Lowsky, Martin/Osterfeld, Georg, Der Gaukler und der Träumer.
Zwei Autoren als kritische hoffnungsfrohe realistische Utopisten: Ein Schriftsteller und ein Psychoanalytiker figurieren in dieser neuen und eindringlichen parallelen Analyse auf fast plakative Weise als Gaukler und als Träumer. Dass diese überraschende Sicht auf einen christlichen Autor einerseits, einen jüdischen Sozialwissenschaftler andererseits sich als Einführung in eine freiheitliche Religiosität und unbedingte Lebensliebe versteht, macht die enorme Spannung und die Spannweiten ihrer Werke und Weltperspektiven aus. Die Verbindungslinien liegen im humanistischen Denken, in den weit ausgreifenden, philosophisch oder religiös grundierten Perspektiven ihrer Spätwerke.
Der „Gaukler“ Karl May (1832-1912) präsentiert imaginiertes Leben: immer unterwegs auf abenteuerlichen Wegen in eine „heile Welt“ oder in ein erwartbares, abseits von Umwegen und Abwegen heilbar-geheiligtes fantasiertes Panorama. Der „Träumer“ Erich Fromm (1900-1980) erhofft sich späterhin als sozialwissenschaftlicher Theoretiker eine ideale Welt in Harmonie zwischen Mensch und Natur.
Unterschiedlicher konnten ihre auch gesellschaftskritisch deutbaren Werdegänge schwerlich sein. Was sie trennt und was sie letztlich doch auch wieder partiell verbindet, wird in diesem gelungenen Gemeinschaftswerk zweier Spezialisten, der eine für Karl May, der andere für Erich Fromm, in einer überraschenden Tiefenperspektive deutlich.
Karl Mays Vita ist in ihrer Eigenart mit der Fromms kaum vergleichbar. Der ehemalige sächsische Lehrer, als Kleinkrimineller mit sieben Jahren Haft als schwerste Bürde wird als unablässig wirkender Grafomane von der billigen Kolportage in den 1890er Jahren zum angesehenen bürgerlichen Bestseller-Autor der „Reiseerzählungen“. Als pazifistischer Allegoriker mutiert er seit der Jahrhundertwende zum „Psychologen“ von eigenen Gnaden und vorletzten Groß-Mystiker (Arno Schmidt). Das Etikett des Gauklers hat viel für sich.
Erich Fromms Entwicklung als akademisch ausgebildeter Soziologe, Psychologe, Psychoanalytiker, in Verbindung mit dem linken Institut für Sozialforschung, seit den 1930er Jahren Emigrant in den USA und Mexico wird um die Mitte des 20.Jahrhunderts zum Verfasser von Sachbuch-Bestsellern, etwa mit „Die Revolution der Hoffnung“ oder „Haben oder Sein“, ein profunder gesellschaftskritischer Analytiker und anders als May expressis verbis mit politischem Anspruch. Die Gesamtausgabe seiner Werke, von Rainer Funk ediert, weist ihn als großen Sozialforscher aus der Schule Freuds und der Kritischen Theorie, als Wegbereiter humanistischer Psychoanalyse aus. Hingegen sind Karl Mays psychologische Ansätze über späte Berührungspunkte nie hinausgelangt. Für ihn könnte eher als für den sozialwissenschaftlich ausgewiesenen Fachmann auch das Epitheton „Träumer“ gelten. Seine Werke lesen sich trotz ethnografischer Fundierung eher als exotische Traumfluchten. Fromm mag allenfalls in seinen utopischen Anwandlungen als ein wenig träumerisch anmuten.
Religion als Thema bei Karl May und Erich Fromm: Karl May steht als „weltoffener Pietist“ in gewisser Weise konträr zum traditionellen „Freigeist“ Fromm. In einem umfassenden Kapitel wird beider Blick aufs Weltganze als „Biophilie“ definiert. Dem May'schen „Edelmenschen“ wird Fromm „neuer Mensch“ wohl in nuce nicht so ganz entsprechen können. Wenn May in „Winnetou IV“ die harmonische, von Gott gewollte Persönlichkeit preist, wird Fromms Credo in „Jenseits der Illusionen“ die Freiheit von archaischen Bindungen vorstellen: den am Sein orientierten Idealtypus, der das „Haben“ aufgebend mit Kritik und ohne Sentiment an eine kritische Existenz und an die Realitäten sich hält, allerdings nicht ohne einen gehörigen Schuss von „Prinzip Hoffnung“.
Und doch verlaufen nicht wenige Verbindungslinien zwischen den unterschiedlich entwickelten, ausformulierten visionären Appellen oder immanenten utopistischen Werten, Werken und womöglich implizit idealistisch eingefärbten Weltentwürfen. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob Erich Fromm jemals Karl May gelesen hat oder von ihm zu irgendeinem Zeitpunkt beeinflusst worden wäre. Erich Fromms sichtbarer und beachtlicher Bezug zu eindrucksvollen Helden und Abenteuererzählungen zielt jedenfalls auf innere Haltungen. Diese mögen inflationären Abenteuern des Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi ihre missionarischen, christlich-religiös determinierten Parallelen finden.
Solche gleichlaufenden, sich kreuzenden, einander in Teilen und auf anderen Grundlagen entsprechenden Einstellungen, widersprüchliche oder auf eine humanistische Einheitlichkeit abzielende Vorstellungen oder Vorlagen literarischer und wissenschaftlicher Entwürfe realer oder künftiger Welten treten in diesem Werk zweier Kenner der Materien prägnant und in subtilen Differenzierungen hervor. Zahlreiche weiterführende Belege und ein exzellentes Verzeichnis von Primärliteratur und Sekundärliteratur verführen zum Wiederlesen, Neulesen und Weiterlesen.
Albrecht Götz von Olenhusen, Düsseldorf