„Ein Sommer wie seither kein anderer“.

Wie in Deutschland 1945 der Frieden begann – Zeitzeugen berichten, hg. v. Goos, Hauke/Smoltczyk, Alexander. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021. 238 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER 11 (2021) 80. IT

Am 7. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation aller deutschen Streitkräfte, im August 1945 auch im Fernen Osten, nachdem Japan durch die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki in die Knie gezwungen worden war. Dieser Sommer des Umbruchs ist für jene, die ihn bewusst erlebt haben und heute bereits weitgehend der Generation 90 plus angehören, in der Erinnerung herausgehoben haften geblieben. Es ist das Bestreben der „Oral History“, die Berichte der Erlebnisgeneration festzuhalten, ist doch unser Bild einer Epoche stets nur gleichsam ein allgemeines Muster, das mit Hilfe geeigneter Methoden aus der Summe der subjektiven Wahrnehmungen der handelnden Individuen destilliert wird.

 

Die beiden „Spiegel“-Journalisten Hauke Goos und Alexander Smoltczyk haben zunächst zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2020 verschiedene Zeitzeugen zum Sommer 1945 befragt, für das Buch wurde dann der Kreis auf insgesamt 24 Interviewpartner erweitert. Diese wurden nach Möglichkeit an ihren Wohnorten besucht, in Ausnahmefällen telefonisch kontaktiert und allesamt fotografisch porträtiert. Ein zentraler Tafelteil auf Hochglanzpapier versammelt diese Farbaufnahmen zusammen mit Dokumenten, welche die befragten Persönlichkeiten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit in die Gegenwart herübergerettet haben.

 

Eingerahmt wird der Textteil von einem Vorwort sowie einem Nachwort der Herausgeber, die darin ihr Anliegen erläutern und ihre persönlichen Erkenntnisse aus den Gesprächen präsentieren. Das erste und das letzte Interview des Bandes, geführt mit dem „Jahrhundertjournalisten“ und einstigen amerikanischen Besatzungssoldaten Georg Stefan Troller (geb. 1921) sowie mit dem ausgebildeten Rechtsanwalt, Filmemacher, Fernsehproduzenten, Schriftsteller und Philosophen Alexander Kluge (geb. 1932), ist jeweils im Frage-Antwort-Modus gehalten und nimmt den gesamten Umfang der belegten Buchseiten ein. Anders verhält es sich mit den 22 weiteren Gesprächen, in denen die Berichtenden monologisch ihre jeweiligen Erfahrungen aus dem Sommer 1945 darlegen. Der Text dieser Monologe beschränkt sich auf die unteren zwei Drittel der Buchseite. Das obere Drittel bringt, durch eine graue Unterlegung herausgehoben, begleitend eine chronologisch fortlaufende Collage kurzer Texte und Bilder unmittelbar aus den behandelten Monaten.

 

Den ausgewählten Persönlichkeiten ist gemein, dass sie im Sommer 1945 noch keine besondere Prominenz in Anspruch nehmen konnten, die meisten von ihnen aber heute große Bekanntheit in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erlangt haben. Das gilt für die Politiker Hans-Jochen Vogel, Burkhard Hirsch, Klaus von Dohnanyi, Hans Modrow, Christian Schwarz-Schilling oder Gerhart Baum ebenso wie für die Kulturschaffenden Armin Mueller-Stahl, Wolfgang Kohlhaase, Martin Walser und Edgar Reitz sowie die Medienexperten Friedrich Nowottny, Wolf Schneider und Theo Sommer. Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter repräsentiert den Wirtschaftssektor, während sich mit Nikolaj Pudow, einst Artillerist und Hauptmann der Roten Armee, ein Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht äußert. Unter den Berichtenden weiblichen Geschlechtes finden sich klingende Namen wie die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano oder Marianne von Weizsäcker, die Gattin des ehemaligen Bundespräsidenten, aber auch Frauen ohne großen öffentlichen Bekanntheitsgrad (Annemarie Günther, Irmtraud Folgner, Eva Kleiminger und Ingeborg Triebel, die sich gemeinsam mit ihrem Ehemann Woldemar äußert).

 

So unterschiedlich all diese Persönlichkeiten sind, so individuell sind auch die Erlebnisse im Positiven wie im Negativen, die sie mit dem Sommer 1945 verbinden. Beispielsweise lebt in der Erinnerung Martin Walsers in erster Linie der Beginn einer intensiven Liebesbeziehung mit seiner späteren Ehefrau („Ich war verliebt in Käthe und Käthe in mich, alles andere war sekundär“ S. 130), während es für die damals zehnjährige Irmtraud Folgner eine Zeit traumatischer Erfahrungen war, in der sie ohne Beistand ihrer Eltern, denen sie sich anvertraut hatte, hilflos den sexuellen Übergriffen eines Onkels ausgesetzt blieb, der sich die materielle Notlage der Familie in verbrecherischer Weise zunutze machte („In meiner Fantasie habe ich mir andere Eltern erschaffen, um überhaupt weiterleben zu können“ S. 121). Die Herausgeber stellen fest: „Die hier gesammelten Geschichten belegen auf jeder Seite, dass Nach-Krieg noch kein Frieden ist. Der Sommer 1945 ist weder Stunde Null noch Befreiungsfest [und] alles andere als ein unbeschwerter Neubeginn, er war für die meisten noch nicht einmal eine Befreiung. Vorbei war es mit den Bombenangriffen, den Nächten im Bunker zwischen Leben und Tod. Es begann etwas Unbekanntes. Die Deutschen lernten eine neue, andere Angst kennen, in besonderem Maße die Frauen und Mädchen. Niemand konnte wissen, was die Besatzung bringen würde; Vergewaltigung, Verschleppung, Vertreibung waren in weiten Teilen des Landes wahrscheinlicher als freedom & democracy“ (S. 224).

 

Für die damals jungen Menschen bot der Zeitraum zwischen dem Sturz der alten Autorität und der Etablierung einer neuen Herrschaft aber auch Freiräume, die für sie Abenteuer und Freiheit implizierten. Es war eine Periode der Abwesenheit von Normen, in der so mancher seinen ganz persönlichen Umgang mit dem Eigentum entwickelte, indem er sich in den vielfach verlassenen Häusern oder an anderen scheinbar aufgegebenen Sachen wie selbstverständlich und ohne schlechtes Gewissen schadlos hielt. Überlebensfragen, wie die Befriedigung des allgegenwärtigen Hungers, waren stete Begleiter in den oft durch ein Flüchtlingsschicksal zerrissenen Familien. In der Erinnerung vieler sind unter den alliierten Besatzern die Amerikaner zum größten Teil positiv konnotiert, während das Eintreffen der Russen so gut wie nirgendwo als Befreiung empfunden worden sein dürfte. Der junge Reinhard Schmoeckel, später Büroleiter von Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, notierte etwa vielsagend: „Amerikanische Panzer fuhren in den Sektor Berlins ein, der den USA zugeteilt worden war, und wurden von den Deutschen begeistert als ‚Befreier‘ begrüßt: als Befreier von den russischen Besatzern, nicht von den Nazis“ (S. 167f.). Von den Verbrechen der nationalsozialistischen Machthaber in den Konzentrationslagern wollen viele Konkretes erst in jener Zeit des Sommers 1945 und dank alliierter Aufklärungsmaßnahmen erfahren haben, was bei nicht wenigen innere Verunsicherung infolge ihrer einst dem NS-Regime erwiesenen Loyalität und auch Ängste vor Bestrafung ausgelöst habe.

 

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass die im Sommer und Herbst 1920 geführten Gespräche selbstverständlich anders einzuschätzen sind als solche Aufzeichnungen, die unmittelbar zeitnah entstanden sind. Man spüre, so die beiden Herausgeber, „die 75 Jahre des Nachdenkens, des Lernens, der Reflexion. Die Debatten, die seit dem Kriegsende in Deutschland geführt wurden, haben sich über die Erinnerungen gelegt und diese häufig, mitunter stark, verändert. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, welche Form des Erinnerns ihnen mehr über diese Zeit mitteilt: die Notiz des gelebten Tages oder die in einem Menschenleben gereifte Erinnerung des Alters“ (S. 225f.). Für ihren Mut, ein Stück ihres Lebens ehrlich offenzulegen und damit zugleich den kollektiven Erfahrungsschatz der Menschheit zu bereichern, ist allen Berichtenden zu danken, der Band entsprechend zu empfehlen.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic