Evans, Richard J., Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien.
Wo die Komplexität der Realität Menschen an ihre intellektuellen und emotionalen Grenzen führt, eröffnen sich Spielräume für Phantasie und Spekulation. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur und beeinflussen auch viele, die ansonsten durchaus geerdet ihren Alltag bewältigen. Welche Gefahren birgt das omnipräsente Virus tatsächlich für das jeweilige Individuum, wie sind seine Entstehung und Verbreitung zu erklären, und kann man den neuartigen Vakzinen guten Gewissens Vertrauen schenken? Selbsternannte Experten bieten im Netz manch krude Erklärung als angeblich „alternatives Wissen“ an, und sie alle finden ihre Anhänger, die sich dann verunsichert fragen: Werden wir nicht vielleicht doch von unangreifbaren Mächten getäuscht, welche die etablierten Medien manipulieren und mit uns ihr grausames Spiel treiben? Gewitzte Profiteure haben es nicht allzu schwer, aus derlei diffusen Ängsten sowohl finanziell als auch politisch kräftig Kapital zu schlagen.
„Es kann über ein und denselben Gegenstand keine unterschiedlichen, gegensätzlichen wahren Feststellungen geben. Es gibt nur eine Wahrheit, auch wenn sie manchmal schwer zu finden ist“ (S. 307). Mit diesen Worten erteilt der renommierte, einst in Cambridge lehrende Historiker Richard J. Evans Verschwörungstheorien aller Art eine klare Absage. Von 2013 bis 2018 hat er als Leitender Forscher das Cambridge University Projekt „Conspiracy and Democracy“ betreut, dessen Ergebnisse in die vorliegende Studie eingeflossen sind. Systematisch zerpflückt der Band fünf große Mythen, die sich um die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland ranken. Der Verfasser stellt zu den Ereignissen anfangs die jeweils historisch greifbaren Fakten dar, zeigt, wie diese von verschiedenen Interessensgruppen mit welchen jeweiligen Absichten (miss)interpretiert und/oder verfälscht wurden sowie welche Wirkungen solche Spekulationen nach sich ziehen. Es geht um die Bedeutung der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ (vorgeblich authentische Aufzeichnungen konspirativer Äußerungen bestimmter Anführer des Judentums über ihren Plan einer jüdischen Weltverschwörung) für den im Holocaust gipfelnden Antisemitismus, die Wirkung der angesichts der deutschen Kriegsniederlage 1918/19 verbreiteten, sogenannten „Dolchstoßlegende“, den Reichstagsbrand 1933, den Flug des Führer-Stellvertreters und „Friedensboten“ Rudolf Heß nach Großbritannien 1941 sowie um Spekulationen, Adolf Hitler sei 1945 aus dem Bunker der Reichskanzlei entkommen und habe anderen Ortes sein Leben fortführen können. Die nähere Untersuchung dieser Themenkomplexe fördert manch bemerkenswerte Erkenntnis zutage.
So kann Richard J. Evans insgesamt keinen herausragenden Stellenwert der „Protokolle“ im Rahmen der Entwicklung der nationalsozialistischen antisemitischen Agitation ausmachen. Dies mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass das Pamphlet schon Anfang der 1920er-Jahre als Fälschung erkannt worden war und Prozesse in den 1930er-Jahren dies auch gerichtlich bestätigten. In Hitlers Privatbibliothek sei kein Exemplar der Schrift vorhanden gewesen, in „Mein Kampf“ komme der Diktator nur an einer einzigen Stelle auf sie zurück. Auch „erwähnte die NS-Propaganda, wenn sie die vermeintliche jüdische Weltverschwörung behandelte, die Protokolle selten, wenn überhaupt, direkt. Es ist ein Fehler zu glauben, wie es manche Historiker tun, dass jede derartige Äußerung unter Bezug auf die Protokolle geschah. Die Idee einer jüdischen Weltverschwörung wurde auch von vielen anderen Publikationen verbreitet; sie war ein Gemeinplatz antisemitischer Ideologie, und die Protokolle waren nicht mehr als eine Ausprägung [ ] unter vielen“ (S. 57). Man vertrat ohnehin die Meinung, dass die Juden für ihr angeblich zerstörerisches Wirken keines speziellen Plans bedurften, sondern einfach nur dem ihnen zugeschriebenen „Rasseinstinkt“ folgten. So gebe es „kein(en) Beweis dafür, dass die Taten der Nationalsozialisten auf die Lektüre der Protokolle zurückzuführen sind. Tatsächlich waren sie für die Nationalsozialisten keine Offenbarung, sondern lediglich eine Bestätigung dessen, was sie bereits ‚wussten‘“ (S. 69). Dennoch – das sei ergänzt – haben sie Radikalantisemiten wie Julius Streicher weidlich ausgeschlachtet und „alles dafür (getan), sie im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu halten“ (S. 52), was den Schluss einer Festsetzung im öffentlichen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft mit allen fatalen Folgewirkungen sehr wohl plausibel erscheinen lässt.
Auch die Dolchstoßlegende in ihren drei unterschiedlichen Varianten – Zusammenbruch der Heimatfront in Folge der alliierten Blockade, absichtliche Sabotage der Kriegsanstrengungen durch die Linke zum Zweck des Sturzes des kaiserlichen Regimes sowie vorsätzlicher zersetzender Einfluss von Juden im In- und Ausland als Motor der angeblichen sozialistischen Subversion – sei überraschender Weise „von den Nationalsozialisten nur selten aufgegriffen“ worden (S. 112), und wenn überhaupt, dann in ihrer antisemitischen Ausprägung. Insgesamt „(wurde) die Legitimität der Weimarer Republik weniger durch die Dolchstoßlegende […] untergraben als vielmehr durch ein allgemeineres Gefühl, das die Geburt der Demokratie mit der nationalen Demütigung der Friedensbedingungen und der Kriegsschuldklausel des Versailler Vertrags verknüpfte, für die sie daher, was auch immer die Ursachen der Kriegsniederlage waren, letzten Endes verantwortlich war“ (S. 121).
In der Frage der Urheberschaft des Reichstagsbrandes vertritt der Verfasser den nicht zu widerlegenden Standpunkt, dass es keinerlei belastbare Evidenzen gebe, um die schon 1962 von Fritz Tobias umfangreich dargelegte Alleintäterschaft des Marinus von der Lubbe in Frage zu stellen. Trotz zahlreicher gegenteiliger Spekulationen in der umfangreichen Literatur ließen sich überzeugende Indizien für ein kommunistisches (was schon der Leipziger Prozess gegen Dimitroff und seine Mitangeklagten erwies), noch solche für ein nationalsozialistisches Komplott finden. „Aufs größere Ganze gesehen, war der Reichstagsbrand vielleicht nicht das entscheidende, umwälzende Ereignis, als das er oft angesehen wird. Wäre das deutsche Parlament nicht niedergebrannt, hätten Hitler und die Nationalsozialisten einen anderen Vorwand gefunden, um den Notstand auszurufen und Massenverhaftungen von Kommunisten und Sozialdemokraten vorzunehmen. Es gibt zahlreiche andere Fälle, in denen sie eine sich bietende Gelegenheit ergriffen“, beispielsweise die geschickt ausgenützten Affären um die unbequem gewordenen und in der Folge geschassten Militärspitzen von Blomberg und von Fritsch (S. 170).
Der überraschende, in seiner Motivation nicht leicht erklärbare Flug des Rudolf Heß nach Großbritannien war ebenfalls ein dankbarer Nährboden für vielfältige Spekulationen. Wie im Fall des Reichstagsbrandstifters van der Lubbe war es offenbar schwer zu vermitteln, dass Heß als Einzelperson autonom und aus eigenem Entschluss heraus gehandelt haben könnte, bereits kurz nach seiner Landung hätten erste Verschwörungstheorien die Runde gemacht. Abhängig vom politischen Standpunkt und den Intentionen ihrer Schöpfer decken sie eine breite Palette mehr oder weniger wahrscheinlicher Erzählungen ab, die allesamt ihr auf nicht beweisbaren Annahmen beruhender und mit den Vorgaben des historischen Kontextes nicht kompatibler Charakter vereint. Das gelte sowohl für die Vermutung, Hitler habe Heß mit einem (fingierten oder ernst gemeinten) Friedensangebot beauftragt, um den „Kriegstreiber Churchill aufzuhalten“ (S. 218), als auch für Behauptungen, der Flug sei vom britischen Geheimdienst organisiert worden mit dem Kalkül, für Großbritannien den Krieg zu beenden, es vor Zugeständnissen und der Aufgabe des Empires zu bewahren und „es den Nationalsozialisten und der Sowjetunion zu überlassen, die Sache in einem gegenseitigen Vernichtungskrieg auszumachen, aus dem die Sowjetunion geschwächt hervorgegangen wäre“ (S. 217). Konsequent fortgeschrieben werden diese Annahmen durch forcierte Spekulationen, der tatsächlich hochbetagt durch Suizid aus dem Leben geschiedene Heß sei viele Jahrzehnte später im Kriegsverbrechergefängnis in Spandau ermordet worden, „um zu verhindern, dass er auspackte“ (S. 230).
Gab das Schicksal des Stellvertreters schon Anlass zu weitläufigen skurrilen Gedankenkonstrukten, so gilt dies umso mehr für den ersten Mann des Dritten Reichs. Ein Grund, Hitlers tatsächliches Ende durch Suizid im Bunker unter der Reichskanzlei anzuzweifeln, war das politische Kalkül der Sowjetunion, die ihre Informationen zum Sachverhalt bis zur Wende 1989 bewusst zurückhielt. Stalin wollte „der deutschen Behauptung, Hitler sei den Heldentod gestorben, entgegentreten, indem er ihn als Feigling zeigte, der vom Ort seiner Niederlage geflohen war und sich irgendwo auf der Welt versteckte wie ein Verbrecher, der seiner Verantwortung zu entkommen sucht“ (S. 238). Es habe sich, so Richard J. Evans mit Hinweis auf den amerikanischen Historiker Donald M. McKale (1981), „die Vorstellung von Hitlers Überleben bis 1950 in der populären Mythologie festgesetzt. Der Gedanke, dass er dem Druck nachgegeben und Selbstmord begangen haben könnte, sei für manche einfach unerträglich. Die Annahme, dass Hitler überlebt habe, sei zum Kern einer ‚neuen Mythologie‘ geworden, die mit dazu beitrage, die fortdauernde Anwesenheit britischer, amerikanischer und französischer Truppen auf deutschem Boden zu rechtfertigen. Der Sowjetunion diente diese Mythologie der Rechtfertigung ihrer Herrschaft über den Teil Europas östlich des Eisernen Vorhangs“ (S. 246f.). Am häufigsten wollte man Hitler und Eva Braun-Hitler in Südamerika (Argentinien und Brasilien) gesehen haben, wo in der Tat zahlreiche prominente und berüchtigte Nationalsozialisten von Adolf Eichmann bis Josef Mengele Unterschlupf gefunden hatten. Literatur und Film haben die Erzählung von Hitlers Überleben in phantasievoller Weise aufgegriffen, bekannte Beispiele sind Simon Dunstans und Gerrard Williams‘ (auch verfilmtes) Buch „Grey Wolf“ (2011) sowie die darauf aufbauende, im History Channel von 2015 bis 2018 in drei Staffeln mit jeweils acht Folgen laufende Produktion „Hunting Hitler“. Dies alles sei, lege man einen kritischen Maßstab an, „vielleicht gute Unterhaltung, aber in keiner der 24 ausgestrahlten Folgen der Serie wird ein einziger konkreter Fund präsentiert. […] Wo es einen realen Beleg gibt, wird er […] stets überinterpretiert, indem unhaltbare Schlussfolgerungen aus ihm gezogen werden oder auf seiner Grundlage zu substanzlosen Spekulationen ausgeholt wird“ (S. 276). Doch damit nicht genug: Es falle an einer „neuen Welle der Überlebensbehauptungen auf, dass viele von ihnen aus Organisationen oder Gruppen und von Einzelnen kommen, die den Hauptstrom von Religion, Wissenschaft und Gelehrsamkeit verächtlich machen und alternatives Wissen der einen oder anderen Art propagieren. Manche Verfechter des Überlebensmythos gehören beispielsweise dem okkultistischen Milieu an, von Erforschern des Übernatürlichen bis zu jenen des Paranormalen“ (S. 281). Solchen Verschwörungstheoretikern zufolge sei etwa „die ‚Selbstmordtheorie […] auch eine Waffe der psychologischen Kriegführung gegen die deutsche Bevölkerung gewesen‘, die man davon habe überzeugen wollen, dass Hitler ein Feigling gewesen sei und sie sich demütig in die alliierte Besatzung fügen sollte“ (S. 282), würden nicht identifizierbare Flugobjekte „von geheimen NS-Stützpunkten unter der Antarktis gestartet werden […], wohin Hitler nach dem Krieg geflohen und wo er später gestorben und beigesetzt worden sei“ (S. 289), oder seien gar Hitler und seine Getreuen „nicht in die Antarktis entkommen, sondern auf den Mond oder sogar den Mars“ (S. 292). Nicht mit allen solchen Erzählungen, so der Verfasser, werde „ein bösartiger politischer Zweck verfolgt“, aber ihnen allen sei „ein radikaler, wenn auch in mancher Hinsicht naiver Skeptizismus eigen, der nicht nur die Wahrheit von Schlussfolgerungen in Zweifel zieht, die durch akribische historische Forschungen gewonnen wurden, sondern die Idee der Wahrheit selbst. Und ist diese erst einmal diskreditiert, ist die Organisation der Gesellschaft nach rationalen Regeln und auf der Grundlage begründeter, informierter Entscheidungen gefährdet“ (S. 300).
In der Schlussbetrachtung wird der Mechanismus von Verschwörungstheorien noch einmal genau auf den Punkt gebracht: Sie seien in vieler Hinsicht „ein Produkt moderner Wissenschaft und Gelehrsamkeit, deren grundlegende und gebräuchlichste Strukturen und Argumentationsweisen sie vielfach teilen. Sie präsentieren eine Welt, geteilt in Schwarz und Weiß, in der einerseits individuelle Helden, für gewöhnlich Außenseiter, trotz überwältigender Widrigkeiten die Wahrheit enthüllen und andererseits kollektive Bösewichte, die für gewöhnlich Machtpositionen bekleiden, alles tun, um dieselbe zu verbergen. Den Zweideutigkeiten des realen Lebens setzen sie ein Bild moralischer Absolutheit entgegen, ein Bild von Gut und Böse, das leichter zu verstehen und deshalb auch interessanter und aufregender darzustellen ist als die graue Komplexität dokumentierter Realität. Der Leser, Fernsehzuschauer oder Kinobesucher kann seine Genugtuung daraus ziehen, dass er sich mit dem unerschrockenen Helden identifiziert, während er – oder weniger oft sie – den von den ‚Offiziellen’ über das Geheimnis gelegten Schleier lüftet und die Verschwörer entlarvt, die die Ereignisse zu ihrem eigenen Vorteil manipulieren“ (S. 301). Zu den „beunruhigendsten Aspekten einiger Verschwörungstheorien“ gehöre „der offensichtliche Glaube, dass es im Grunde keine Rolle spielt, ob sie wahr sind oder nicht“, doch „es spielt eine Rolle“. Eine bequeme Methode, dem allseits wuchernden Nonsens den Wind aus den Segeln zu nehmen, gibt es offenkundig nicht, „der einzige Weg, nachzuweisen, was wahr und was falsch ist, ist und bleibt sorgfältige, akribische Arbeit“ (S. 307). Das ist zweifellos richtig und gut gemeint, dient aber in erster Linie jenen, die ohnedies bereits an einer intersubjektiv überprüfbaren Wahrheit interessiert sind (hoffentlich die überwiegende Mehrheit der denkenden Bevölkerung); eingefleischten Verschwörungstheoretikern gelten solche Bemühungen hingegen wohl nur als weiterer Ausfluss des konspirativen Treibens, an das sie glauben und von dem sie sich bedroht wähnen.
Der vorliegende interessante, durch Mängel in der Grammatik gelegentlich beeinträchtigte Text bietet selbst dem Sachkenner einigen Erkenntnisgewinn, indem er mit der Frage der Verschwörungstheorien nicht nur ein zeitlos wirkmächtiges Phänomen aufgreift, sondern vor allem auch die konkret behandelten Themenfelder prägnant und auf dem aktuellen Stand auf den Punkt bringt. Vorbildlich ist die Klarheit, mit der Richard J. Evans die relevante Literatur analysiert und kritisch hinterfragt und selbst zu unmissverständlichen, eindeutigen Aussagen in der jeweiligen Sache gelangt. Sein Anmerkungsapparat beinhaltet bisweilen ausführlichere Zusatzinformationen, neben dem Personenregister steht dem Nutzer erfreulicher Weise auch ein Sachregister zur Verfügung.
Kapfenberg Werner Augustinovic