Paschwitz, Julia, Verantwortlichkeit von Online-Archiven bei überholter identifizierender Verdachtsberichterstattung
Audacter calumniare semper aliquid haeret.
Überholte Verdachtsberichterstattung über Personen, Produkte oder Firmen kann, wenn sie zuvor durch Namensnennung oder andere Identifizierung geschah, Persönlichkeitsrechte und andere Rechte verletzen, psychische und materielle Schäden bewirken: indem das, was unkorrigiert in dem Archiv überdauert, unkritisch zu neuem Leben in Medien erwacht und weiter wuchert. Das Problem ist faktisch wie rechtlich von besonderer Brisanz, seit der weithin ungehinderte digitale Zugriff auf Online-Archive schnell und gern als probate Quelle für etablierte und andere, besonders für soziale Medien dienlich ist.
Die Bonner Dissertation (Betreuerin Louisa Specht-Riemenschneider) verficht die These, dass, um einen Interessenausgleich zwischen betroffenen Beteiligten herzustellen, die Verantwortlichkeit von Online-Betreibern zu erweitern sei. Pflichten-Überwachung durch europäische Aufsicht sei überdies angesagt.
Die eindringliche Studie präsentiert deskriptiv und definitorisch, was Online-Archive, Suchmaschinen und die Judikatur zu rechtmäßigen Bereitstellung von Nachrichten auf Abruf zu bieten haben.
Das Rechtsproblem, dass Nachrichten durch Zeitablauf und andere nicht beeinflussbare unvorhersehbare Umstände nicht nur an Relevanz verlieren oder gewinnen, sondern in puncto Wahrheitsgehalt oder objektiver Richtigkeitsgewähr dem Zahn der Zeit ausgeliefert sind, ist gar nicht neu. Vorverurteilung durch Aufrechterhaltung von Verdachtsmomenten, Prangerwirkung und Stigmatisierung entfalten weiterwirkende Beeinträchtigung, wenn kein Schutz gegen Zugriff auf nunmehr unrichtige, weil veraltete oder aus anderen Gründen korrekturbedürftige Dokumente gewährt wird. Sie waren oder sind einmal wahr gewesen, jetzt aber in Händen naiver oder boshafter Nutzer ein gern genutztes Instrument, einem früheren totgeglaubtem Verdacht neues Leben einzuhauchen – ein schlichtes Zitat kann da nicht nur Wunder bewirken. Längst getilgte Straftaten kommen ans Licht, eine peinliche Affäre, ein Blick auf intime, lang vergessene Fotos tangiert womöglich selbst die inzwischen sauberste Unschuldsvermutung.
Die bislang entwickelten Grenzen gegen öffentlich verkündeten falschen Verdacht erschienen lang als völlig hinreichend.
Absolute Schutzrechte wie Persönlichkeitsrechte, Bildrechte oder Resozialisierungsrechte nebst Informationszugangsbefugnissen und Informationsfreiheit und Meinungsfreiheit geraten in die nun gerade nicht neuen, aber jetzt qualitativ und quantitativ brisanteren Interessenkonflikte. Der Rechtsordnung konnte durch normative Modelle, vor allem durch neue Rechte wie das innovative „Recht auf Vergessenwerden“ erfolgreich gelingen, grundrechtliche Abhilfe zu schaffen – etwa gegen das in Permanenz tagende, gusseiserne Gedächtnis von Google, welches sich von lästigen Folgen seiner Nutzung am liebsten großmütig freizuzeichnen trachtet.
Anonymisierung, Pseudonymisierung, Sperren oder andere technische Mittel, die namentliche oder sonstige begriffliche Suche zu unterbinden, haben sich als nicht recht durchführbar, als enorm kostenintensiv oder als so löcherig erwiesen, dass sogar in europäischem Maßstab der Diskurs um Reform nicht verstummen will.
Das von der EU-Judikatur entwickelte right to be forgotten hat in beachteten Entwicklungsschritten durch den Gerichtshof der Europäischen Union und das Bundesverfassungsgericht Anerkennung und Ausformung gefunden. Es wirkt vor allem gegen Berichte über Personen, die durch Portale für alle namentlich auffindbar und womöglich skandalisierbar sind. Der Bundesgerichtshof hat in jüngster Zeit seine Judikatur dem Gerichtshof der Europäischen Union anpassen müssen. Ein right to delisting hat Löschungsmöglichkeiten erweitert.
Als Dauerproblem bleibt freilich die Not der Abwägung en detail und im Einzelfall zwischen Recherchefreiheit. Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit und Unternehmensfreiheit erhalten. Werden Korrektur oder Löschung abgelehnt, bleibt nur das Forum der Gerichte.
Das macht faktischen wie rechtlichen Schutz schwer kalkulierbar, für Otto Normalverbraucher finanziell kaum erschwinglich. Man überantwortet den Kläger dann ohnehin der langen Bank der Justiz mit ihren so oft beklagten Unwägbarkeiten. Auch wird der Online-Archivbetreiber nach Art.85 DSGVO gesetzlich privilegiert: Datenschutz und Art. 5 GG müssen in einträchtiger Harmonie existieren, so verlangt es das Datenrecht. Wie ist dem Dilemma beizukommen? Der nicht hinreichende Schutzeffekt durch den Pressekodex lässt, wie die Verfasserin treffend aufzeigt, Schutzlücken weit offen.
Das liegt freilich in der „Natur der Sache“. Denn das von den Medien weithin selbst geschaffene, nicht gesetzlich abgesicherte und kaum durch Sanktionsbefugnisse angereicherte, nur nachträglich müde eingreifende „Standesrecht“ war nie ein scharfes Schwert, sondern ein luftiger Schleier für leichte Sünden - fast immer ohne gravierende Konsequenzen: man weist hin, leichte Rüge, und alles ist vergeben. Offenbar zutage liegende Defizite (bleibender Verdacht bis Rufmord wiederkehrend und ohne Chance auf Restitution oder Herstellung von ruinierter Reputation) sind zwangsläufige bleibende Folgen.
In Anlehnung an das NetzDG, dessen Rechtmäßigkeit noch immer in Frage steht, sollen Lücken durch Organisationspflichten geschlossen werden. Sie müssten dem Online-Archivbetreiber auferlegt werden. Damit wären dann Meldefunktionen und Anzeigefunktionen und ein Beschwerdeverfahren verbunden. Aber lehrt nicht gerade dieses Gesetz, dass es, schwach renoviert und von der erbarmungslosen Realität von Hass und Hetze überholt, den Schutz der Persönlichkeit gegen Ehrverletzungen, Häme, Schmähkritik und Hate Speech bei weitem nicht gewährleistet?
Der Vorschlag der Arbeit plädiert einmal mehr für ein Technikformat: dafür fand man bereits eine elegante Definition: data protection by design oder auch: privacy by design mit Namen. Damit wird eine aufwendige Organisationspflicht für die Implementierung von Persönlichkeitsschutz postuliert. Unterlassungsrechte, Löschungsrechte oder Gegendarstellungsrechte würden auf diese Weise in das wohlgehütete und so profitable Feld der Online-Archivbetreiber auf andere Art und Weise präventiv so integriert, dass die überholte Realität nicht mehr verwertbarer Fakten sich nicht mehr zum Nachteil bemerkbar machen soll. Aber wird das ein Rezept sein gegen neugierige emsig unbelehrbare Suchmaschinen, die ungefiltert auch älteste Speicher nur so zu leeren vermögen, wie sie mit ungesäubertem Leergut einst angefüllt wurden?
Hier soll demnach eine speziell ausgeformte, neu wirkende, aber doch letztlich dogmatisch althergebrachte Verkehrssicherungspflicht sich als Modell anbieten. Auf dem legalen Laufsteg mag das, wenn nicht die Judikatur dem Konflikt doch mit anderem Maß und Modus Rechnung tragen sollte, zu einer gesetzlichen Novelle führen. Der Verfasserin schwebt als Wachhund obendrein eine zentrale Aufsichtsbehörde der Europäischen Union vor. All dies könnte womöglich nur über eine Richtlinie der Europäischen Union allmählich an Statur und Struktur, mit bürokratischer Präzision an gewohnter Fahrt gewinnen.
De lege ferenda werden in der Arbeit diverse normative, technische und institutionelle Scheidewege sachkundig diskutiert.
Es bleibt der prinzipielle Einwand, dass Online-Archiv-Betreiber und Suchmachinen-Betreiber als solche selbst a priori keine Gefahrenquelle eröffnen oder unterhalten und dass sie in aller Regel nach Anlage und Intention keine Ursache setzen, dass ein einmal archivierter Bericht, ein Bild, Film oder Dokument sich durch Umstände der zeitlichen Distanz oder veränderte Entwicklungen, Erkenntnisse oder Erfahrungen, durch neue Quellen, Experimente, Daten oder wissenschaftliche Entwicklungen als unrichtig, unwahr oder überholt erweist. Der Nutzer, jeder Journalist, das jeweilige Medium ist niemals der eigenen Prüfung und Sorgfalt enthoben. Ein Archiv ist per Definition weder investigativer Akteur noch Aktivist in dem lukrativen Skandalgeschäft oder intriganten Verdachtsgeschäft. Die Suchmaschine ist nichts als ein äußerst findiges Instrument. Es liefert, doch es recherchiert und prüft nicht selbst und es bewertet oder korrigiert auch nicht. Man ist mit Registratur und Verwaltung vollends ausgelastet. Wer selbst keine Ursache setzt, ist rein rechtlich nicht ohne weiteres auch ein deliktischer Betreiber einer hochgiftigen Gefahrenquelle. Warum also sollte der Unschuldsengel haften und wie und wofür? Wo, so fragt sich, sucht und findet man die Brunnenvergifter?
Wen keine vorsätzliche oder fahrlässige Pflichtwidrigkeit trifft: weshalb soll oder muss dessen Verantwortung und Haftung erweitert und mit unababsehbarem Kostenaufwand belastet werden? Schadensersatz soll ohnehin in dem Modell der Verfasserin keinen Platz finden. Doch gerade um Reputationsschäden geht es primär oder letzten Endes in den meisten Fällen unrichtig erhobenen Verdachts. Schäden zu vermeiden, ist im Grunde eine Pflicht oder Obliegenheit von medialen Nutzern von Archivgut. Öffentliche unliebsame Folgen unrichtiger, überholter Verdachtsreportagen mit ihren meist enormen Schäden sind jedenfalls angesichts der im Vergleich mit Großbritannien oder den Vereinigten Staaten von Amerika eher schmäleren Schadensersatzsummen kaum einmal zu kompensieren. Archive sind Sammeldepots und keine Reparaturbetriebe.
Solche schwerwiegenden, schon immer diskutierten Argumente sind bekanntlich seit längerem auf dem Gabentisch der Gesetzgeber oder naheliegende Garanten für Zweifel an gerechten vertretbaren Lösungen. Die Studie liefert den deutschen und europäischen Diskussionsstand im Kontext (nach dem Stand Oktober 2020).
Weil nach Paschwitz Ansprüche auf Unterlassung, Löschung und Schadensersatz gegen Online-Archiv-Betreiber und Suchmaschinenbetriebe ausscheiden sollen, wird sich eine (überholte) Verdachtsberichterstattung angeblich nicht unterbinden, allenfalls minimieren lassen. Traditionelle Pressearchive haben allerdings sich für ihre mehr oder weniger spektakulären Bereiche im Blick auf überholtes, fragwürdiges oder konfliktives Archivgut einen preiswerten, schlichten Sperrvermerk eingerichtet oder einen korrigierenden Nachbericht vorgezogen, mit praktischem Nutzeffekt und Schutzeffekt gegen gefahrengeneigte Publikationsprodukte der Zukunft, welche älteres Archiv ungeprüft recycelt.
Gegenwärtig – und womöglich auch de lege ferenda – soll, so eine der krasseren Schluss-Thesen, bei Abwägungen in der Regel das Interesse der Öffentlichkeit und des Online-Archiv-Betreibers gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht generellen Vorrang genießen (S. 255)!
Damit gerät die Arbeit in deutlichen Konflikt mit von dem Gerichtshof der Europäischen Union subtil entwickelten Abwägungskriterien pro & contra „Vergessen“. Auf diesem Wege würde, zu Ende gedacht, wohl auch ein Teil der deutschen Judikatur zum Schadensersatz durch Schmerzensgeld bei schwerer Persönlichkeitsrechtsverletzung durch überholte Verdachtsmitteilung zu Makulatur. Und keinen Betroffenen, sondern nur die Medien würde es sehr freuen, wenn selbst offenbar Unrichtiges nicht mehr, wie bisher, mit dem ohne Verschuldensnachweis durchsetzbaren Unterlassungsanspruch am einfachsten korrigiert werden könnte, weil öffentliches Interesse alles prinzipiell überwöge. Würde damit nicht sogar das ehrwürdige Institut der Gegendarstellung auf dem Altar öffentlicher Interessen geopfert? Das auf Abwägung hinauslaufende Prüfungsprogramm sollte angesichts widerstreitender Rechtspositionen von ähnlichem Gewicht doch besser beibehalten werden.
Der an dem relevanten, brandaktuellen und komplexen Thema des deutschen Medienrechts interessierte Leser wird durch die vorgestellte instruktive Forschungslandschaft und durch detaillierte Deskription und Würdigung der deutschen und europäischen Judikatur bereichert. Die nicht einbezogene und nicht genannte, thematisch naheliegende Münsteraner Dissertation (2019) von Anna Sophie Heuchemer zur „Folgenbeseitigung im Äußerungsrecht“ (Hamburg 2020) bietet bereits eine ähnlich interessante und willkommene Ergänzung. Mit Paschwitz' Erweiterung des Rechts-Designs plus Oberaufsicht einer öffentlichen Institution der Europäischen Union wird wohl weder der präventive Schutz noch eine effektive Schadensrestitution gegen selbstgeschaffene Lizenzen für Rufmord gewährleistet. Wer immer künftig durch digital und archivisch genährte, überholte Verdachtsmomente negativ betroffen sein wird, könnte das technisch-organisatorische Design als zu wenig hilfreich, als umständlichen Umweg empfinden.
Während der sorgsam geschärfte Blick auf die deutsche und europäische Rechtsentwicklung de lege lata und de lege ferenda sich auf solchen, schon recht weiten Wegen erheblich verzweigt und in der Europäischen Union schon komplexe rechtspolitische Debatten produziert, in denen kompromissfähige Lösungen noch offenstehen, ist e i n e wesentliche Einschränkung an dieser Stelle anzumerken notwendig: Über die genannten Einblicke hinaus muss die in der Studie ausgeklammerte Sicht auf weniger filigrane Implementierungen der Rechtssysteme im fernen, aber digital so nahen Ausland, also die Einbeziehung künftiger Rechtsvergleiche unvermeidlich sein . Denn der Schutz gegen „reporting based on suspicion“, ein right to delisting oder zur so genannten forced amnesia hat etwa in der Forschung und in dem normativen Flickenteppich der Vereinigten Staaten von Amerika keine entsprechende Konjunktur. Rechtsschutz gegen „suspicious reporting“ ist in vielen ausländischen Rechtsordnungen entweder anders, weniger positivistisch oder effektiv entwickelt und folgt auch anderen Kommunikationsgesetzen. Das aber hat mindestens faktische Rückwirkungen auf suspicious reporting im internationalen Zuschnitt.
Wenn es im Zeichen globaler Archive, verbesserter Zugänge, extensiver Aufbewahrung und weitreichender digitaler Recherchemöglichkeiten investigativer Medien zu „überholter“ Verdachtsberichterstattung in globalem Maßstab kommen wird, was nach aller Erfahrung die Regel ist, weil der Interessent sich an fernen Archiven digital meist kostengünstig oder gratis bedienen darf, dann wird eine europäische Gouvernante den überholten Verdachts-Beeinträchtigungen kaum einen wirksamen rechtlichen, technischen oder organisatorischen Riegel vorschieben können. Eine deutsche und europäische Perspektive allein auf rechtliche Remedur gegen „überholten Verdacht“ greift gegen global archivierte und ebenso zugängliche Verdachtsinhalte wohl eher zu kurz.
Düsseldorf Albrecht Götz von Olenhusen