Ehrlich, Eugen, Grundlegung der Soziologie des Rechts. 5. Aufl.,

hg. und neu bearb. v. Rehbinder, Manfred (= Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung 69). Duncker & Humblot, Berlin 2022. 599 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

Auch die Soziologie, auch die Soziologie des Rechts muss eine Beobachtungswissenschaft sein. Eugen Ehrlich, 1913

 

Das magnum opus des österreichischem Rechtssoziologen Eugen Ehrlich (1862-1922) wird mit dieser 5. Auflage in neuer Bearbeitung, zusammen mit einer Bibliografie seiner Schriften, von Manfred Rehbinder, Zürich/Freiburg im Breisgau, eindrucksvoll vorgelegt. Dem Herausgeber kommt das nicht zu überschätzende Verdienst zu, in einer Reihe fundamentaler, luzider Forschungen zu Werk und Biografie Eugen Ehrlichs in der Wissenschaftsgeschichte, Rechtstheorie und Rechtssoziologie ihm den gebührenden Ehrenplatz als Begründer empirisch ausgerichteter Rechtssoziologie gesichert zu haben.

 

„Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst. Vielleicht ist in diesem Satz der Sinn jeder Grundlegung einer Soziologie des Rechts enthalten.“

 

Mit einem solchen hohen wie zugleich radikalen Anspruch wandte sich Ehrlich, Spross einer jüdischen Advokatenfamilie, Professor für Römisches Recht in der Bukovina der Habsburger Monarchie, der umfassenden Grundlegung einer neuen weitausgreifenden Rechtstatsachenforschung zu. In der an bedeutende Vorläufer anknüpfenden Grundlegung sollten nicht dürre nichtssagende Normengerippe, sondern das gesellschaftliche, das „lebende Recht“ selbst das originäre Objekt der Forschung bilden oder jedenfalls in Ausbildung und Wissenschaft künftig mindestens gleichwertig sich darstellen – als erweitertes Studium im „Seminar for Living Law“. Jedoch wird in der Folge dieses Konzept bemerkenswerterweise seinen beträchtlichen Einfluss weniger im Ursprungsland seiner Genese als in den Vereinigten Staaten von Amerika als Rechtsrealismus sowie in Japan und Deutschland erfahren (Vgl. dazu Sergij Neshubida/Manfred Rehbinder, Eugen Ehrlich an der Franz-Josephs-Universität in Czernowitz, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2021, 47-60).

 

Was im Jahr 1913 als grundlegende Theorie und Praxis einer modernen Rechtssoziologie konzipiert der Interdependenz von Recht und Sozialleben sich widmete, vermochte dem bald weit über seine engere Heimat hinaus bekannt gewordenen Polyhistor des geltenden und angewandten Rechts, der römischen wie der deutschen Rechtsgeschichte, ein Gelehrter, der für seine Rechtsvergleichung und Forschungen zudem fast alle europäischen Sprachen beherrschte, keineswegs auszureichen. Dass er neben der unaufhörlichen Produktion von Anekdoten über den skurrilen bis genialen Typus des zerstreuten Professors, Forschers und Rektors durch geistreiche wie populär-wissenschaftliche Vorträge im Inland und Ausland Ansehen und Ruhm auch seiner alma mater fast so unabsichtlich wie scheinbar unangestrengt zu mehren wusste, paarte sich mit einer stupenden Fortsetzung unaufhörlicher innovativer rechtstatsächlicher Forschungsvorhaben und origineller Publikationen zu den Lücken und Lasten nur normativer Betrachtungsweisen mitsamt neuartigen Sichten auf das lebende, namentlich auf das gewachsene, gewandelte, sich stetig verändernde, namentlich in Handel und Wirtschaft sich entfaltende spezifische Vertragsrecht und Wirtschaftsrecht als Faktoren von teils patriarchalisch-traditioneller, teils weiterführender, moderneren Anschauungen gemäßerer Aussage- und Wirkungskraft – sozusagen als erhellende Scheinwerfer auf den soziologischen Gehalt der realen Verhältnisse, zumal Vertragsurkunden, statt auf schmales normatives Stückwerk sowie mit Scharf- und Spürsinn auf die vitalere, die konkrete, auch möglichst zukunftsweisende Ordnung der Gesellschaft der Gegenwart.

 

 Rechtstatsachenforschung sollte später noch in eine Theorie von der richterlichen Rechtsfindung einmünden und bis zur juristischen Logik reichen. Deren Vollendung verhinderten Weltkrieg, Vertreibung und missliche, vor allem krankheitsbedingte Umstände. Mit seiner frühen sogenannten „Freirechtslehre“ und einer nicht durch die Einengung auf das Normative begrenzten rechtssoziologischen Grundlegung als integraler Teil der damaligen aufblühenden Sozialwissenschaften musste er mit den durchaus anders gearteten, „kühleren“, abgehobeneren spezifisch normativen Ansätzen eines Hans Kelsen in hitzige, öffentlich ausgetragene, grundsätzliche Kontroversen geraten.

 

Der Herausgeber hat nicht nur neue biografische Funde, darunter eine bisher unbekannte Fotografie, vor allem aber bislang nicht ermitteltes Grundlagenmaterial und Quellenmaterial, das Ehrlich seinem Werk zugrunde legte sowie in einer kompletten Bibliografie sämtliche bekannten Texte aus der Feder Ehrlichs minutiös nachgewiesen.

 

Wer sich der Begründung und Entwicklung einer empirisch orientierten Rechtssoziologie annimmt, muss zwangsläufig historisch-kritisch mit den Ansätzen und Ausformulierungen einer damals üblichen „Begriffsmathematik“, mit der sichtbaren Macht des staatlichen wie gesellschaftlichen Normenzwangs sich auseinandersetzen, mit Wandlungen des Rechts und seiner Methoden in Staat und Gesellschaft, mit der Bedeutung von „Rechtsquellen“, mit den Lehren Savignys und Puchtas, den Säulenheiligen der „historischen Rechtsschule“, der zunehmend fragwürdigeren Rezeption des Römischen Rechts zumal, mit der Frage nach Relevanz von Sitte und Gewohnheitsrecht und mit den Ansätzen, in denen methodisch wie empirisch Rechtssoziologie als „Beobachtungswissenschaft“ in puncto historisches, ethnologisches und „lebendiges“ Recht figurierte – sogar in heller Weitsicht bis hin zu Andeutungen vom juristischen Experiment oder zum Beginn der realen Untersuchung von Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein. Da mag manch kleiner Ausblick oder Exkurs in Methoden und Möglichkeiten der Zunft fast wie ein essayistischer oder gar futuristischer Gedankensplitter anmuten. Es ist jedoch neben der weitgespannten methodisch wie inhaltlich ungeheuerlich belesenen Beschlagenheit die ungewöhnliche, methodisch wie materiell fast unbegrenzte Offenheit für die systematische Erfassung der empirischen Befunde des damaligen Kaleidoskops des Rechts, welches auch den heutigen Leser wenn schon nicht zu inspirieren, so doch jedenfalls zu faszinieren imstande ist.

 

Wem nicht die klar und übersichtlich formulierten tiefsinnigen Einsichten in systematische Gesamtzusammenhänge zusagen, den mögen deren sonst nicht allzu häufig anzutreffende Verbindungen mit einer überaus eleganten Stilistik entschädigen. Und der wird sich in vielen Passagen an der mit Witz, Ironie bis hin zu treffsicheren oder paradoxen Beispielen angereicherten Formgestaltung eines Textes erfreuen, der zu den unentbehrlichen Grundlagen einer schnell wachsenden Disziplin zählt.

