Falk, Georg D./Stump, Ulrich/Hartleib, Rudolf H./Schlitz, Klaus/Braun, Jens-Daniel, Willige Vollstrecker oder standhafte Richter?

Die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in Zivilsachen von 1933 bis 1945 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 90). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2020. XI, 1123 S. Angezeigt von Gerhard Köbler. ZIER 10 (2020) 77. IT

Nach dem Geleitwort des Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und Präsidenten des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen kann es heute mehr als 75 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft an dem Versagen der deutschen Justiz in der Zeit des Nationalsozialismus keine Zweifel mehr geben. Nach zahlreichen Untersuchungen und Veröffentlichungen ist nämlich bekannt, dass sich die meisten Richter in den Dienst des nationalsozialistischen Systems gestellt, Unrechtsgesetze der Nationalsozialisten ohne erkennbare Skrupel umgesetzt, Spielräume des Rechtes als Einfallstore für die nationalsozialistische Ideologie genutzt und anerkannte Grundsätze des Rechtes sowie seiner Auslegung missachtet haben, wobei die Nationalsozialisten die Justiz gezielt als verlängerten Arm zur Stabilisierung ihrer Herrschaft und Unterstützung ihres Strebens nach grenzenloser Macht setzten. Zur Wahrheit gehört dabei auch, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Auseinandersetzung mit dem Versagen von Verantwortungsträgern in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland infolge der Schlussstrichmentalität in Politik und Gesellschaft und einer mit Tätern viel zu nachsichtig umgehenden Rechtsprechung verschleppt wurden.

 

In Gegensatz hierzu hat 2015 Arthur von Gruenewaldt 2015 eine Dissertation über die Richterschaft des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in der Zeit des Nationalsozialismus veröffentlicht. 2017 hat Georg D. Falk eine Untersuchung über Entnazifizierung und Kontinuität in dem Rahmen des Wiederaufbaus der hessischen Justiz an dem Beispiel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vorgelegt. Mit dem vorliegenden umfangreichen Werk, das 2703 von mindestens 4597 Entscheidungen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main zusammentragen und einordnen kann, wird auf dieser Grundlage erstmals eine systematische Untersuchung zur Zivilrechtsprechung des Gerichts geboten und von erfahrenen ehemaligen Richtern eine Forschungslücke geschlossen.

Gegliedert ist das Werk in insgesamt dreiundzwanzig Kapitel. Sie betreffen die Zivilrechtsprechung als Untersuchungsgegenstand, die Erschließung der Entscheidungen des Oberlandesgerichts in Zivilsachen, die Vorauswahl des Untersuchungsmaterials, die Anwendung des Zivilprozessrechts, die Eröffnung des Rechtswegs zu den Zivilgerichten, die Amtshaftung, die Grundstücksenteignung, das Presserecht und Äußerungsrecht, das Eherecht, das Kindschaftsrecht, das Unterhaltsrecht, das Erbrecht, das Gesellschaftsrecht, das gewerbliche Mietrecht und Pachtrecht, sonstige Vertragsverhältnisse, das Wettbewerbsrecht, den dinglichen Arrest, das Zwangsvollstreckungsrecht, das Tätigbleiben  bis März 1945, die Behandlung von in dem nationalsozialistischen Staat diskriminierten Prozessparteien, die Ergebnisse und schließlich kurze Biographien der an den behandelten Entscheidungen des Gerichts in Zivilsachen von 1933 bis 1945 mitwirkenden 44 Richter. Dies waren die Richter Aßmann, Bartenwerffer. Becker, Dr. Berndt. Dr. Beuß, Dr. Bornemann, Daltrop, Eldracher, Eller, Dr. Führ, Dr. Götz, Graef, Dr. Heldmann, Dr. Hilfrich, Kauffmann, Dr. Klee, Dr. Krüger, Dr. Lang, Dr. Lange, Dr. Majer, Dr. Mayer, Meiners, Dr. Menzel, Moehrs, Dr. Niemann, Dr. Ophüls, Dr. Petermann, Dr. Quint, Dr. Rehborn, Sauer, Schellenberg, Schramm, Dr. Sommer, Spankus, Todsen, Prof. Dr. Ungewitter, Vollrath, Dr. Wagner, Weigert, Wessig, Wildberger, Dr. Wilhelmi, Dr. Wimmer und Dr. Zybell.

 

Dabei ergab sich, dass der Zivilprozess während der Untersuchungszeit keine „Insel der Reinheit“ war. Es gab auch für den einzelnen Richter keine Möglichkeit, sich in „systemfreie Räume“ zurückzuziehen. Die Rechtsfindung war vielmehr den Bedingungen juristischen Arbeitens in dem nationalsozialistischen Staat ausgesetzt und – weit mehr als die Autoren erwartet hatten - durchaus von berufsrollenspezifischer Normalität geprägt, jedenfalls dann, wenn man die in den Tatsachenvortrag der Parteien hineindrängende gesellschaftliche Wirklichkeit außerhalb des Gerichtssaals ausblendete oder diese Umstände bei der jeweils konkreten Fallgestaltung keine Bedeutung hatten.

 

Deswegen wurden schließlich nur 245 Urteile und 25 Beschlüsse für die Beantwortung der grundlegenden Fragestellung analysiert. Dabei ergaben sich mehr als 200 unauffällig- neutrale Entscheidungen, die meist handwerklich und in dem Ergebnis korrekt, vereinzelt auch evident falsch waren. Von den übrigen Entscheidungen waren etwa gleich viele Unrechtsurteile und mutige Urteile.

 

An diesen als mutig gewürdigten oder als Unrecht gebrandmarkten Entscheidungen wirkten mindestens 26 Richter mit. Nahezu alle von ihnen waren an Entscheidungen in beiden Kategorien beteiligt. Eine einfache Einordnung als willige Vollstrecker oder standhafte Richter ist deshalb kaum möglich., weil die Wirklichkeit des richterlichen Berufsalltags des nationalsozialistischen Staates dafür zu kompliziert war.

 

Insgesamt überwog unter den näher analysierten Entscheidungen aus nahezu allen Rechtsbereichen die Zahl der von traditionellem bürgerlichem Rechtsverständnis geprägten Lösungen deutlich. Das Festhalten der Richter an Privatautonomie und Vertragstreue konnte aber wegen der wirkmächtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen keine wirkliche Konfliktlösung bewirken. Damit gelangt das Werk insgesamt zu einem zwiespältigen Gesamtergebnis, das allerdings an der grundsätzlichen Stabilisierung der Herrschaft des Nationalsozialismus auch durch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zwischen 1933 und 1945 nichts zu ändern vermag.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler