellschaft integriert war.

 

Mit dem Leben und Wirken der in Breslau an dem 21. September 1893 als Erna Friedenthal geborenen, 1905 von dem frühen Tode ihres Vaters sehr getroffenen und unter Vormundschaft ihres Onkels gestellten, nach einem externen Abitur zunächst  in Medizin in Heidelberg, bald aber in Rechtswissenschaft in München, Berlin und Breslau ausgebildeten, bei Paul Heilfron mit einer Dissertation über straftilgende Maßnahmen 1914 promovierten, 1916 mit dem Juristen und späteren Geschäftsträger der Handelskammer Schlesiens Fritz Haßlacher verheirateten, 1922 die erste juristische Staatsprüfung und 1925 das die zweite juristische Staatsprüfung jeweils mit der Note gut ablegenden, inzwischen geschiedenen, von 1925 bis 1928 als Rechtsanwältin, dann kurz als Gerichtsassessorin, 1930 als ständige Hilfsrichterin und 1932 als Amtsgerichtsrätin in Berlin-Mitte wirkenden, an dem 11. November 1933 zu dem 1. März 1933 rückwirkend mit Berufsverbot belegten, an der geplanten zweiten Eheschließung mit dem Kammergerichtsrat Georg Scheffler von Mai 1934 gehinderten, unmittelbar nach Kriegsende an dem 31. Mai 1945 Georg Scheffler heiratenden, Ende Mai 1945 an das Landgericht Berlin zurückkehrenden, mit Unterstützung der SPD und des Landes Nordrhein-Westfalen von dem 7. September 1951 bis zu dem 31. August 1963 als Richterin des Bundesverfassungsgerichts amtierenden, in London an dem 22. Mai 1983 bei ihrer Tochter Lore Fry verstorbenen Erna Scheffler beschäftigt sich die von Rudolf Meyer-Pritzl betreute, bereits während des Studiums fortwährend geförderte, auch ungedruckte Quellen verwertende, in dem Wintersemester 2018/2019 von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel angenommene Dissertation der 1988 geborenen, in Kiel in der Rechtswissenschaft ausgebildeten, seit 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Hermann Kantorowicz-Institut der Universität tätigen Verfasserin. Ihre überzeugende Untersuchung gliedert sich insgesamt in neun Abschnitte. Sie betreffen nach einer kurzen Einführung den Weg Erna Friedenthals bzw. Haßlachers bzw. Schefflers zu einer promovierten Juristin mit Familie und Kindheit, Schulzeit und Studium der Rechtswissenschaft in München, Berlin und Breslau, Berufseinstieg in der Zivilverwaltung des besetzten Belgien, Familiengründung, die Weimarer Republik mit Berufsbeginn als Rechtsanwältin und Richterin, das Berufsverbot während der nationalsozialistisch beherrschten Zeit mit der Entlassung als Richterin, die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, die umstrittene Einführung des Art. 3 II Grundgesetz, die Umsetzung des Gleichberechtigungsgrundsatzes, die erste Frau in roter Robe, den Ruhestand mit dem Engagement in dem deutschen Juristinnenverein und dem deutschen Akademikerinnenbund sowie den letzten Lebensjahren und das Engagement in dem Kontext der Frauenbewegung.

 

In ihrem abgewogen und sorgfältig abgefassten Ergebnis betont die Verfasserin, dass Erna Scheffler die rechtliche Entwicklung der Gleichberechtigung der Geschlechter entscheidend mitgestaltet hat. Als erste Richterin des Bundesverfassungsgerichts konnte sie zwar nicht allein Entscheidungen treffen, sie konnte aber ihren Standpunkt in ihren Senat einbringen und dabei die Rechtsprechung beeinflussen, so dass die Verfasserin sie insgesamt als Wegbereiterin einer modernen, geschlechtergerechten Gesellschaft einstuft. Vielleicht hätte diese bedeutende Frau auch durch ein Bild oder Porträt in Erinnerung gerufen werden können.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler