Schmoeckel, Mathias, Kanonisches Recht.
Nach dem kurzen Vorwort wird mit dem vorliegenden Studienbuch eine Einführung in das historische Recht der Kirche(n) vorgelegt, die in Anschluss an das Leben und den Tod des Religionsstifters Jesus Christus von Palästina ausgehend über das Reich der Römer bis zu der Gegenwart globale Verbreitung gewonnen haben. Damit soll nicht eine Darstellung des für diese Kirche(n) geltenden Rechtes geboten werden. Vielmehr soll das klassische kanonische Recht als eine schwierige juristische Materie, die in den letzten Jahrzehnten oft für diejenigen unnahbar war, die nicht wie ein Geselle durch einen Lehrer als Meister unmittelbar eingeführt wurden, in ihren Textgrundlagen, Problemen und Kontroversen, bestmöglich aufgeschlossen werden.
Dies eröffnet nach Ansicht des Verfassers deswegen besondere Aussichten, weil man die Kanonistik als eine allgemeine Grundlage für die Rechtsentwicklung der europäischen Regionen und Nationen begreifen kann, die frei von allen Partikularismen der nationalen Kulturen seit der frühen Neuzeit besteht. Deswegen gehört sie – eigentlich – zu dem notwendigen Grundwissen aller Juristen. Da das fast schon eingetretene Aussterben dieses Forschungsgegenstands in Deutschland, dessen Forscher hier einmal führend waren, nach Möglichkeit zu verhindern ist, erweist sich eine neuerliche Verbreitung als grundlegende Herausforderung.
In diesem Rahmen bemüht sich der in Flensburg 1963 geborene, ab 1983 in Bonn zunächst in Kunstgeschichte und nach einem Studienwechsel in Rechtswissenschaft ausgebildete, von Peter Landau in München zu dem kanonischen Recht besonders inspirierte, nach den beiden juristischen Staatsprüfungen 1993 bei Hermann Nehlsen mit einer Dissertation über die Großraumtheorie der Völkerrechtswissenschaft in dem Dritten Reich promovierte, 1999 mit der Schrift Humanität und Staatsraison – Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter habilitierte und sogleich nach Bonn berufene Verfasser um eine historische Einordnung der Phänomene von der Entstehung bis zu dem Ausklang der Kanonistik. Dabei hält er auch die Darstellung der in den letzten Jahrzehnten vernachlässigten Inhalte für erforderlich, für die Historiker in dem 20. Jahrhundert wichtige Erkenntnisse geliefert und neue Grundlagen auch für die Texte der Kanonistik geschaffen haben. Die historischen Erkenntnisse führen dabei wiederum verstärkt zu inhaltlichen juristischen Fragen, deren Beantwortung wesentliche neue Kenntnisse zu der Genese des Decretum Gratiani, über die Charakteristika von Schulen oder das Anliegen der Kanonisten vermitteln könnte, so dass dem Inhalt des kanonischen Rechtes besonderes Augenmerk gewidmet werden muss, selbst wenn hier noch allzu viel offen ist.
Die vorangestellte Einleitung beginnt dabei mit einem kurzen Überblick über die Geschichte des kirchlichen Rechtes. Dem folgt eine Darlegung der methodischen Probleme. Anschließend begründet der Verfasser seine Konzentration auf die historische Kanonistik.
Dem folgen drei Hauptteile. Sie sind grundsätzlich chronologisch geordnet. Deswegen behandelt der erste Hauptteil die Entstehung des kanonischen Rechtes, während sich der dritte Hauptteil der Kanonistik in der Neuzeit widmet. Dazwischen werden als zweiter Hauptteil die Inhalte des klassischen kanonischen Rechtes eingefügt.
Der erste Hauptteil enthält acht chronologisch gereihte, von A bis H reichende Abschnitte. Er beginnt mit dem historischen Jesus und dem Prozess Jesu, wobei der Verfasser von der Geburt Jesu in der Zeit 4 v. Chr. oder etwas früher, von dem ersten Auftreten in einem möglichen Alter von dreißig Jahren 28 n. Chr. und innerhalb der Datierung des Todeszeitpunkts auf die Jahre von 27 bis 31 n. Chr. von dem Jahr 30 n. Chr. ausgeht. An die Zeit von dem Prozess Christi bis zur Christenverfolgung oder den Christenverfolgungen schließen sich die spätantike Kirchenorganisation in dem Imperium (Romanum), die christliche Gemeinde als Rechtsraum mit Ausbildung der Hierarchie zwischen niederem Klerus, Bischöfen, römischem Primat und Kaiser sowie der Entfremdung zwischen Westkirche und Ostkirche, Mönchtum, Bußbücher und Eigenkirchenwesen, die karolingische Reform mit Machtzuwachs des Papsttums, die kirchliche Rechtstheorie von dem 9. bis zu dem 11. Jahrhundert einschließlich des Investiturstreits, das Decretum Gratianum eines nicht näher bekannten, bei Chiusi bei Orvieto vor 1100 geborenen und wohl nach 1140 vielleicht als Bischof von Chiusi gestorbenen, tieferer Kenntnisse des römischen Rechtes ermangelnden Klerikers (für das man nach dem Verfasser teilweise in einer – noch – kürzeren Version sogar einen (!) „Urdekret“ entdeckt hat) bzw. die Concordia discordantium canonum und der Höhepunkt päpstlicher Gesetzgebung in dem 13. Jahrhundert samt Behandlung in der Wissenschaft an.
Der zweite Hauptteil über die Inhalte des klassischen kanonischen Rechtes umfasst fünf Abschnitte (von I bis M). Sie beginnen mit der Verfassung der Kirche (iudex) und dem Prozessrecht (iudicium), an die Fragen des kanonischen Finanzrechts und Wirtschaftsrechts (clerus) angeschlossen werden. Danach werden Eherecht und Familienrecht (connubium) sowie Sünden und Strafen (crimen) einschließlich der Beichtsummen, der Privilegien, des Völkerrechts und der Titel de verborum significatione und de regulis iuris erörtert.
In dem Anschluss hieran setzt der Verfasser die chronologische Darlegung mit der Kanonistik in der Neuzeit fort, die in fünf Abschnitte von N bis Q geteilt wird. Dieser dritte Hauptteilwird mit dem Herbst des Mittelalters, an dessen Schluss die Reformation vor der Reformation steht, eingeleitet und umfasst danach die Konzilsbewegung, die protestantische Reformation (Martin Luther, Philipp Melanchthon, Jean Calvin) mit den Änderungen der Rechtsordnung durch die Reformation und die Gegenreformation mit dem Konzil von Trient. Daran schließt sich ein „goldenes Zeitalter“ der Kanonistik (Schule der Universität von Salamanca, Kardinal Pinelli, Paolo Lancelotti, Antonio Agustín, Agostinho Barbosa, Zeger Bernhard van Espen, Anaklet Reiffenstuel, Franz Schmalzgrueber und Louis Thomassin) an, zu dessen gerechter Würdigung und letztlich vielleicht auch Weiterführung nach der Ersetzung des Corpus iuris canonici durch den maßgeblich von Pietro Gasparri erarbeiteten Codex iuris canonici von dem 27. Mai 1917 und die grundlegend neue Rechtsordnung des Codex iuris canonici von dem 25. Januar 1983 unter Papst Johannes Paul II. der Verfasser beitragen möchte.
Auf dieser umfassenden, überzeugend gegliederten und knapp und klar formulierten Grundlage sieht der Verfasser insgesamt fünf Bereiche, in denen das klassische kanonische Recht die gesamten Rechtsvorstellungen bis in die Gegenwart erheblich prägte. Sie betreffen die Herrschaft des Rechtes über Gebiete, Territorien oder Staaten, die planmäßige regelhafte Finanzordnung, das systematische Strafrecht, das zeitgemäße Zivilrecht einschließlich des Wirtschaftsrechts und das gerechte Verfahrensrecht. Möge das beeindruckende Gesamtergebnis des aus der Zusammenarbeit mit Franck Roumy von der Universität Paris II und Orazio Condorelli von der Universität Catania entstandenen, in sechs auf Grund internationaler Tagungen in der Villa Vigoni seit 2009 veröffentlichten Bänden über den Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur vorbereiteten Werkes möglichst viele Leser finden und den Wunsch des Verfassers unterstützen, andere für dieses wunderbare Fach zu interessieren und eine deutsche Beteiligung an diesbezüglichen Diskussionen für die gegenwärtige und auch die nächste Generation sowie vielleicht sogar noch darüber hinaus sicherzustellen.
Abgerundet wird die mit einem Zitat Peter Landaus von 2012 über den 1983 vollzogenen Wechsel des traditionellen kanonischen Rechtes aus der Gegenwart in die Geschichte abgeschlossene Darstellung mit einem einseitigen, nicht vollständigen Personenverzeichnis von Aegidius Romanus bis Zwingli und einem fünfseitigen Sachverzeichnis von Abgaben bis Zweireichelehre. Vertieft werden können die vielfältigen Einzelerkenntnisse an Hand der zahlreichen dem Text beigegebenen Fußnoten. Möge sich jeglicher mit der großen Leistung verknüpfte Wunsch des Verfassers zumindest grundsätzlich erfüllen.
Innsbruck Gerhard Köbler