Keudell, Robert von, Fürst und Fürstin Bismarck.
150 Jahre deutscher Nationalstaat lassen als Jubiläum den unbestrittenen Gründervater und langjährigen maßgeblichen und kraftvollen Gestalter der Politik des Kaiserreichs der Hohenzollern, Otto von Bismarck, verstärkt in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Nicht zuletzt die streitbare Diskussion um den Einfluss seiner Weichenstellungen auf den weiteren, nicht immer glücklichen Gang der deutschen Geschichte hat dafür gesorgt, dass der Eiserne Kanzler nie wirklich aus dem Fokus der Geschichtswissenschaft geraten ist. Otto von Bismarck selbst hat ein großes Korpus an Schriften hinterlassen, um deren kritische Edition die Otto von Bismarck-Stiftung mit ihrer Neuen Friedrichsruher Ausgabe bedeutende Meriten erworben hat und erwirbt. Neben dem dort präsentierten Selbstbild des Kanzlers interessieren jedoch auch zeitgenössische Aufzeichnungen, die von diversen Mitarbeitern und Wegbegleitern verfasst worden sind und – wenngleich zumeist von respektvoller Verehrung getränkt – das Wirken des Fürsten dennoch in einer mehr oder weniger kritischen Fremdwahrnehmung festhalten. Nun hat sich die Wissenschaftliche Buchgesellschaft dazu entschlossen, zwei zentrale Memoirenwerke unter dem Motto „Begegnungen mit Bismarck“ im Doppelpack neu aufzulegen: die hier zu besprechenden Erinnerungen des Robert von Keudell aus den Jahren 1846 bis 1872 sowie das Werk des Staatsministers Robert Lucius von Ballhausen, das Bismarcks Jahre als Kanzler des von ihm aus der Taufe gehobenen Kaiserreichs von 1871 bis 1890 behandelt.
In seiner Einführung „Phantom im Scheinwerferlicht“ charakterisiert der in Cambridge tätige Historiker und Bismarck-Kenner Oliver F. R. Haardt den Karriereweg Robert von Keudells (1824 – 1903) und die Eigenheiten von dessen Beobachtungen, die er im wirtschaftlichen Sog der posthumen Veröffentlichung von Bismarcks autobiographischen Notizen 1901 publiziert hat. Der aus hessischem Adel stammende Keudell hatte in Heidelberg und Berlin eine rechtswissenschaftliche Ausbildung absolviert und war dann in den preußischen Verwaltungsdienst eingetreten. Als ausgezeichneter Pianist begegnete er 1846 im Haus Johanna von Puttkamers, Bismarcks künftiger Gattin, auch dem späteren Reichskanzler, es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. Von Bismarck protegiert, gelangte Keudell zunächst in prestigeträchtige Positionen; unter anderem war er Bismarcks persönlicher Sekretär, Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus und im gesamtdeutschen Reichstag, Gesandter in Konstantinopel und Botschafter am Quirinal in Rom. Sein Karriereweg stehe allerdings „beispielhaft für das die Reichsgründung prägende Patronagesystem der preußischen Monarchie und die danach stattfindende Professionalisierung des Staatsbetriebes im Kaiserreich. Konnte der mäßige Jurist trotz seiner fehlenden Erfahrung in politischen Fragen in den 1860er Jahren noch einfach auf Wink des neuen Ministerpräsidenten ins unmittelbare Zentrum der Macht vorrücken, vermochte er sich zwanzig Jahre später auch mit der anhaltenden Unterstützung Bismarcks nicht gegen die Funktionseliten im Auswärtigen Amt durchzusetzen, die ihm mit Hinweis auf seine vermeintlich mangelnde Qualifikation mehrmals eine Beförderung auf einen hohen Berliner Posten verbauten“ (S. 17). 1887 schied er aus dem diplomatischen Dienst und widmete sich fortan vorwiegend seinen musikalischen Interessen.
Dieser Hintergrund eines langjährigen engen familiären Vertrauensverhältnisses darf folglich bei der kritischen Beurteilung des Quellenwerts von Keudells „Fürst und Fürstin Bismarck“ nicht ausgeblendet werden. Es handle sich nach Haardt um einen „retrospektiven Bericht, den dieser [Keudell; W. A.] mit verschiedenen Dokumenten durchsetzte, um ihn authentischer zu machen. Darunter sind neben Ausschnitten aus verschiedenen Reden Bismarcks vor allem zahlreiche Briefe, die dessen Gattin im Laufe der Jahre an ihren engen Vertrauten Keudell schickte“ und die, wie Keudell in seinem Vorwort selbst explizit ausführt, „viele Seelen zu herzlicher Verehrung anregen“ würden. Alles in allem erstellte Keudell „eine bunte Collage aus persönlichen Erlebnissen, die er zum Beispiel durch die häufige Verwendung der direkten Rede äußerst lebhaft, ja stellenweise sogar emotional schildert. […] In zwölf chronologisch geordneten Kapiteln schilde[r]t er jeweils das erste Kennenlernen mit Bismarck, die Zeit beim Bundestag in Frankfurt, Bismarcks musikalische Vorlieben, die drei Jahre am Petersburger Hof, die Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten, den Deutsch-Dänischen Krieg, das Auseinanderbrechen der Koalition mit Österreich, das Ende des Deutschen Bundes, den Deutsch-Deutschen Krieg, die Gründung des Norddeutschen Bundes, den schwierigen Ausbau des neuen Bundesstaates und schließlich den deutsch-französischen Krieg, die Einigungsverhandlungen und den Abschied aus den Diensten des Kanzlers“ (S. 19f.). Berücksichtigt man also die im Hintergrund stehenden, die historische Realität bisweilen verzerrenden Absichten des Verfassers und bringt diese in Abzug, erfährt man viele authentische Einzelheiten über den Aufstieg Bismarcks vom stellvertretenden Abgeordneten im Vereinigten Landtag bis zum Kanzler des Reichs. Die erstmalige Veröffentlichung der für die Genese der Reichsverfassung zentralen sogenannten Putbuser Diktate bei Keudell zeige, dass dessen Publikation durchaus auch Elemente, die spezielle Interessen wie jene des Verfassungshistorikers bedienen, enthalte. Allerdings sei unter dem Blickwinkel der neueren Bismarck-Forschung unschwer auszumachen, „dass Keudell den Drang verspürte, den ohnehin großen Anteil seines Chefs an der Ausarbeitung der Verfassung noch weiter zu überhöhen. Denn diese Übertreibung zeigt uns, dass bestimmte Kreise Bismarck nicht nur als Staatsgründer, sondern auch als Verfassungsvater verehrt wissen wollten“ (S. 23).
Wie Robert von Keudell 1866 Bismarcks „Geschäftsbehandlung in Berlin“ wahrgenommen haben will, illustriert exemplarisch die folgende Passage: „Hier beherrschten die überlegene Einsicht und der starke Wille des Chefs Inhalt und Form der ausgehenden amtlichen Schriftstücke bis in alle Einzelheiten. […] Der Minister eröffnete ihm [= Heinrich Abeken, „der begabteste Rat unseres Ministeriums“; S. 127; W.A.] mündlich für jede Depesche den Gedankengang. […] Abeken (zauberte) mit fliegender Feder Entwürfe auf das Papier, welche die vom Minister angegebenen Gedanken in vielseitiger Ausführung darstellten. Nach wenigen halben oder ganzen Stunden trug dann der Kanzleidiener die Mappe mit den fertigen Schriftstücken die Treppe hinauf in das Arbeitszimmer des Ministers. Dieser pflegte abends die im Laufe des Tages vorgelegten Entwürfe so gründlich durchzuarbeiten, daß jede Redewendung den Stempel seines Geistes erhielt“ (S. 140f.).
Da Robert von Keudells Schrift, wie angedeutet, bedeutsame Puzzleteile zum Verständnis des Phänomens Otto von Bismarck beizutragen hat, wird man diese Neuauflage uneingeschränkt begrüßen dürfen. Eine Aufnahme Bismarcks aus dem Jahr 1862, zwei Gruppendarstellungen mit Bismarck und dem Verfasser jeweils aus dem Jahr 1871, ein Portraitbild Robert von Keudells um 1875 und drei faksimilierte handschriftliche, an den Verfasser adressierte Briefe (einer vom Fürsten, zwei von dessen Gattin) illustrieren den Band sparsam, aber ausreichend, ein Namensregister hilft bei der Nachsuche. Als Wermutstropfen wird man hinnehmen müssen, dass der potentielle Aufwand für einen (wünschenswerten) aktualisierenden Kommentar zu der betagten Quelle doch zu groß gewesen sein dürfte.
Kapfenberg Werner Augustinovic