 

Wenn Ehrlich sich etwa scheinbar anschickt, die komplexen Schwierigkeiten der Gegenwart durch die Vergangenheit verstehen zu wollen, so wird das bei ihm, Ernst Mach folgend, darauf allerdings sogleich auf das Paradoxon hinauslaufen, „eine ungewohnte Unbegreiflichkeit durch gewohnte Unbegreiflichkeit“ zu ersetzen. So gesehen reduziert sich bei ihm die Bedeutung von Rechtsgeschichte und Rechtsethnologie unversehens und vielleicht sogar ein wenig oder allzu kurzschlüssig pointiert als nur noch brauchbar für die Lehre von der Rechtsentwicklung und nicht mehr als wertvoll für die Erkenntnis des bestehenden Rechts. Nicht immer zartfühlend springt Ehrlich mit als Vorläufer von ihm selbst apostrophierten Gelehrten um – etwa wenn er

Montesquieu („Esprit des Lois“) als simplen Seelensucher einer Rechtssoziologie, als dilettantischen Grandseigneur abfertigt, der zahllose Fragen ausgebreitet, aber nie zu lösen gewusst habe. Die Marx'sche These, gesellschaftliche Entwicklung führe notwendig zum Sozialismus, gilt ihm wissenschaftlich wie eine Wetterprognose eines Meteorologen oder wie die geologische Prophezeiung über die Zukunft des Goldes. In solche spitzen Weichenstellungen flieht dann zuweilen der Überschuss an gekonnter, auf Effekte zielender Rhetorik.

 

Als kleine lichtvolle Beispiele mögen andererseits Ehrlichs prägnante Ansätze zum Urheberrecht, zur Gerechtigkeit beim Recht am Arbeitsergebnis, seine Kritik am neuartigen Gedanken eines droit de suite in der Kunst dienen, anhand denen er neue Entwicklungen der „privaten Monopolrechte“, der Urheber- und Persönlichkeitsrechte, hier namentlich durch rechtsvergleichenden Blick in das französische, schweizerische und österreichische Recht entwicklungshistorisch und nach ihren normativen „Quellen“ wie Legitimationen bei ihren zeitgenössisch nicht durchweg normativ bedingten Entstehungsbedingungen als spezifische so neue wie notwendige Entwicklungen in das System einordnet. Dabei verbinden sich generelle Gleichheitsvorstellungen mit durchaus modernen Konzeptansätzen und Konkretisierungen zum Recht am eigenen Bild, zum Namens- und Ehrenschutz, zum Schutz der Geheimsphäre, von Briefen, ja sogar auf Schonung des Gefühlslebens. Hier werden Rudimente eines an fundamentalen Menschenrechten orientierten Persönlichkeitsrechts als Konzept im Zivilrecht mit weitreichenden Konsequenzen in geistreichen, zuweilen aphoristischen Blitz- und Glanzlichtern sichtbar, die den Vergleich mit anderen hochgerühmten Zeitgenossen der rechtsvergleichenden Zivilistik nicht zu scheuen haben.

 

In Ehrlichs grandios eingreifende Systematik mischen sich bestimmte grundsätzliche Erfahrungs- und Wissensannahmen, welche der Genese von Normen, von Gewohnheiten, Sitten und Anschauungen in Staat, Gesellschaft und Verbänden ebenso verpflichtet sich fühlen wie dem komplexen Kampf der Interessen, der nicht übersehenen Notwendigkeit, diese letztlich auch bei Bewertung und Rechtspolitik einzuschätzen, abzuwägen und im gewachsenen Normenmaterial die Antinomie der Jurisprudenz zu erkennen, die fortwährend Lehre in Normen verwandelnd den Wandel selbst verschleiert (S. 411f.)!

 

Ehrlichs tiefgründige, vielseitig-vielschichtige Rechtssoziologie vermeidet es– trotz nicht zu überlesender impliziter oder expliziter Bezüge zu traditionellen oder abweichenden Lehren und Forschungen – meist direkt Kontroversen auszutragen. In dem Namens- und Sachverzeichnis fällt auf, dass hier die Namen eines Hans Kelsen, Max Weber, Nussbaum, Veblen, Hans Gross, letzterer ein rechtstatsächlich strafrechtlich orientierter Zeitgenosse an der gleichen Universität, im Text nicht aufscheinen. Aber dem Verfasser ging es wohl primär nicht um ein lexikalisches Kompendium oder konfliktive Debatten, sondern um die exakte wie einleuchtende Explikation einer von Grund auf und gänzlich neu konzipierten Rechtssoziologie als solcher.

 

 Wer sich aus heutiger Perspektive den vielschichtigen Aspekten seines Werkes widmet, wird überdies auf eine instruktive Publikation zurückgreifen können, die zum 150. Geburtstag und 90. Todestag Ehrlichs von Heinz Barta/Michael Ganner/Caroline Voithofer (Hrsg.) vorgelegt worden ist (Innsbruck 2013). Mit den damit versammelten, für Rechtsgeschichte, Rechtsdogmatik und Rechtssoziologie - als Teil von erweiterten juristischen, interdisziplinär verstandenen Sozialwissenschaften - bedeutsamen Rückblicken auf teils vergessene, teils verdrängte Aspekte von Rechtswissenschaft, Forschung und Ausbildung (auch im Hinblick auf die hier von Manfred Rehbinder herausgestellten Prioritätsansprüche Ehrlichs als Begründer der Freirechtslehre, der Studien zum lebenden Recht und der soziologischen Rechtstheorie) entfaltet sich hier rechtssoziologische und theoretische Sinngebung mit Neuorientierung zur juristisch-sozialwissenschaftlich grundierten Verhaltenswissenschaft.

 

Die Perspektiven auf in Teilen überholte, aber wissenschaftsgeschichtlich wesentliche Kontroversen mit der aktuellen Rechtsgeschichte, mit ihren Methoden und mit der Konzeptualisierung einer modernen Anforderungen entsprechenden Rechtssoziologie und auf die damalige aktuelle Politik wie die Anschauungen der Zeitgenossen lassen sich durch den wiederum auch von Manfred Rehbinder ermöglichten Blick auf Ehrlichs „Politische Schriften“, Berlin 2007, mit seinem Engagement für die internationale Friedensbewegung erweitern. Dies geschah vor allem in einem Zeitraum, in welchem sein Heimat- und Universitätsort nach Weltkrieg I dergestalt unter russische Besetzung und Einfluss geriet, dass er seine Forschungsstätte verlor und nach Aufenthalten in der Schweiz in das Exil nach Rumänien auszuweichen gezwungen war.

 

Für die teils kritische, teils innovative Rezeption seiner so geistreichen wie innovativen Thesen stehen heute interessanterweise rechtssoziologisch wie systemtheoretisch die partiellen bis weiterführenden Aufnahmen und Diskussionen bei bekannten Systemtheoretikern wie Niklas Luhmann und Gunther Teubner, mag auch Luhmanns partielles, fast beiläufiges Verdikt den Einfluss eher zu minimieren oder gar zu verdecken trachten. Teubners Ansatz klingt hingegen weitaus angemessener produktiv, zeigt er doch die Anschlussfähigkeit von Ehrlichs Basis und Gedankenwelt auf. In diesem Kontext spielen dann ganz im Sinne des Ehrlich'schen „lebenden Rechts“ neue globale Weltrechtsentwicklungen ohne Staat wie die lex mercatoria, die lex sportiva,, die lex digitalis und die lex informatica als in ihrer Genese und Geltung zu beobachtende und zu analysierende „Werkzeuge“ oder Wirkungskräfte eines realen, globalen „Rechtspluralismus“ (den Ehrlich in den Abgründen und Untiefen der Bukovina als ureigenes Forschungsobjekt entdeckt und so systematisch wie exemplarisch studiert hatte) überraschend eine neuartige, noch in ihren Wirkungen und Werten künftig gründlicher zu analysierende Rolle – womöglich sogar bis hinauf zu so luftigen Höhen bei dem vielleicht allzu voluntaristisch-provokanten Diktum eines Lawrence Lessig . „Code is Law“ (dazu z. B.. eindringlich: Walter Fuchs in der zitierten Innsbrucker Edition von 2013, 115ff.,124).

 

In Eugen Ehrlichs „Grundlegung“ kann sich retrospektiv und prospektiv vielleicht sogar ein weiter Raum für Konzept und Abbildung unvollständig bekannter oder unerforschter bis künftig erst in der Entstehung denkbarer realer Systeme öffnen, der weit über tradierte Deutungs- und Interpretationskünste aus dem Zauberwald überkommener Rechtsgelehrsamkeit hinausreicht.

 

Düsseldorf                                                      Albrecht Götz von Olenhusen