Rinke, Stefan, Conquistadoren und Azteken.
2021 jährt sich der Fall Tenochtitlans (heute als Mexiko-Stadt die Kapitale des gleichnamigen Staates), der Hauptstadt des machtvollen Reiches der Azteken oder Mexica, wie sie sich selbst bezeichneten, zum 500sten Mal. Bis heute findet sich in zahlreichen Darstellungen jene Meistererzählung, die von dem verwegenen Abenteurer Hernán Cortés berichtet, der mit seiner verschwindend kleinen Schar spanischer Kämpfer gleichsam im Alleingang das aztekische Imperium zu Fall gebracht haben soll. Häufig taucht in diesem Zusammenhang auch der Topos auf, die Conquistadoren seien von ihren Kontrahenten für Götter gehalten worden.
Dass diese Interpretation – wie so viele vermeintliche historische Wahrheiten – nur sehr begrenzt Gültigkeit beanspruchen darf und der Komplexität des Geschehens nur unzureichend gerecht wird, macht nun die vorliegende Darstellung Stefan Rinkes deutlich. Der Professor für die Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin hat zu diesem Zweck die zeitgenössischen und zeitnahen spanischen und indigenen Quellen gesichtet und ausgewertet. Ansatzpunkt der Analyse sei „die Hinterfragung dieser Inszenierungsleistung der Zeitzeugen und späteren Geschichtsschreiber […]. Diejenigen, die an der Schlacht um Tenochtitlan beteiligt waren oder als Augenzeugen davon berichteten, waren auch Erzeuger von Welten. Indem sie das Chaos der Ereignisse in Berichte und Bilder überführten, fügten sie neue höchst unterschiedliche Ganzheiten zusammen. […] Im vorliegenden Buch geht es nicht nur um die eine Welt des Hernán Cortés, die in den meisten bisherigen Studien immer wieder im Mittelpunkt stand, sondern um die Vielfalt der Weltversionen, die über die kriegerischen Ereignisse hinaus miteinander konkurrierten“ (S. 16f.).
Über elf Kapitel folgt Stefan Rinkes Werk dem Lebensweg des aus dem niederen Adel stammenden, wohl 1485 in Medellín in der spanischen Provinz Extremadura geborenen, 1547 nahe Sevilla verstorbenen Hernán Cortés, der wie viele seiner Generation sein Glück in den als Indias bezeichneten Gebieten der Neuen Welt suchte, zunächst in der Karibik (Hispaniola, Kuba), ab 1518 auf der von den Maya besiedelten Halbinsel Yucatán und schließlich auf der aztekisch beherrschten Hochebene von Mexiko. Ausführlich stellt der Verfasser die Lebenswelt der Azteken inklusive ihrer imperialen Expansion dar. „Seit den 1430er-Jahren expandierte das Reich fast kontinuierlich. Auf dem Höhepunkt seiner Macht reichte das Territorium bis zur heutigen Grenze zwischen Mexiko und Guatemala. Mit dem politischen Aufstieg ging die Durchsetzung der eigenen Sprache, des Nahuatl, als Lingua franca einher. Das Ziel der Eroberungen bestand darin, dem Machtanspruch in ganz Mesoamerika Geltung zu verschaffen“ (S. 105). Methodisch folgte die Expansion „einer Sprungbrett-Taktik. Sie nutzten die Ressourcen und Truppen aus den eroberten Städten und zogen so gestärkt zur nächsten Schlacht. […] Diese Vorgehensweise sollten die spanischen Eroberer später erfolgreich kopieren“ (S. 110). So sei die Einnahme der Hauptstadt und mit ihr der Sturz der Aztekenherrschaft in erster Linie der massiven militärischen Unterstützung geschuldet, welche die Spanier durch verbündete indigene Streitkräfte erfuhren, welche die Gelegenheit nützten, sich der verhassten Herrschaft der Mexica zu entledigen. Spanische Quellen hätten diesen entscheidenden Beitrag der Einheimischen systematisch unterschlagen, um den eigenen Ruhm zu mehren. Tatsächlich aber sei zu konstatieren, dass die zwar waffentechnisch besser ausgestatteten Spanier „nur einen Bruchteil – wahrscheinlich nur rund ein Prozent – der Truppe ausmachten“ und damit die Verbündeten den weit überwiegenden Teil des gesamten Blutzolls entrichteten (S. 239). Beim Kampf um Tenochtitlan erzielten auch die aztekischen Verteidiger beachtliche militärische Erfolge, wodurch „die Besiegbarkeit der Europäer […] unter Beweis gestellt (war)“ und mancher Alliierte der Spanier wieder abzufallen drohte (S. 251). Den Ausschlag zu Ungunsten der Mexica sollte aber letztendlich die „katastrophale Versorgungslage“ in ihrer von der Trinkwasserzufuhr und der Lebensmittelversorgung abgeschnittenen Hauptstadt geben. Ziel von Cortés sei es dann gewesen, „die Macht zu konsolidieren und an die Stelle der aztekischen Herrscher zu treten, ja diese in der Schaffung eines einheitlichen Herrschaftsverbandes mit einer einheitlichen Religion sogar noch zu übertreffen“ (S. 261). Nicht zuletzt angetrieben von der Gier nach Gold, fand die Conquista noch bis Mitte des 16. Jahrhunderts ihre Fortsetzung. „Die Herrschaft der spanischen Eroberer legte sich wie zuvor die aztekische über die Eroberten, doch ihre Altepetl [= Stadtstaaten; W. A.] blieben weitgehend autark. Im Lauf der Zeit nahm der Druck aber durch die [vorwiegend durch eingeschleppte Seuchen verursachte] demographische Katastrophe und die verfehlte Politik der Spanier enorm zu. Um 1570 […] (hatte sich) der einst integrierte Wirtschaftsraum Mesoamerikas aufgelöst und es erfolgte ein Rückzug zu lokalen Märkten. Letztlich schadeten sich die neuen Kolonialherren damit selbst, weil sie die schwerwiegenden Folgen ihres Tuns nicht abgesehen hatten“ (S. 324).
Dieses Tun war nicht zuletzt bestimmt von der vorsätzlichen Überschreitung des rechtlich gebotenen Rahmens. Beispielsweise wurden durch die Institution der Encomienda „einem siegreichen Eroberer als Belohnung die Arbeitsdienste und Tribute einer bestimmten Zahl Unterworfener ‚anvertraut‘ (encomendar). Landbesitz war damit ursprünglich ebenso wenig verbunden wie die Gerichtsbarkeit, wenngleich viele Encomenderos sich diese Rechte in der Folgezeit de facto anmaßten. Im Gegenzug waren die Encomenderos für den militärischen Schutz, die Erziehung und Christianisierung der ihnen anvertrauten Indigenen zuständig“ (S. 305f.). Doch schon in der Karibik „behandelten Conquistadoren und Kolonisten, die schnell reich werden wollten, die einheimische Bevölkerung wie Sklaven und nahmen ihr massenhaftes Sterben billigend in Kauf“, sodass Karl V. 1523 Cortés explizit die Vergabe von Encomiendas verbot, der sich aber nicht daran hielt und mit seinem Widerspruch und dem Hinweis auf die Nichtdurchsetzbarkeit direkter Steuern bei der Krone Erfolg hatte. „Als er 1529 das Tal von Oaxaca mit 23000 Vasallen zugesprochen bekam, avancierte er dadurch zum reichsten Mann der Indias und wahrscheinlich der gesamten spanischen Welt“ (S. 308) und sei selbst bei der Ausbeutung „mit schlechtem Beispiel voran“ gegangen. „Die Grenzen zur Sklaverei waren unter dem Regime der Encomienda […] fließend. Grausame körperliche Strafen erließen die Grundherren nach Belieben, zudem vermieteten oder verkauften sie die ihnen anvertrauten indigenen Landarbeiter und das Gemeindeland der Indigenen eigneten sie sich oftmals unrechtmäßig an“ (S. 310). Erweiterte Schutzbestimmungen der Krone in den Leyes Nuevas von 1542/1543 stießen auf den hartnäckigen Widerstand der Encomenderos, der dann in 1560er- Jahren mit dem Vollzug von Todesstrafen und dem Einzug von Besitzungen drakonisch geahndet wurde.
Auch in anderen Zusammenhängen wird vom Verfasser immer wieder auf juristische Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Akteuren und auf Cortés´ besondere Fähigkeit hingewiesen, „juristisch geschickt zu seinen Gunsten zu argumentieren“ (S. 33). Der Begriff Conquistador bezeichnete vor allem „den legitimen Eroberer“, sei es doch den Spaniern wichtig gewesen, dass sie „ein Bellum Iustum, einen ‚gerechten Krieg‘, führten“, wie er sich aus dem Missionsauftrag Papst Alexanders VI. ergeben habe. Offiziell zum Schutz der Indigenen kam obligatorisch das Requerimiento des Kronjuristen Juan López de Palacios Rubios zum Vortrag, eine Aufforderung, sich zum Christentum zu bekehren und der spanischen Krone zu unterwerfen. Wurde dieser keine Folge geleistet, seien Kriegshandlungen gerechtfertigt gewesen. Da die Adressaten aber Sprache und Inhalt des Requerimiento oft gar nicht verstanden, sei dieser Akt tatsächlich eine „Farce“ gewesen, mit deren Hilfe die Conquistadoren ihr eigenes Gewissen beruhigen konnten (S. 65). Im Streit zwischen den alten indigenen Herrschereliten und den neuen spanischen Herren um Einfluss waren aber auch die Indigenen „um die Jahrhundertmitte bereit und in der Lage, auch auf juristischem Weg […] zu kämpfen. Die Kläger und Bittsteller beriefen sich gegenüber der Krone […] auf die Unterwerfung und die Treue Moteuczomas, auf die eigene uralte und daher rechtmäßige Regierungstradition oder aber auf die geleistete Hilfe während des Eroberungskriegs, aus der sich die Legitimität ihrer Anliegen ableite“ (S. 302).
Interne spanische Querelen begleiteten von Anfang an den Weg des Hernán Cortés, der seine Befugnisse zum Nachteil des ihm vorgesetzten Gouverneurs auf Kuba, Diego Velázquez, systematisch ausweitete. Doch auch seine eigene Karriere wurde rechtlich eingehegt: 1528 nach Spanien zurückbeordert, erhielt Cortés „zwar die höchstmöglichen Ehren für seine Verdienste, jedoch nicht die Macht, denn den Gouverneurstitel bekam er nicht mehr zurück“. Eine Audiencia (= oberstes Appellationsgericht) war währenddessen in Neu-Spanien als Exekutive eingesetzt worden, Cortés hatte sich einer Residencia (= Prozess zur Überprüfung eines Beamten am Ende der Amtszeit) zu unterziehen, die in eine 101 Vorhaltungen umfassende Anklageschrift mündete. „Fasst man die Vorwürfe zusammen, so konzentrierten sie sich auf die Veruntreuung königlicher Gelder, die Misshandlung von Indigenen, Nepotismus, Rechtsbeugung, Missachtung königlicher Gesetze, schlechte Verwaltung zu Lasten der Gemeinschaft und Versündigung gegen die Gesetze Gottes. Darüber hinaus strengte die Audiencia […] einen Prozess wegen Mordverdachts an seiner ersten Frau Catalina gegen ihn an“, der, ebenso wie die Residencia, „nie zu einem Abschluss (kam)“, die aber als schwebendes Verfahren im Indienrat geeignet war, „seinen neuerlichen Aufstieg zum Caudillo zu verhindern“ (S. 291f.). Es wird deutlich, dass die Conquistadoren, so eigenmächtig sie auch in den von ihnen eroberten Räumen auftraten, mitnichten in einem rechtsfreien Raum agierten, sondern in ihrem Vorgehen stets eng an gesetzliche Normen gebunden waren, deren Verletzung durchaus Konsequenzen nach sich zog. Persönliche Konkurrenzverhältnisse und rivalisierende Loyalitäten unter den führenden Offizieren erhöhten die Wahrscheinlichkeit, dass Grenzüberschreitungen auch publik und nicht vom Korpsgeist unter den Teppich gekehrt wurden.
So liefert Stefan Rinkes angenehm flüssig zu lesende Darstellung nicht nur neue Perspektiven im Hinblick auf die Auseinandersetzung der Spanier mit dem Aztekenreich, sondern darüber hinaus auch erhellende Einblicke in Hierarchie und Praxis ebenso der indigenen Herrschaftsordnung Mesoamerikas wie der spanischen Kolonialverwaltung im Zeitalter Karls V. Aus Sicht der Genderforschung ist der Hinweis interessant, dass in dieser männlich dominierten Gesellschaft mit Marina (auch: Malinche oder Malintzin) eine indigene Frau in den Quellen erscheint, die im Verlauf der Conquista „eine zentrale Rolle“ eingenommen habe. Ein Geschenk der Maya an Cortés, wurde sie getauft und avancierte zu dessen Konkubine sowie zur Mutter seines 1522 geborenen Sohns Martin. Aufgrund ihrer vielfältigen Sprachkenntnisse war sie für die Spanier als Übersetzerin unverzichtbar und zugleich für die indigene Bevölkerung das verehrte „Medium von Cortés, das für ihn die Worte aussprach, so wie sich auch der Tlatoani [= Herrscher] Moteuczoma auszudrücken pflegte“, womit ihr letztendlich „nicht nur eine hohe praktische, sondern auch eine symbolische Relevanz zu(kam)“ (S. 75f.). Bildquellen zeigen sie immer wieder an der Seite von Cortés (vgl. Abb. 5, 6, 8, 10, 12). Während das Kartenmaterial des Bandes recht übersichtlich gestaltet ist und eine gute Orientierung bietet, erfordern die bisweilen etwas klein geratenen Schwarzweiß-Abbildungen oft ein längeres Verweilen des Auges, um die Inhalte auch im Detail erfassen zu können. Nützlich ist das schmale Glossar im Anhang, das insgesamt 36 für die Ereignisse relevante Begriffe aus dem Spanischen und dem Nahuatl übersetzt.
Kapfenberg Werner Augustinovic