Griese, Volker, Erich Mühsam Chronik.

BOD, Norderstedt 2019. 479 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen. ZIER 10 (2020) 62. IT

Sich fügen heißt lügen. Erich Mühsam

Aus der deutschen Geschichte des Anarchismus, der egozentrischen Außenseiter von Kunst und Literatur, der Wechselfälle deutscher Politik und singulärer Exzesse der Rechtsgeschichte ist diese groteske, stets ärmlichste, dennoch bis zum exzessiven Altruismus und radikalen Humanismus bewusst zwischen allen Stühlen sitzende Figur nicht wegzudenken. Ewiger Revoluzzer, nonkonformistischer Anarchist, Prediger von Einigkeitsparolen des Klassenkampfs, oszillierend zwischen unvereinbar sich bis aufs Messer bekämpfenden Parteien, in den elitären, sich als Nabel der Welt und Halbwelt dünkenden Grüppchen und literarischen Caféhaus-Stammtischen der angesagtesten ewigen und ephemeren Prominenz zuhause und doch fast immer unbehaust im mehrfachen Sinne des Wortes. Subjekt wie Objekt von Affären, Skandalen, immerwährendes Zwiegespräch und Stadtgespräch forderte er als permanentes Opfer der Zensur die erwartbaren brachialen Zugriffe von Polizei, von Gerichten, der staatlich-gesellschaften Instanzen selbst über jegliche, bürgerliche Grenzen hinweg immer sehr offenherzig und kaum mit Rücksicht auf sich selbst heraus.

 

Wir betreten hier oft wenig ausgetretene, selten bewanderte Zonen einer an einsamere Ränder gedrängten Rechtsgeschichte, Kulturgeschichte, Literaturgeschichte und Geistesgeschichte: Zwischenwelten und Untergründe mit Intimität und Exhibitionismus, Geist und Geld, Männerwelten und Frauenwesen in ihren wechselnden Kombinationen und rührigen Reigen. Sie wird oft bestenfalls verborgen museal oder archivalisch verwaltet, in Teilstücken erforscht und präsentiert und sie zählt nicht zum bewährten Kanon hergebrachter wissenschaftlicher Tradition. Annäherung ist da nicht selten nur durch interdisziplinäre Anstrengungen möglich und fruchtbar.

 

 Im Münchener „Soller-Prozess“ wegen Geheimbündelei ohne irgendeine Substanz, aber bewusst auf die Aggressionen bürgerlicher Öffentlichkeit spekulierend angeklagt und öffentlich diskriminiert, wird Mühsam überraschend freigesprochen. Eine der peinlichsten Niederlagen der bayerischen Justiz vor dem ersten Weltkrieg. Nicht nur mit und in der Gruppe TAT, hier u. a. mit Franz Jung, Otto Gross, Landauer, alle diese mit den intern ewig divergierenden Generationsdifferenzen in München permanent im Konflikt mit dem abgelehnten Staat. Mühsam wird bekennender Pazifist im ersten Weltkrieg, Mitarbeiter anerkannter Zeitschriften, doch am liebsten eigenbrötlerischer Gründer einiger von ihm selbst rastlos gefüllter Blätter, dem großen Karl Kraus vergeblich nacheifernd und stets am Rande eines immer in Sichtweite drohenden Ruins.

 

Wer diese minutiöse stilsichere Tages-Chronik einer einzigartigen Existenz zwischen Kaiserreich und Drittem Reich auch nur schlückchenweise liest, der vermag jenseits historischer Kompendien zu Wilhelm II. und Weimar die schillernden Farben und Formen deutscher Entwicklungen seit der Jahrhundertwende in einer noch grelleren individuellen Perspektive mit all ihren geringen Höhen und abgründigen Tiefen - sogar als „genießerische“ Lektüre - nachzuvollziehen. Wem fallen bei alldem aber nicht auch die ambivalenten Worte Walter Benjamins in der „Einbahnstraße“ ein.

 

Nicht von ungefähr nach dem ersten Weltkrieg eine hochemotionale Randfigur der Revolution wie der insgeheime Einzelgänger Marut, der später weltberühmte Traven wird Mühsam als hochgefährlich fantasierter Protagonist in der Münchener Räterepublik, als Gallionsfigur ohne wirklichen politischen Einfluss mit der Höchststrafe 15 Jahre Festung durch das reaktionäre bajuwarische Standgericht drakonisch verurteilt.

 

Aus den unzähligen bemerkenswerten politischen Kontakten sei nur pars pro toto genannt der Freund Gustav Radbruch, Justizminister in Weimar, als kurzzeitiger Weggenosse der blutjunge Herbert Wehner, der sich vom „Götzendienst“ blitzartig lossagen und zur KPD wenden wird.

 

In der „Internationale der Außenseiter“ gebührt dem aus Lübeck entlaufenen begabten Bürgerssohn und dann immer und ewig unbotmäßigen Bürgerschreck ein ihm Zeit seines unsteten, immer gefährdeten Lebens niemals zuteil gewordener, heute verdienter besonderer Ehrenplatz.

 

Vorgelegt wird zu dem 1934 im Konzentrationslager ermordeten jüdischen Schriftsteller und Dichter, dem unbeugsamen Anarchosozialisten und in uferlose libidinös angemischte Konflikte, in unentwegte Autoren-Händel und in dauerhaftes Aufsehen erregende Prozesse verwickelten, aus dem konservativen Norden in die ewige Schwabinger Bohème verschlagenen Existenz nunmehr endlich eine unentbehrliche biographische Chronik.

 

Die kompetente Auswahl von Dokumenten und Zitaten, von archivalisch belegten Lebenszeugnissen und Werkzeugnissen, mit übersichtlicher sachkundiger Einführung, konzentriert sich nicht nur auf wichtige Schwerpunkte, sondern ist sehr gekonnt konzipiert und vor allem gedacht als exzellentes Nachschlagewerk, selbst für Kenner des Mühsam'schen Werkes künftig ebenso wenig zu entbehren wie die inzwischen abgeschlossene, mehrbändige Ausgabe der Tagebücher durch den Mühsam-Biografen Chris Hirte (Verbrecher-Verlag, Berlin). Wer die Mühen umfänglicherer Biografien, die nicht immer leichte Lektüre der viele Grenzen ironisch-satirisch-lyrisch sprengenden Werke nicht scheut, wird entschädigt durch eingestreute, bekanntere oder kaum bekannte Gedichte, amüsante Aperçus oder absurdeste Anekdoten, wie sie sein Freund Roda Roda zu sammeln pflegte. Insgesamt nach dem bekannten Wort Max Webers eine Fabelwelt aus Zauberweibern voller Anmut, Tücke und Glücksbegier, aber wie nicht selten durchwoben von Tragik und Trauer.

 

Weiterführende Literatur weist Volker Griese, dem wir eine vorzügliche Biografie Gustav Frenssens und gleichermaßen wichtige Publikationen und Editionen auch zu Karl May verdanken, als einen präzisen Kompilator und als selbst in lakonischen Deskriptionen tiefgehenden, für Töne und Zwischentöne sensiblen Verfasser aus.

 

Solche nur scheinbar tabellarischen Kurzbiographien mit Selbstzeugnissen, sorgfältig ermittelten Archivalien aus entlegensten, oft schwer greifbaren Quellen sind für Leser und Forscher auch der Rechtsgeschichte unschätzbar. Mit zuverlässigen Quellenangaben und Namensverzeichnis bieten sie gerade in Zeiten populärer Wikipedien großen, eingehend präsentierten Nutzen.

 

Die Spannweite reicht bei einem so gar nicht exemplarischen Leben von 1878 bis 1934 aus dem kleinem Lübeck hinweg über den etwas größeren „Berg der Wahrheit“ Asconas bis hinein in irrwitzige Strudel von München und Berlin.

 

Ein in der Illegalität operierender illegaler KPD-Funktionär organisiert an dem tristen Ende heimlich die Beisetzung eines unvergessenen, oft allzu gering geschätzten, wegen seiner bizarren Lebensführung vielfach geschmähten frühen Opfers des deutschen Rassismus und Faschismus.

 

Düsseldorf                                                      Albrecht Götz von Olenhusen