Reuth, Ralf Georg, Hitler.
Abertausende Seiten füllt die wissenschaftliche Literatur zu Adolf Hitler und zum Nationalsozialismus, klingende Namen wie Joachim C. Fest, Ian Kershaw oder Peter Longerich haben kluge und umfangreiche Biographien vorgelegt. In den 1980er-Jahren eskaliert die Frage der angemessenen Interpretation des Nationalsozialismus im berüchtigten Historikerstreit, in dem der bis dahin allgemein hoch geschätzte Faschismus-Experte Ernst Nolte von seinen Kontrahenten gleichsam in das wissenschaftliche Abseits gedrängt wird.
Doch so manches, was als längst überwunden galt, kehrt wieder: Noltes Kardinalthese, wonach der Nationalsozialismus als Reflex der bürgerlichen Gesellschaft auf die Bedrohung durch den Sowjetbolschewismus zu erklären sei, schwingt implizit mit in dem neuesten Hitler-Buch des bei Andreas Hillgruber 1983 in Köln in Geschichtswissenschaften promovierten, zuletzt als Chefkorrespondent der „Welt am Sonntag“ wirkenden Ralf Georg Reuth, der bereits zahlreiche Werke vorwiegend zur Geschichte des Nationalsozialismus vorgelegt hat, darunter eine allgemein positiv rezipierte Biographie des Joseph Goebbels. Sein aktuelles Werk legt nicht zuletzt eine missverstandene Wahrnehmung der authentischen Intentionen Hitlers durch die Masse der deutschen Bevölkerung nahe.
In einer kurzen Einleitung, die geprägt ist von einem kritischen Blick auf eine behauptete Dominanz sozialgeschichtlicher Perspektiven in der deutschen Historiographie, fordert der Verfasser „eine Einbettung in den historischen Kontext der deutschen und europäischen Geschichte“, denn „nur dadurch“ sei „die politische und moralische Dimension Hitlers zu ermessen“. Dieser „Historisierung“ solle in dem gegenständlichen Werk „Rechnung getragen“ werden, indem auf gut 300 Seiten Text zehn relevante Fragen zu Hitlers Agieren gestellt und in jeweils einem Kapitel abgehandelt werden, bevor ein Schlusskapitel „Hitlers zerstörerisches Erbe“ den Band abrundet (S. 10).
Es lohnt ein Blick auf die Thesen, die Ralf Georg Reuth im Anschluss an die von ihm aufgeworfenen Fragen formuliert. So sei der Antisemitismus „kein spezifisch deutsches Charakteristikum, sondern ein europäisches, das seine Wurzeln in der langen abendländischen Geschichte hatte und nicht in der verspäteten Entstehung des deutschen Nationalstaates. Die Juden waren in diesem emanzipiert wie nirgendwo anders“ (S. 42). Die Mehrheitssozialdemokratie, die nach dem Ersten Weltkrieg einer proletarischen Revolution entschieden entgegentrat, trage keine Mitschuld an Hitlers Aufstieg, im Gegenteil: „Sie waren ehrliche Makler, die Deutschland auf einen guten Weg führten. Gleichwohl fristen Scheidemann, Ebert und Noske in der Erinnerungskultur der heutigen Sozialdemokratie ein Schattendasein [, während] Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, also jene linksradikalen Führer verehrt werden, die 1918/19 einem totalitären System das Wort redeten, Terror säten und auch auf Mehrheitssozialdemokraten schießen ließen“ (S. 69). Der Friedensvertrag von Versailles habe „nicht Hitler den Weg zum 30. Januar 1933 geebnet, wie nach Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder geschrieben wurde. Er hatte aber die Republik an den Rand des Untergangs geführt und in dieser Zeit ein Klima geschaffen, das den Nährboden für Hitlers wahnwitzige rassenideologische Weltanschauung bildete“ (S. 95f.). Wie einst bereits von Ernst Nolte festgehalten, sei „der Klassenmord der Bolschewiki […] das logische Prius […] des Rassenmordes der Nationalsozialisten. Aber nicht alleine. Es bedurfte dazu auch des tiefen Hasses auf den raffgierigen ‚jüdischen Kapitalismus‘, dem Hitler eine nicht minder zerstörerische Wirkung beimaß“ (S. 122). Der Rassenfanatiker konnte Kanzler werden, weil er seine nationalkonservativen Partner und Konkurrenten zu täuschen vermochte, die meinten, „Hitler verfolge die gleichen Ziele wie man selbst, also die Beseitigung des Bolschewismus und eine Außenpolitik zur Revision von Versailles und damit zur Wiederherstellung der alten Stärke Deutschlands“, doch sei dies alles „ein grandioser Schwindel eines Besessenen“ gewesen, „der sämtliche Mittel für legitim hielt, sein Ziel zu erreichen, […] der sich außerhalb jeder Norm bewegte und dessen Weltanschauung und programmatische Zielsetzungen das Vorstellbare bei Weitem übertrafen“, was aber „so gut wie niemand gemerkt“ habe (S. 148). 1939 habe auch „die deutsche Bevölkerung […] nicht die leiseste Ahnung davon [gehabt], dass für Hitler die Ausschaltung Polens in einem regional begrenzten Feldzug die letzte Voraussetzung für seinen eigentlichen Krieg gegen die Sowjetunion schaffen sollte“ (S. 181f.). Bei dem so paradox erscheinenden Hitler-Stalin-Pakt setzte „der von seiner rassenideologischen Weltsicht ganz und gar beherrschte Hitler“ unter Zeitdruck „alles auf eine Karte“, wohingegen Stalin „auf maximale Sicherheit bedacht [und] rational kalkulierend“ handelte und gewusst habe: „Verlieren konnte bei dem Pakt nur einer“, nämlich Hitler (S. 206). Hitlers Anlage des Russlandfeldzugs „als rassenideologischer Vernichtungskrieg […] verhinderte von vornherein antibolschewistische Bündnisse mit den unterdrückten Völkern Russlands [, ] setzte erst die Widerstandskraft der Roten Armee frei und schweißte Stalins auf Repression und Terror basierendes Vielvölkergefängnis ‚Sowjetunion‘ zu einer Nation zusammen“ (S. 241). Auch was den Holocaust angeht, ließ ihn „erst das Scheitern im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion enthemmt die allerletzten zivilisatorischen Normen in den Wind schlagen und den Befehl zur physischen Vernichtung der europäischen Juden geben“ (S. 270). Dass Deutschland schließlich den Krieg bis zum Untergang kämpfte, sei den „Gesetzmäßigkeiten“ (S. 271) einer Kriegsdiktatur (Intransparenz der politischen Entscheidungsprozesse, systematische Desinformation durch die Propaganda, Unterdrückungsapparat), aber auch an dem Mangel an gangbaren Alternativen geschuldet gewesen, der aus der alliierten Festlegung 1943 in Casablanca resultierte, den Krieg unter allen Umständen bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands fortzuführen.
Es entspricht tatsächlich den Befunden der neueren Forschung zu Hitlers frühen Jahren, dass sich sein Judenhass, anders als von ihm selbst dargestellt, erst in den Verwerfungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ausgebildet zu haben scheint, als er sich vom Sympathisanten der Linken als Propagandist in Diensten der Reichswehr zu einem rechten Hardliner entwickelte, der im September 1919 formulierte, „letztes Ziel“ müsse „unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein“ (S. 109), damit, wie er dann später festhielt, dem „furchtbarste(n) Menschheitsverbrechen aller Zeiten“, dem „Wirken des ‚internationalen Judentums‘ in Gestalt von Bolschewismus und ‚Börse‘“, Einhalt geboten werde (S. 121f.).
Inwieweit diese radikalantisemitische Fixierung Hitlers, von der er nur zeitweilig aus taktischen Gründen abwich, die er ansonsten aber bis zur buchstäblich letzten Konsequenz umzusetzen bereit und gewillt war, selbst von seiner engsten Umgebung und darüber hinaus von der großen Mehrheit der Deutschen nicht adäquat wahrgenommen sei, ist eine ebenso zentrale wie brisante Frage. Ralf Georg Reuth hebt immer wieder hervor, dass Hitler insgesamt in seiner Radikalität nicht verstanden und immer wieder falsch eingeschätzt worden sei. Er behauptet beispielsweise, dass es nach der Bamberger Führertagung der NSDAP 1926 „eine programmatische Diskussion in der Partei nicht mehr gab. Der Zugang zu Hitlers ideologischem Konstrukt von der ‚jüdischen Weltverschwörung‘ blieb so dem Gros der braunen Funktionäre verschlossen. Schon gar nicht begriffen sie die ganze Dimension seiner mörderischen Rassenideologie“ (S. 126). Zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1933 sei zwar „das Bild, das die Deutschen von ihm hatten, sehr unterschiedlich“ gewesen. […] Was sie allesamt nicht sahen, war seine Irrationalität, sein Wahn vom ‚Weltkampf‘ der Rassen, den er aus der Revolutionszeit mit in die Reichskanzlei gebracht hatte“ (S. 150). Dass die unmittelbar einsetzenden Repressionen gegen Juden „den Beginn der als Ziel der nationalsozialistischen Politik programmatisch festgelegten ‚Ausscheidung‘ des Judentums aus dem ‚deutschen Volkskörper’ darstellten, sahen die allermeisten Deutschen nicht. Wie sollten sie auch?“ (S. 158). Selbst als die „für jedermann erlebbare Reichspogromnacht“ 1938 die Deutschen verstörte, die an ihren mittlerweile innenpolitisch wie außenpolitisch so erfolgreichen „Führer“ glauben wollten, „gaben sich jetzt viele wieder der Selbsttäuschung hin, dass bei all seiner Ablehnung des Judentums solches nicht seine Sache gewesen sein konnte. […] Und so mussten oft andere herhalten, […] die Paladine, die ihn umgaben, vor allem die SS“ (S. 179). Als im Juni 1941 der Russlandfeldzug begann, sah angeblich „zunächst kaum jemand, dass es sich um einen Vernichtungskrieg handelte“, obwohl wenig später zu lesen ist: „Die Heeresführung, die bereits im Vorfeld […] die verbrecherischen Anordnungen Hitlers, wie den Kommissarbefehl, akzeptiert hatte, trug Hitlers Vernichtungskrieg mit“ (S. 234). Ganz unwissend blieb hingegen offenbar die gesamte Marineführung, die nicht begriffen habe, „dass ihr oberster Befehlshaber kein Jota von seiner Ost-Zielsetzung, von seinem Rassenkrieg gegen den ‚jüdischen Bolschewismus‘, abrücken würde“ (S. 274). Wohl allzu verallgemeinernd liest man schließlich über die letzten Kriegsmonate 1945: „Für sie [, die Volksgenossen,] war Hitler nur noch derjenige, dessen Existenz diesen sinnlosen Krieg verlängerte. Sie befanden sich in einer Agonie“, die, so behauptet der Verfasser, „nur noch einmal durchbrochen (wurde), als am 12. April 1945 der amerikanische Präsident Roosevelt starb“ (S. 298).
Das Bild, das sich aus all diesen Feststellungen ergibt, ist das eines allzu naiven deutschen Volkes, das die Ambitionen seines „Führers“, der damit jedenfalls nicht wirklich hinter dem Berg hielt, erstaunlicher Weise nicht verstanden habe und diesem, beeindruckt von dessen anfänglichen Erfolgen und oft getrieben von egoistischen Motiven und irrationalen Wunschvorstellungen, lange die Treue hielt, bevor es erst die ernüchternde Realität der drohenden Niederlage in Agonie verfallen ließ. Was die radikale Judenfeindschaft und den Holocaust betrifft, bestätigt Peter Longerichs jüngster Längsschnitt durch den deutschen Antisemitismus von der Aufklärung bis zur Gegenwart (2021) Reuths Position partiell, indem er in der breiten Masse der deutschen Bevölkerung keinen aktivistischen eliminatorischen Judenhass erkennt, sehr wohl aber eine weit verbreitete, verhängnisvolle „Anschlussfähigkeit“ für derartige Ideen und eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der jüdischen Mitbürger. Nun liegen aber von Seiten der Täterforschung auch zahlreiche kollektivbiographische Studien vor, die nachweisen, dass nicht nur einzelne Überzeugungstäter vor allem aus den Reihen der Schutzstaffel, sondern auch bedeutende Teile der gesellschaftlichen Funktionseliten sehr wohl die rassenideologischen Überzeugungen Hitlers teilten, diesem „entgegenarbeiteten“ und bis in den Untergang keineswegs allesamt in Agonie verfielen, sondern die nationalsozialistische Herrschaftsmaschinerie durch ihren ungebrochenen Gehorsam und nicht zuletzt mit brutalem Terror effizient am Laufen hielten. Zu diesem glaubwürdigen Befund gelangt auch Ian Kershaw im Rahmen seiner Hitler-Biographie, die dem Verfasser des vorliegenden Werks zweifellos bekannt ist. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Ralf Georg Reuths bisweilen allzu pauschal formulierte Feststellungen den Verdacht evozieren könnten, die hier vorliegende, im Übrigen viele interessante Zusammenhänge aufzeigende, detailreiche Arbeit verfolge exkulpatorische Zielsetzungen und falle in wissenschaftlich überholte Positionen zurück.
In diesem Zusammenhang ist besonders das letzte Kapitel des Buches von erheblicher Brisanz. „Hitlers zerstörerisches Erbe“ bestehe nach Ansicht des Verfassers im Wesentlichen darin, dass „die deutsche Geschichte (immer mehr) auf den Nationalsozialismus und damit auf den Holocaust reduziert (wurde). Zugespitzt ließe sich sagen, dass allmählich alles, was vorher war, zum Weg zu den Gaskammern wurde. Auschwitz, mit seinem industriellen Mord an einer Million Menschen, wurde zum Kern der deutschen Geschichte. Kategorien wie Scham und Betroffenheit ersetzten mehr als ein halbes Jahrhundert danach zunehmend den nüchternen Umgang mit ihr“ (S. 307). Mit Blick auf die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 sei „im Angesicht von Auschwitz Fremdenfeindlichkeit allzu schnell mit Rassismus verwechselt [worden] und Patriotismus mit Nationalismus“. Viele Bürger wollten „nicht die permanente mahnende Konfrontation mit den Verbrechen des Nationalsozialismus“, sondern dass es hier „ein wenig so ist wie in allen anderen Ländern dieser Welt, wo die Bürger stolz auf die Geschichte ihrer Nation sein dürfen“ (S. 308). Richard von Weizsäckers Rede von 1985 zum „Tag der Befreiung“ erteilt der Verfasser eine unmissverständliche Absage, wenn er fragt: „Wie geschichtslos – vielleicht besser – verblendet muss eine Gesellschaft eigentlich sein, wenn sie inzwischen weitgehend undifferenziert die Besetzung des Ostens Deutschlands durch eine mordende und vergewaltigende Sowjetarmee allzu oft in die Befreiungsrhetorik mit einbezieht[?]“ (S. 313). Die Moralkeule Auschwitz polarisiere zunehmend die deutsche Gesellschaft und stärke rechtsextremistische wie linksextremistische Ränder. Die „Bedrohung für die demokratische Gesellschaft“ sieht Ralf Georg Reuth resümierend dabei „nicht in den Taten der rückwärtsgewandten Rechtsextremisten, so abscheulich sie auch sein mögen, sondern in der sich ausbreitenden Mentalität der ‚Alternativlosigkeit‘ und eines moralischen Rigorismus à la Saint-Just“ (S. 311), sodass letztendlich „Anlass“ bestehe, „daran zu zweifeln, dass die deutsche Demokratie mit der Erblast, die ihr der Menschheitsverbrecher Hitler aufgebürdet hat, noch fertig wird“ (S. 314).
Hier wird vieles im Detail nicht unwidersprochen bleiben, mancher Zusammenhang näher hinterfragt werden müssen. Billigt man dem Verfasser allerdings die besten Absichten zu, so interessiert sein Befund zur behaupteten Normierung der Meinung, der erstaunlich nah bei dem liegt, was eine nicht unbedeutende Zahl an Bundesbürgern unter den Auflagen der gegenwärtigen Corona-Pandemie zunehmend artikuliert: Man lebe in einer Art von „Meinungsdiktatur“, in der von der political correctness abweichende Meinungen zwar nicht formell bestraft, aber sozial so geächtet würden, dass ein freies und unvoreingenommenes Äußern von Überzeugungen nicht mehr ratsam sei. Die Sozialwissenschaften werden zu klären haben, worin die tieferen Ursachen einer solchen Wahrnehmung liegen und was sie über den gegenwärtigen Zustand unserer demokratischen Gesellschaft aussagt.
Kapfenberg Werner Augustinovic