Mölders, Marc, Die Korrektur der Gesellschaft.
Investigative Medienarbeit hat in zahlreichen Medien, in der Presse wie in etablierten Sendern, aber auch in sozialen und anderen Medien zunehmend Konjunktur. Die hochgepriesenen oder auch schon kurzerhand totgesagten „democracy's detectives“ der irritierenden Investigation stehen auf dem sozialwissenschaftlichen Prüfstand. Die Bielefelder Habilitationsschrift des Soziologen und Rechtssoziologen Marc Mölders, der im Bereich der Technikfolgenabschätzung arbeitet, gehört zu den selteneren Arbeiten, die sich heute mit Theorie und Empirie dieses Gebiets vertieft befassen. Wenn sich unter Investigativ-Journalismus eine Form organisierter Gesellschaftskorrektur verstehen lässt, dann ist die Frage so naheliegend wie wichtig: Welche Differenzen bestehen zwischen der Korrektur der Gesellschaft im Medium der Interaktion zu solchen im Medium der Publizität?
Die überaus komplexe Studie knüpft ersichtlich an Überlegungen von Niklas Luhmann an. Sie geht aber in einiger Hinsicht auch deutlich darüber hinaus. Dass und auf welche Weise Gesellschaften korrekturbedürftig sind und welche Akteure dies sich zum Ziel gesetzt haben, kann zum Widerspruch herausfordern.
Für Marc Mölders stellt der gegenwärtige, gemeinnützige Investigativ-Journalismus ein einträgliches Untersuchungsfeld dar, um theoretische Basis und empirische Gestaltungen bei der bekannten Trias Kontrolle, Kritik und Initiative differenziert aufzublättern. Damit wird zugleich nicht allein auf die bekannte bloße Watchdog-Funktion abgestellt. Gefragt wird insbesondere nach der Funktion als womöglich systemerhaltendes, stiftungsfinanziertes Non-Profit- Korrektiv der Gesellschaft. Eine der hier luzide verfochtenen Thesen geht dahin, dass zeitdiagnostisch eine „Korrekturgesellschaft“ vielerorts und mit vielen Mitteln und Gegenmitteln klar in Sicht sei und die „Hauptstadt der Weltverbesserung“ im Silicon Valley im dortigen „Weltverbesserungs-unternehmertum“ liege, die Zukunft der „Korrekturgesellschaft“ jedenfalls durch solche optimistische Perspektive gesichert sei. Doch mit welchen Folgen von Disruptionen und Revolutionen?
Irritationsgestaltung durch investigativen Journalismus als eine Sorte „zivilgesellschaftlicher Gegenmacht“ stellt die Luhmann‘sche These von der „Ratlosigkeit“ von Protest und Presse infrage, und sie folgt wohl keineswegs mancher beliebten Annahme, wonach öffentliche Empörung leicht zu haben sei. Dennoch wird wiederum im Anschluss an ein Postulat von Luhmann aufgrund einer empirischen Analyse von Einrichtungen wie ProPublica (USA) und Correctiv (Deutschland) der anzustrebende Wandel als ein primär rechtlicher gesehen: mit der Schaffung neuen und der Ausweitung bisherigen Rechts.
In zehn Kapiteln werden die gesellschaftlichen Korrekturen nach Basis und Auswirkungen theoretisch differenziert, die Auto-Korrekturen der Gesellschaft, die Grenzen der Steuerungen und die Publizität der Korrekturmedien kritisch thematisiert und beleuchtet. Dabei geht es dann konkret um die Organisation von Gesellschaftskorrektur durch bekannte Non-Profit-Organisationen. Der schmalere empirische Teil der Untersuchung gilt - als theoriegeleitete empirische Sozialforschung - dem Material des investigativen Journalismus, besonders durch Befragung von Experten bei Correctiv und ProPublica (Kapitel 8), aber auch der Sichtung umfänglichen sonstigen Materials.
Wir können hier die kritische Betrachtung von Theorie und Praxis von ProPublica nicht intensiver rekapitulieren, aber auf eine Erfolgsgeschichte hinweisen: etwa die Publizierung der Verfehlungen des US-Krankenpflegesystems zusammen mit der Los Angeles Times und die Reform von deren Aufsicht.
