Klug, Michael, Das Flüchtlings-Quarantänelager Straß 1945 – 1951.

Chronologie – Lagerleben – Rezeption (= Mitteleuropäische Geschichte und Kultur – Studienreihe Bd. 7). New academic press, Wien 2022. 228 S., 66 Abb., 8 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER 12 (1922) 83. IT

Die Verwerfungen des Zweiten Weltkrieges führten zu erheblichen, überwiegend erzwungenen Migrationsströmen, deren Bewältigung auch nach der Beendigung der Kampfhandlungen über Jahre hinaus eine Herausforderung für die verantwortlichen Verwaltungsorgane darstellte. Auf dem Gebiet des österreichischen Bundeslandes Steiermark wurden zu diesem Zweck bereits von der britischen Besatzungsmacht 16 Lagerkomplexe betrieben. Aufgrund der Notwendigkeit, eine mögliche Einschleppung von Seuchen frühzeitig zu unterbinden, wurde in Straß in der Südsteiermark auf dem heutigen Kasernenareal des im 16. Jahrhundert vom Geschlecht der Eggenberger errichteten und zwischenzeitlich militärisch genutzten Schlosses ein Quarantänelager eingerichtet, das von Oktober 1945 bis Anfang Juni 1951 bestand, bevor die Station wegen der deutlich zurückgehenden Anzahl der Flüchtlinge ihre Selbständigkeit verlor und in das größere Fürsorgelager Wagna bei Leibnitz integriert wurde. Der Belagsstand schwankte den verfügbaren Quellen zufolge zwischen einem Maximum von 1302 Personen im Januar 1946 und einem Minimum von 55 Betreuten im Januar 1951, insgesamt wurden über den gesamten Zeitraum des Bestehens zumindest 17222 Menschen im Lager Straß versorgt. Bei den Schutzsuchenden handelte es sich vorwiegend um Volksdeutsche aus Jugoslawien sowie um Flüchtlinge mit nichtdeutscher Muttersprache aus Ungarn, die über die Südsteiermark und die Oststeiermark ins Land eingesickert waren und deren Zahlenverhältnis zueinander Schwankungen unterliegt. Die ursprünglich auf drei Wochen angelegte Verweildauer in Straß reduzierte sich wegen der anfangs starken Auslastung der Kapazität rasch auf zwei Wochen, anschließend wurden die Klienten in die Flüchtlingslager im Landesinneren weitergeleitet.

 

Verfasser der Studie ist Michael Klug, der 2018 mit der Arbeit „Die Schlosskaserne Straß im Fokus der historischen Umbrüche 1945 und 1991“ bei Dieter Anton Binder und Martin Moll an der Karl-Franzens-Universität Graz in Geschichte promoviert wurde. Beruflich ist er für die Freiheitliche Partei Österreichs tätig, unter anderem war er Kabinettschef des ehemaligen Verteidigungsministers Mario Kunasek, danach Klubdirektor des Freiheitlichen Landtagsklubs in der Steiermark. Motiv für die einen Teilbereich der Dissertation nun näher ausführende gegenständliche Publikation sei der Umstand, dass die „sechsjährige Geschichte der Quarantänestation in der regionalen und militärischen Rezeption der Schloss- und Kasernengeschichte nur am Rande erwähnt (wird)“ und damit „der Zeitraum 1945 bis 1951 als ‚terra incognita‘ der Strasser Schlossgeschichte anzusehen ist“, eine Lücke, die es zu schließen gelte (S. 9). Zudem darf derzeit wohl wegen der rezenten Pandemie-Lage mit einem gesteigerten allgemeinen Interesse an Fragen der Quarantäne gerechnet werden.

 

Der Aufbau der Schrift ist im Allgemeinen übersichtlich und bindet das Geschehen in Straß in die größeren Kontexte der Sicherheitslage im südsteirischen Raum und der Organisation des Flüchtlingswesens ein. Neben einer Darstellung des strukturellen Gefüges der Quarantäneeinrichtung, der Aufnahmemodalitäten und des Lagerpersonals bilden diese Aspekte die drei Kapitel der Einführung. Es folgen ein „Chronologischer Abriss der Straßer Quarantänestation“ (Kapitel 4) und das „Vertiefung“ überschriebene fünfte Kapitel mit statistischen und grafisch aufbereiteten Auswertungen (Anzahl, Herkunft, Volkszugehörigkeit, Geschlecht der Flüchtlinge) des verfügbaren Zahlenmaterials sowie Einblicken in die wirtschaftliche Gebarung und in tatsächliche oder auch nur behauptete Unregelmäßigkeiten. Im nachfolgenden Teil „Reflexion“ werden die erwähnten Daten ein weiteres Mal und wieder mit ähnlichen Grafiken aufbereitet, eine Doppelgleisigkeit, die dem Rezensenten nicht wirklich zweckmäßig erscheint. Kapitel 7 stellt resümierend einige Falschannahmen der bisherigen Forschung in Bezug auf die Quarantänestation richtig: Internationale Hilfsorganisationen (United Nations Relief and Rehabilitation Administration / UNRRA und ihre Nachfolgeorganisation, die International Refugee Organisation / IRO) spielten bei der Einrichtung und dem Betrieb von Straß keine Rolle, die Quarantänestation wurde sicher bereits im Oktober 1945 errichtet (und nicht, wie gelegentlich zu lesen, erst im Sommer 1946) und kolportierte Belagszahlen von bis zu 1700 Personen am Jahresende 1945 seien ohne Beleg und deutlich zu hoch gegriffen. Ein Epilog fasst die Geschichte des Quarantänelagers auf zwei Seiten knapp zusammen und kommt zum Ergebnis, es „stellte einen sicheren Hafen dar, den Migranten und Schutzsuchende auf ihrer Reise in den Westen passierten. Es war jener Zufluchtsort, der es ihnen ermöglichte, ihre Primärbedürfnisse zu befriedigen, zur Ruhe zu kommen, Kriegserfahrungen und das Erlebte der vorangegangenen Monate aufzuarbeiten“ (S. 178).

 

Anerkennend anzumerken ist das Bestreben des Verfassers, stets für die Klarheit seiner Begriffe zu sorgen. Beispielsweise begnügt er sich nicht mit dem allgemeinen Terminus des Flüchtlingslagers, sondern unterscheidet typologisch und definitorisch zwischen Fürsorgelagern, Wohnlagern und Sonderlagern (ein solches war die Quarantänestation in Straß). Eine entsprechende Differenzierung erfahren auch die Migranten: Als „Displaced Persons“ (DP) galten nur „Flüchtlinge, die im Zuge des Zweiten Weltkrieges durch das nationalsozialistische Regime aus ihrer heimatlichen Umgebung vertrieben wurden“, doch „deutschsprachige Flüchtlinge […] waren per Definition keine Displaced Persons“. Unter den „Volksdeutschen“ – der Ausdruck wurde bereits 1920 geprägt und sei „keine genuine Erfindung des Nationalsozialismus“ – verstand man nach dem Zweiten Weltkrieg die „Bewohner von Gebieten, deren deutsche Besiedlung sich auf mehrere Jahrhunderte erstreckte – ohne rassistisches Stigma“ (S. 34f.).

 

Aus rechtsgeschichtlicher Perspektive von Interesse ist vor allem die Erörterung der Eigentumsverhältnisse des Schlosses Strass nach 1945 (S. 23ff.). Michael Klug legt dar, wie die Objekte und Grundstücke der ehemaligen Deutschen Wehrmacht zunächst auf alliierte Anordnung von der provisorisch gebildeten Landesregierung erfasst und betreut wurden und wie diese Kompetenzen 1946 in den Bereich des Bundes wechselten und vor Ort fortan von der Bundesgebäudeverwaltung Graz II für Steiermark wahrgenommen wurden. Obwohl die Landesregierung diesen Kompetenzverlust naturgemäß nicht hinnehmen wollte, unterlag sie, womit sich „mit Wirksamkeit 1. Mai 1947 […] Gebäude und Grundstücke der Quarantänestation [Straß] wieder im Bundesbesitz (befanden)“ (S. 29). Durch kriegsbedingte Verluste im Grundbuch Leibnitz konnte das Eigentumsrecht des Bundes an weiteren Teilen der Liegenschaft allerdings erst 1950 gerichtlich bestätigt werden.

 

Von Malversationen sei das Quarantänelager Straß nicht verschont geblieben. Unberechtigte Privilegien von Lagerangestellten, die private Verwendung öffentlicher Mittel, der Verkauf von Identitätsausweisen und geheimdienstliche Umtriebe waren zwar Gegenstand behördlicher Erörterung, doch über disziplinarrechtliche Maßnahmen hinausgehende strafrechtliche Konsequenzen scheinen die erhobenen Vorwürfe jedenfalls nicht nach sich gezogen zu haben. Klarheit darüber, inwieweit der auf britisches Geheiß 1950 nach Straß (straf)versetzte, aus Schlesien stammende und in Kapfenberg-Deuchendorf bewährte und beliebte Lagerleiter Hans Brickner, ein gelernter Offizier, wie von ihm behauptet das Opfer von Intrigen weiterhin dem Nationalsozialismus verbundener Angestellter wurde oder aber tatsächlich durch eigenes unangemessenes Verhalten letztendlich alle seine Funktionen verlor, schaffen die erhaltenen Unterlagen leider nicht. Zwar könne nach einer formalen Überprüfung „außer Streit […] gestellt werden, dass [mit dem mit Brickner den Dienstort tauschenden Lagerleiter Englisch, dem Kanzleileiter, dem Arzt und einem Gruppenführer der Lagerwache insgesamt vier] Führungskräfte der Straßer Quarantänestation Mitglieder der NSDAP waren“ (S. 164), doch gibt es keinen objektiven Anhaltspunkt dafür, dass sie diese Ideologie nach dem Untergang der nationalsozialistischen Herrschaft weiter propagierten oder sich auf dieser Basis gegen irgendjemanden verschworen haben.

 

Der Autor hat dem Text einen Annex nachgestellt, der seine Methodik und seine Quellen umfangreich darlegt, bisweilen hat man gar den Eindruck, einen Leitfaden zur Einführung in das geschichtswissenschaftliche Studium vor sich zu haben. Seine schriftlichen (im Wesentlichen behördeninternen) Quellen lagern mit Masse im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz, dem Österreichischen Staatsarchiv in Wien sowie dem Britischen Nationalarchiv in London. Ergänzt werden sie durch die Transkription dreier Interviews mit den Zeitzeugen Hilde Tomschegg geb. Benedicic in Krainburg, Lothar Müller aus Heufeld / Westbanat und Matthias Divo aus Georgshausen / Westbanat. Während die Erstgenannte aufgrund bestimmter Umstände von 1946 bis 1953 im Schloss Strass verbleiben konnte und über entsprechend ausführliche substantielle Erinnerungen verfügt, haben die beiden Männer ihren Aufenthalt dort nur „sehr vage“ (S. 199) bzw. „kaum“ (S. 205) noch im Gedächtnis und bringen stattdessen vorwiegend allgemein-atmosphärische Impressionen ihrer traumatischen Fluchterlebnisse ein.

 

Eigenwillig präsentiert sich das in ein Organisationenverzeichnis, ein Personenverzeichnis und ein Straßen-, Orts-, Gebirgs- und Flussnamenverzeichnis gegliederte Register, indem es unterhalb bestimmter Leitbegriffe jeweils gesonderte alphabetische Ordnungen kreiert, was die Übersichtlichkeit nicht eben fördert. Warum der zuletzt erwähnte Teilbereich nicht einfach als  Topografisches Register geführt wird, da er neben zahlreichen Ortsnamen ohnehin keine einzige Straßenbezeichnung, nur drei Anhöhen und einen Fluss nennt, bleibt das Geheimnis des Verfassers. Wie auch die eine oder andere inhaltliche Frage am Rand: Besteht zwischen dem Leiter der Bundesgebäudeverwaltung II in Graz, Camillo Englisch, und dem ebenfalls in Graz wohnhaften Leiter der Quarantänestation Straß, Josef Englisch, nur eine zufällige Namensgleichheit oder ein Verwandtschaftsverhältnis?

 

Am meisten mag überraschen, dass trotz der vielen ausgewerteten Zahlen offenbar keine valide Statistik zu jener Frage vorliegt, die für eine Quarantänestation zentral erscheint: Welche und wie viele Lagerinsassen litten überhaupt zu welcher Zeit in welchem Ausmaß an welchen (ansteckenden) Krankheiten? Welcher konkreten medizinischen Behandlung wurden sie unterzogen? Gibt es Krankenakten und sind sie dem Historiker (bereits) zugänglich? So erfährt man nur vage und pauschal von einem „sehr schlechten Gesundheitszustand“ der oft unterernährten Migranten, die sich auf der Flucht „schwerwiegende Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose zugezogen“ hatten, „von Kopfläusen und Eiterflechten befallen“ gewesen seien, im Winter „an Erkältungen und Erfrierungen“ litten und aus den jugoslawischen Lagern womöglich „Typhus und andere Krankheiten“ einschleppen konnten (S. 143). Penizillin sei dem Lagerspital „erst ab Februar 1947 zur Verfügung“ gestanden, eine Verzögerung, die „für die Gesundheit der Untergebrachten fallweise dramatische Folgen“ – nämlich ihren Tod – zeitigte (S. 69).

 

Auch wenn wahrscheinlich manche Einzelfrage in Ermangelung aussagekräftiger Unterlagen nicht mehr geklärt werden kann, liefert Michael Klugs gut lesbare Studie einen zuverlässigen und anschaulichen Einblick in die Geschichte einer Einrichtung, die in der Lage war, die ihr gestellten Aufgaben trotz diverser Widrigkeiten zu erfüllen und ihren Beitrag zur Bewältigung der damaligen humanitären Herausforderungen zu leisten. Die Darstellung erhellt auch, welche rechtlichen, organisatorischen, materiellen und personellen Voraussetzungen notwendig waren, um diese Funktion zu gewährleisten. Sie führt damit über die an sich bereits verdienstvolle Erweiterung des bloß objekt- und lokalgeschichtlichen Erkenntnisstandes hinaus: Nicht nur der Straßer Schlossgeschichte wird „terra incognita“ erschlossen, bereichert wird auch die Migrations- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark insgesamt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic