Schulze, Dietmar, „Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord“ –
Nach Arbeiten zu Anstaltstötungen, etwa in Berlin-Buch, Bernburg, Großschweidnitz und Neuruppin, widmet sich der Leipziger Autor den schwäbischen Krankenanstalten in Kaufbeuren mit der Nebenstelle in Irsee. Im Juli 1949 wurde der ehemalige Leiter Valentin Faltlhauser mit vier ehemaligen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in vier Punkten in einem Strafverfahren angeklagt: 1. Verschleppung von Kranken in Vernichtungsanstalten, genannt wird Grafeneck in Württemberg, 2. Vorsätzliche Tötung von Kranken durch Verabreichung unzulänglicher Kost, genannt E-Kost, 3. Vorsätzliche Tötung von Kindern im Rahmen der „Euthanasie“ und 4. Tötung von Erwachsenen. An diesen Taten Faltlhausers waren die Mitangeklagten unterschiedlich beteiligt, wie es die Anklageschrift darlegte. Nach einem kurz gehaltenen Überblick über die Organisation der Anstaltsmassentötungen beschreibt der Autor die gerichtliche Voruntersuchung, die Anklageschrift und die Anklagevertretung. Hierbei schildert der Autor biographische Details zu den handelnden Personen. Als Untersuchungsrichter war der damalige Amtsgerichtsrat Ludwig Martin tätig, der später ein hochangesehener Generalbundesanwalt war. In gleicher Weise widmet sich der Verfasser den Angeklagten und ihren Verteidigern. Bei allen genannten Personen sucht er ihre Verbindung zur NSDAP und den ihr zugewandten Organisationen darzustellen. Wie für die Jahre um 1948 nichts anders zu erwarten, war bei fast allen Beteiligten eine Verknüpfung in unterschiedlich enger Weise zu finden. Aus einer Rückschau nach 70 Jahren ist dies als skandalös zu werten, doch betrachtet man die Umstände der Jahre von 1937 bis 1945, wäre eine Modifizierung zu erwarten gewesen. Wer wusste vor Mitte 1944 wann das System ein Ende findet? Wer konnte nach 1935 eine juristische oder ärztliche Tätigkeit ausüben, ohne Zugeständnisse an den Zeitungeist zu machen? Der Schilderung der Zeugen ist ein Exkurs beigefügt, der sich mit der Frage befasste, ob 1940 ein Gesetz erlassen werden sollte, das Sterbehilfe im Deutschen Reich gesetzlich regeln sollte. Diese Überlegungen führten zwar zu einem Gesetzentwurf, der jedoch bislang nicht aufgefunden wurde, jedoch soll Hitler eine Veröffentlichung während des Krieges abgelehnt haben. Da Kaufbeuren im Bezirk des Landgerichts Kempten lag, wurden am dortigen Landgericht Richter für das anstehende Verfahren gesucht. Lediglich zwei Richter waren nicht mit einer NSDAP-Vergangenheit belastet. Wegen des angegriffenen Gesundheitszustandes von V. Faltlhauser verzögerte sich ein Beginn der Verhandlung. Hinzu kam die bayerische ‚Verordnung über die Wiedereinführung der Schwurgerichte‘ vom 14. 7. 1948, nach der ab 1 .4. 1949 ein Verfahren in dieser Sache zur Zuständigkeit des Schwurgerichts gehörte. Für die Landgerichtsbezirke Augsburg, Kempten und Memmingen wurde im Dezember 1948 ein gemeinsames Schwurgericht am Landgericht Augsburg gebildet. Vorsitzender des Schwurgerichts wurde Landgerichtsdirektor Werner Oppel, Beisitzer bei der Verhandlung (S. 110) wurden ein Amtsgerichtsrat und der 1905 in Lambrecht/Pfalz geborene Landgerichtsrat Hans Güllich, der seit 1933 als Richter wirkte und später von Augsburg an das Landgericht München I wechselte. Den beruflichen Werdegang Oppels und des Amtsgerichtsrats beschreibt der Autor. Soweit für W. Oppel ein Aufenthalt in einem Zwangsarbeitslager bei Wommen/Werra und seine Befreiung am 17. 4. 1945 (S.112, 165) erwähnt werden, erscheint diese Angabe überprüfungsbedürftig. Amerikanische Truppen haben am 1. 4. 1945 an der nicht fertiggestellten Autobahn Hersfeld – Eisenach bei Herleshausen und Wommen Barackenlager erreicht und befreit. Sie gehörten zum Bereich des Kriegsgefangenenlagers Stalag IX B und dienten auch als Lazarette. Ob Oppel in einem dieser Lager war? Zeitgeschichtlich interessant sind die Fragenliste des Vorsitzenden für die Geschworenen und der ‚Wahrspruch‘ der Geschworenen (S. 122f., 227-235). Da das Geschworenengericht mit der Herstellung der Rechtseinheit im Bundesgebiet nach Inkrafttreten des Grundgesetzes zum 30. 9. 1950 abgeschafft wurde, konnten nur wenige Erfahrungen mit diesem Rechtsinstitut gemacht werden. Gerade bei nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wurden mit den Entscheidungen der Geschworenen Erfahrungen gesammelt, die nicht für dieses Modell einer Beteiligung von Nichtjuristen an der Rechtsprechung warben. Andererseits haben auch zahlreiche Juristen mit ihren Entscheidungen bei derartigen Fällen nicht besser entschieden. Die Chronologie der 19 Verhandlungstage (S. 132-142) zeigt, wie gerafft die Verhandlung trotz der Erkrankung Faltlhausers geführt wurde. Der Autor bezeichnet den Zeugen Robert M. W. Kempner, der am 22. 7. seine Aussage machte, als „amerikanischen Hauptankläger im Nürnberger Ärzteprozess“ (S. 140), doch gibt er dafür keine Quelle an; dies ist nicht verwunderlich, denn die Bezeichnung ist falsch. Für den Ärzteprozess war General Telford Taylor zuständig, er gab dementsprechend auch die Eröffnungserklärung der Anklage in dem Prozess ab. Danach war in der weiteren Verhandlung als Ankläger James McHaney (1919-1995) tätig, der in späteren Jahren ein erfolgreicher Rechtsanwalt war. Kempner mag dank seiner Sprach- und Rechtskenntnisse an Vorermittlungen zum Ärzteprozess beteiligt gewesen sein, doch bei dem Verfahren spielte er keine Rolle mehr. Am 27. 7. stellte der sachverständige Zeuge Werner Leibbrand aus Erlangen mit einer Irseer Ärztin Patienten vor und erläuterte die verschiedenen Krankheitsbilder. Im Anschluss daran erstattete Leibbrand als Sachverständiger ein Gutachten. Leider ist dem Text nicht zu entnehmen, worüber Leibbrand zu diesem Zeitpunkt referierte. Der Verfasser gibt auch zu Leibbrand keine nähere Erläuterung, obwohl sich dies bei diesem Psychiater und Medizinhistoriker aufgedrängt hätte. Leibbrand war im Nürnberger Ärzteprozess der einzige deutsche Gutachter, der in diesem Prozess Ausführungen machte. Von ihm wurde danach erhofft, dass er, anders als seine zahlreichen medizinischen Kollegen, die in das System der Massentötungen verwickelt waren, zu den zahlreichen Fragen der Ethik Stellung nimmt, welche sich aus den Massentötungen durch Ärzte ergaben. Viele erhofften sich von ihm Wegweisungen zur ‚Realisierung der Menschenrechte im Gesundheitswesen‘ wie heute die Fragen bezeichnet werden. Seit dem 10. 11. 1948 wurde in einem Ermittlungsverfahren gegen zwei Ärzte der Erlanger Klinik Leibbrands ihre Beteiligung in der Mangelernährung in Erlangen zu klären versucht. Leibbrand unterstützte die beiden Ärzte in einem Umfange, der bei der Staatsanwaltschaft den Verdacht eines Versuches der Anstiftung zur Falschaussage hervorrief und zu einem Haftbefehl gegen Leibbrand führte. Ihn in diesem Zusammenhange als Sachverständigen in Augsburg anzuhören konnte nur möglich sein, wenn man sich nicht näher informierte. Hierüber hätte der Autor informieren sollen, die Einzelheiten waren seit 2014 in einem Fachjournal veröffentlicht. Der Urteilsabdruck (S. 222-225) enthält lediglich die Straftatbestände und die Strafhöhe sowie die Nebenentscheidungen. Das Urteil war bereits 1970 in der Sammlung „Justiz und NS-Verbrechen“, Band V, Nr. 162, S. 175-188, abgedruckt worden. Schon vor 50 Jahren waren der Üblichkeit dieser Edition folgend Personennamen Freigesprochener nicht genannt worden. Zu bedauern ist, dass die vorliegende Arbeit nunmehr durchgängig den Namen des freigesprochenen Verwaltungsinspektors nennt und ihn und seine Angehörigen erneut an die Öffentlichkeit zerrt. Ein zeitgemäßes Verständnis des Persönlichkeitsschutzes hätte diese Zurschaustellung vermeiden sollen. Wenn es schon nicht vom Autor beachtet wurde, hätte das herausgebende Bildungswerk Irsee diesen Schutz gewährleisten sollen. In seinem Resümee ‚Versuch einer Einordnung des Augsburger „Euthanasie“– Prozesses‘ (S. 147-150) stellt der Autor einen Vergleich zu den Strafverfahren an, die zu dieser Zeit in Hamburg und Tübingen geführt worden waren. Leider bezieht er nicht das Urteil des Landgerichts Freiburg vom November 1948 in seine Überlegungen ein. Dort waren zwei höhere Medizinalbeamte wegen ihrer Mitwirkung an den Massentötungen zu Zuchthausstrafen von 11 und 12 Jahren verurteilt worden. Dies Beispiel zeigt, wie breit gefächert die Möglichkeiten waren, auf die im Kern ähnlichen Straftaten zu reagieren. Diese Gedanken setzt Walter Bruchhausen in seinem Epilog (S. 183-198) fort, der aus Erfahrungen mit der Vermittlung der ethischen Fragen im Verhältnis von Medizin und Gesellschaft berichtet. Bezogen auf die Verbrechen, die in Augsburg verhandelt wurden, behandelt er die ‚Normalisierung des Tötens‘, das ‚ökonomische Interesse‘, die ‚biologische Norm‘ und den „Gnadentod“ als (Er-)Lösung. Er sieht letztendlich die Beschäftigung mit den Schicksalen der Opfer als eine der förderbaren Quellen moralischen Widerstandes gegen dehumanisierende Entwicklungen.
Neu-Ulm Ulrich-Dieter Oppitz