Die leitenden Thesen des Werkes laufen darauf hinaus, dass die Verbreitung korrekturbedürftiger Phänomene entgegen Luhmann nicht zur Ratlosigkeit führt, dass Entrüstung durchaus nicht leicht zu erregen sei, dass jedoch auch die untersuchten Korrektiv-Instanzen meinen, dass „nur das Recht helfen kann“.
Die wissenschaftlichen Implikationen von Irritationsgestaltung und Wirkungserzielung werden an prägnanten Beispielen erprobt. Dazu zählen etwa die Probleme des sog. Fracking, derPanama-Papers, von Searise(steigende Meere), um nur einige wenige zu nennen. Eine wesentliche These wird erneut als ein Fazit bekräftigt: „Am Ende hilft nur das Recht, wenn es um nachhaltige Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung gehen soll.“ (S. 193ff.). Luhmann versah seinen Grund-Satz allerdings mit dem bezeichnenden Zu-Satz: „wenn es korruptionsfrei gehandhabt werden kann.“ Und das ist eben eines der entscheidenden Probleme von Rechtssoziologie und Rechtspolitik.
Was an historischen Entwicklungsbeispielen diskutiert wird, könnte die allgemeine These vom Recht als „Reserveengel“, wie ich das polemisch nennen könnte, immerhin mit Fragezeichen versehen. Bei den Pentagon Papers half das Recht weniger als vielmehr die politischen Prämissen und rechtlichen Missgriffe bei der Reaktion der Regierung beim Versuch der Disziplinierung des Whistleblowers. Die öffentliche Erregung über die Watergate-Publikationen hatte andererseits weniger korrektiven Effekt als die justizielle Aufdeckung von politischen Defiziten, die nach einem durch Medienaufklärung nicht erreichten Einfluss auf Wahlergebnisse Nixons mit zeitlicher Verzögerung dann den öffentlichen Druck für den Rücktritt des Präsidenten produzierte.
Die Agenden ähnlicher Unternehmungen des investigativen Journalismus wie die Flut von Panama Papers, Bahama Leaks, Malta Files, Paradiese Papers, Cum-ex-Files, Football Leaks, Black Sites Turkey, Grand Theft Europe und Leaks zu Steuerdaten werden benannt, stehen aber nicht im Fokus. Sie sind nach Mölders in ihren temporal wirkenden Irritationen und im Zusammenhang zu sehen.
Nach Mölders ist Recht die zu beherrschende Sprache für die Korrektur der Gesellschaft. Er referiert dazu die Übereinstimmung der von ihm empirisch untersuchten Organisationen, betrachtet jedoch auch die sehr unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen des international und national wirksamen Informationsfreiheitsrechts.
Die Digitalisierung erscheint in ihrem Doppelcharakter für die Korrektur der Gesellschaft als Herausforderung und als Problem wie als Lösungspotential, aber auch mit den sichtbaren Gefahren der Gesellschaftssteuerung (Stichworte: big nudging, crowd sourcing).
Die lesenswerte Analyse, in Deutschland eine der wenigen, die sich dem Thema so intensiv und ausgreifend widmen, verweist am Ende auf Varianten nicht rechtlich zentrierter Gesellschaftskorrektur: Diese setzt nicht auf Medien als sog. vierte Gewalt oder die Publizität, sondern auf andere politische und gesellschaftliche Interaktion - etwa als so genannte fünfte Gewalt digitaler Kritik- und Kontroll-Optionen in sozialen digitalen Medien. Correcting Society, die Methoden, Folgen und Möglichkeiten einer Korrekturgesellschaft werden jedenfalls in dieser Analyse, die den theoretischen wie empirischen Forschungsstand zu dem Non-Profit-investigativen Journalismus und dessen Potentiale und Aporien stringent aufarbeitet, eindrucksvoll, subtil und für die Rechtssoziologie weiterführend, (auch mit Sachverzeichnis und ausführlichem Quellen- und Literaturverzeichnis) vorgestellt.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen