Vercamer, Grischa, Hochmittelalterliche Herrschaftspraxis im Spiegel der Geschichtsschreibung –
Über die Verwandtschaft und vielleicht die Horde hinaus hat der Mensch Herrschaft von dem Zeitpunkt an gebildet, in dem er zahlenmäßig mehr und mehr zunahm und dadurch von selbst in größere Gruppierungen hineinwuchs, ohne dass sich dies nachträglich genau verfolgen und nachweisen lässt. Jedenfalls dürfte es seit den Hochkulturen des Altertums Herrschaft und Herrschaftspraxis in ausgeprägter Art und Weise gegeben haben. Das Mittelalter hat dies vor allem in Europa in abgewandelter Weise fortgeführt und die Herrschaftspraxis in seinen Überlieferungen für sich und die Nachwelt abgebildet.
Mit einem Teilaspekt dieses Gegenstands beschäftigt sich die vorliegende Habilitationsschrift des 1974 geborenen, seit 1995 in Geschichte, deutscher Literatur, Archäologie, Philosophie und politischer Wissenschaft an der Technischen Universität Berlin, der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Edinburgh breit ausgebildeten, 2003 an der Technischen Universität Berlin in mittelalterlicher Geschichte, älterer deutscher Literaturwissenschaft und zentraleuropäischer Archäologie zu einem Magister Artium graduierten, 2007 an der Freien Universität Berlin mit einer Dissertation über Siedlungs-, Verwaltungs- und Sozialgeschichte der Komturei Königsberg im Deutschordensland (13-16. Jahrhundert) magna cum laude promovierten, dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem Forschungsbereich Piastische Herrschaft im europäischen Kontext an dem Deutschen Historischen Institut Warschau tätigen, 2015/2016 in Frankfurt an der Oder habilitierten und seitdem als wissenschaftlicher Projektleiter an dem historischen Institut der polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau in dem Rahmen eines Projekts der Europäischen Union und in Vertretungen in Passau und Chemnitz tätigen Verfassers. Sein in bewusstem Aufgreifen einer neuen Thematik und einleuchtendem Verzicht auf and grow old in think big bearbeitetes Werk gliedert er nach Einleitung und Quellenauswahl in drei Sachkapitel. Sie betreffen die Voraussetzungen und Strukturen von Herrschaftspraxis, die Tätigkeitsfelder des Herrschers (Richter, Verwalter, Politiker, Gesetzgeber, Repräsentant, Krieger, Christ, Charakter) und die Vorstellungen von guter und schlechter Herrschaftspraxis in dem Verhältnis zu den narrativen Schreibstrategien in den drei einleuchtend ausgewählten territorialen Bereichen.
An dem Ende fasst er seine vielfältigen Einzelergebnisse aus Wilhelm von Malmesbury, Roger von Howden, Gallus Anonymus, Vincent Kadłubek, Otto von Freising/Rahewin und der Historia Welform anschaulich zusammen und zieht ein methodisches Fazit. Dabei kann er überzeugend und auch mit Hilfe farbiger Graphiken zeigen, dass die Funktionen der Quellen unterschiedlich sein können und dadurch verschiedene Vorstellungen von Herrschaft transportiert werden. Ein umfangreicher Anhang (S. 355ff.), ein Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 707ff. und ein Personen- und Ortsregister von Aachen bis Zypern runden die interessante und aufschlussreiche Arbeit benutzerfreundlich ab.
Innsbruck Gerhard Köbler