Englund, Peter, Momentum. November 1942 –

Wie sich das Schicksal der Welt entschied, aus dem Schwedischen v. Dahmann, Susanne. Rowohlt, Berlin 2022. 671 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER 12 (2022) 71. IT

Zu welchem Zeitpunkt genau und durch welches Ereignis konkret der Zweite Weltkrieg seine entscheidende Wende nahm, ist eine Frage der Interpretation, die unterschiedliche Antworten zulässt. Erst unlängst haben Brendan Simms und Charlie Laderman auf den Dezember 1941 hingewiesen und den japanischen Überfall auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor sowie vor allem die daraus resultierende Kriegserklärung Hitlers an die USA als die Schlüsselereignisse für den weiteren, die Achsenmächte zunehmend in die Defensive drängenden Kriegsverlauf benannt.  Fast ein Jahr später, im Spätherbst des Jahres 1942, begann das Pendel der militärischen Erfolge auf den Schlachtfeldern tatsächlich sichtbar zugunsten der Alliierten auszuschlagen, wenngleich die Achsenmächte längst noch nicht geschlagen waren und der Krieg sich noch weitere zweieinhalb Jahre hinziehen sollte. Folgenreiche Schlachten wie jene von Stalingrad an der Ostfront, von El Alamein in Nordafrika oder auf der Pazifikinsel Guadalcanal, wo die japanische Expansion gestoppt werden konnte, sind ziemlich gute Argumente dafür, die Kriegswende erst hier zu verorten. Unabhängig von der Diskussion um die Chronologie stellt sich für den darstellenden Historiker jedenfalls die ewige Frage, welche Form der Erzählung das Erleben der Zeitgenossen am unmittelbarsten zu erfassen, den „Geist der Zeit“ somit am besten zu rekonstruieren und zu vermitteln und anachronistische Rückprojektionen ex post facto zu vermeiden vermag.

 

Letzteres ist Gegenstand der Historischen Narratologie, die der 1957 geborene Verfasser, der in Uppsala und Stockholm wirkende Schwede Peter Englund, lehrt. Als Kriegsreporter war er zudem vor Ort auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak im Einsatz, 2011 hat er unter dem Titel „Schönheit und Schrecken“ eine Geschichte des Ersten Weltkriegs publiziert, die viel Anerkennung geerntet hat. Diese Erlebnisse haben seinen Blick verstärkt auf das Individuum als Subjekt und Objekt des geschichtlichen Prozesses gelenkt: Erst in der Summe der individuellen Erfahrungen erhält der Nachgeborene eine annäherungsweise Ahnung von dem, was eine Zeit als solche geprägt hat.

 

Wie schon sein oben zitiertes Werk zum Ersten Weltkrieg, präsentiert sich auch die gegenständliche Publikation als „ein Geflecht von Biografien“. Im Zentrum seines Versuches, „sich den Tatsachen auf eine andere Weise zu nähern“, solle „der einzelne Mensch stehen, seine Erlebnisse und – nicht zuletzt – seine Gefühle, all das, was sonst vielleicht in Anmerkungen festgehalten ist oder manchmal als ein Farbklecks im trägen Fluss der großen Erzählung vorüberhuscht, aber meist einfach gar nicht sichtbar ist“. Selbst hinzugefügt habe er den für sich sprechenden „berührenden Schilderungen […] schlicht: nichts“ – ein, wie sich später zeigen wird, deutlich übertriebener Gestus der Bescheidenheit. Zu warnen sei jedenfalls davor, den Ausgang des damaligen Kampfes „zwischen Barbarei und Zivilisation […] als selbstverständlich zu betrachten“, weil dadurch etwas, „was damals eine ungewisse, unvorhersagbare und unüberschaubare menschliche Katastrophe war, in […] ungefährliche Epik“ verwandelt würde: Damit könne „die gefährliche Illusion entstehen, dass sich all das nicht wiederholen wird, und schon gar nicht mit entgegengesetztem Ergebnis“ (S. 8f.).

 

Der Leser erlebt den November 1942 aus den Blickwinkeln von insgesamt 40 männlichen (26) und weiblichen (14) Protagonisten, unter den Männern allein 16 Militärs unterschiedlichen Ranges der regulären deutschen, italienischen, japanischen, finnischen, britischen, amerikanischen, australischen und russischen Streitkräfte. Dazu tritt eine breite Palette von Menschen aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, die ein Spektrum von der einfachen Hausfrau über die Studentin bis zur Hochschuldozentin und zur Naturwissenschaftlerin im amerikanischen Atomprogramm, von Journalisten und Schriftstellern über Flüchtlinge und Partisanen bis zum Gefangenen im Vernichtungslager Treblinka und zur Zwangsprostituierten in einem Bordell für japanische Soldaten abdeckt. Prominenz wie der Schriftsteller Albert Camus, der Offizier und Literat Ernst Jünger sowie Sophie Scholl, eine Ikone des deutschen Widerstandes gegen das nationalsozialistische Regime, steht neben weitgehend Unbekannten, gemeinsam ist allen, dass sie schriftliche Zeugnisse ihres Lebens hinterlassen haben. Geographisch spannt sich der Bogen ihres Erlebens nahezu über den gesamten Erdball, von Chicago bis zum Korallenmeer, vom Eismeer bis nach Nordafrika, was zwei doppelseitige Karten, in welche die Namen der Akteure an den Stätten ihres Wirkens eingetragen sind, auch visuell gut vermitteln.

 

Beim Studieren der Texte wird sofort augenfällig, dass die vorhin zitierte Behauptung des Verfassers, er füge den Stimmen seiner Zeitzeugen nichts hinzu, in dieser rigiden Weise keineswegs zutreffend ist, denn das würde bedeuten, deren Berichte einfach im Wortlaut unkommentiert zu präsentieren. Peter Englund stellt hingegen wie ein Romancier die Protagonisten in ihre jeweiligen Kontexte, welche er mit dem Fachwissen des Historikers, aber auch mit viel literarischem Gespür und Feingefühl bildhaft und stimmungsvoll zeichnet. Als auktorialer Erzähler kommentiert er, stellt Mutmaßungen und philosophische Überlegungen an. Die authentischen Aussagen der Akteure fließen dann gleichsam nur zum Zweck der dokumentarischen Bestätigung der umrissenen Szenerie als gelegentliche Zitate in die vielfältigen Erzählungen ein. Diese Art der Geschichtsdarstellung rückt eng an das Genre des historischen Romans heran.

 

Der rote Faden, der die in den epischen Miniaturen plastisch werdenden einzelnen Schicksale verbindet, ist die Frage nach dem Wesen des Krieges, das gekennzeichnet ist durch Unübersichtlichkeit, Unberechenbarkeit und Brutalität und das dem Individuum seinen existentiellen Halt nimmt. In der ersten Episode verfolgt die nach Shanghai geflohene Familie der zwölfjährigen Ursula Blomberg im Spätherbst 1942 auf selbst gebastelten Lagekarten den deprimierenden Kriegsverlauf, der gekennzeichnet ist von der Ausweitung des von den Achsenmächten beherrschten Gebietes: „Wir hatten Angst. War es für ein so winziges Land wie Japan oder Deutschland […] möglich, einen Krieg gegen die gesamte westliche Welt zu gewinnen? Inklusive Amerika?“ (S. 24). Ganz am Ende des Buches schwenkt die Kamera ein letztes Mal nach Shanghai, wo nun Ende November auf den Karten der Flüchtlinge „die Gebiete, die von Japan und Deutschland kontrolliert werden, kleiner geworden (sind) – nicht dramatisch kleiner, aber trotzdem“, sodass man „etwas aufatmen“ konnte (S. 570f.). Es gab somit weiterhin weder Gewissheit noch Sicherheit für die Bedrohten, bestenfalls ein Quäntchen mehr an Hoffnung.

 

Die Irrationalität des Krieges trifft am unmittelbarsten die Soldaten an der Front. Die Australier sind auf Neuguinea konfrontiert mit „totaler Verwirrung, Nahkämpfen und Furcht vor Feinden, die man fast nie sieht“, mit „Kommandeuren, die zweifeln, etwas missverstehen, miteinander streiten oder unmögliche Befehle ausführen“ und stets auch mit „zufälligem Tod, so wie der Tod auf dem Schlachtfeld für die meisten kommt“ (S. 91). Zwei Bataillone eines amerikanischen Regiments beschießen einander versehentlich auf einem unüberlegt befohlenen „Nachtmarsch im Blindflug“ (S. 126f.). Der einzelne Mensch ist den Verhältnissen ausgeliefert. „Nichts von alldem hat sie bejaht oder gesucht. Alles hat vielmehr sie gesucht, heimgesucht“, heißt es über Elena Skrjabina, Flüchtling aus Leningrad, die trotz ihres Bemühens, sich unauffällig und unpolitisch zu verhalten, sich seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt sieht (S. 82). Der italienische Bauernsohn und Soldat Vittorio Vallicella ist „einer von Millionen, die sich nicht für den Krieg interessierten, aber feststellen mussten, dass sich der Krieg für sie interessiert“ (S. 108). Folgende Zeilen bringen das Dilemma des Einzelwesens am treffendsten auf den Punkt: „Die Organisationen – Armeen, Flotten, Luftstreitkräfte –, die diesen Krieg ausfechten, können als riesenhafte Maschinen betrachtet werden, zusammengesetzt aus einer fast unendlichen Anzahl beweglicher und synchron arbeitender Teile, deren kleinstes, anonymstes, austauschbarstes der Mensch ist. Das Individuum ist die ganze Zeit der unpersönlichen, blinden Kraft der großen Maschine untergeordnet. Außerhalb von ihr ist es nichts, und aufgrund seiner Austauschbarkeit ist es im Grunde auch in ihr nichts. Diese zutiefst demoralisierende Erkenntnis ereilt sie alle irgendwann“ (S. 318).

 

Zahlreiche Passagen lassen die brutale Inhumanität des Krieges und seine erschreckenden Begleiterscheinungen klar hervortreten. Der amerikanische Infanteriefähnrich Charles Walker erinnert den „Anblick dieses japanischen Offiziers, der ungefähr fünf Meter entfernt lag und dem mit einem schweren Maschinengewehr Leuchtspurmunition ins Gesäß geschossen worden war, die dann Feuer fing, woraufhin sein Körper langsam zu etwas verbrannte, das grauer Zigarettenasche glich“ (S. 75). Ebenso genau beobachtet der jüdische Häftling Jechiel „Chil“ Rajchman, der sich, um im Vernichtungslager Treblinka zu überleben, zum „Dentistenkommando“ (dieses hatte auf  Befehl der SS Metalle aus den Gebissen der Ermordeten herauszubrechen, zu sortieren und abzuliefern) meldet, seine Wirkungsstätte in jedem Detail: „Der Holzschuppen grenzt an die ältere, kleinere Gaskammer an. […] Durch zwei kleine Fenster fällt Licht, und Rajchman kann dahinter einige der vielen hohen Kiefern erkennen, die innerhalb und außerhalb des Lagers wachsen. (Zwischen den Kiefern sind auch viele braun verwelkte Lupinen zu erkennen.) Und er kann das große Gaskammergebäude sehen, das auch ganz nah ist. Natürlich hören sie jedes Mal, wenn eine Vergasung stattfindet, die Schreie. […] Sie sitzen ganz eng. Während sie darauf warten, dass der nächste Transport ‚abgefertigt‘ wird, gehen sie Haufen von gezogenen Zähnen und Zahnkronen durch – manche noch blutig und mit Fetzen von Zahnfleisch – und sortieren alles von Wert aus“ (S. 100). In der von Hungersnöten heimgesuchten, japanisch besetzten chinesischen Provinz Henan tut sich im Dorf Duanzhang „ein kleiner Mann […] mit zwei anderen zusammen“, gemeinsam ermorden sie einen Bettler. „Sie kochen bestimmte Teile der Leiche und essen sie. Nach und nach machen sie ein System daraus: Sie locken Hungerflüchtlinge an, ermorden sie und essen sie auf“ (S. 277). Ein vergleichbares Schicksal ist offenbar australischen Soldaten in Neuguinea widerfahren, auf deren Überreste Kameraden gestoßen sind: „Den Leichen fehlten die Arme, und man hatte ihnen große Stücke Fleisch aus Oberschenkeln und Waden herausgeschnitten – Fleisch, das sie später in Laub gewickelt in der Nähe fanden. Das bestätigt die Gerüchte, nach denen die Japaner hungern und in ihrer Verzweiflung zu Kannibalen geworden sind“ (S. 365).

 

Zu den Paradoxien des Krieges gehört es, dass unmittelbar neben derartigen Abgründen das Leben anderer gleichsam ohne Einschränkungen ungestört weiterläuft. Der britische Panzerleutnant Keith Douglas macht im ägyptischen Alexandria die Beobachtung, „dass während der ganzen Zeit, während Menschen zu Tausenden getötet oder verwundet oder in ihren Panzern eingesperrt bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, nur ungefähr hundert Kilometer weiter andere unter bunten Sonnenschirmen lagen und Eis aßen oder in den phänomenalen Wellen von Stanley Bay herumtollten“, und zieht den Schluss: „Das also geschieht, wenn du stirbst: nichts. Alles andere geht genau wie immer weiter“ (S. 374). In einer hoch poetischen Sprache schildert der Verfasser eine Badeszene von ausgezehrten und von Krankheiten geplagten Soldaten auf Guadalcanal und veranschaulicht daran die Sehnsucht und das existentielle Bedürfnis des Menschen nach Unbeschwertheit: „Nackt steigen sie in das klare, flache, schnell strömende Wasser. Der Boden ist steinig. Sie ahnen es noch nicht, aber das Leben ist so grausam und die Erinnerung so dehnbar, dass diejenigen, die diesen Monat und diese Jahre überleben, als alte Männer in dieser Zeit verharren und sich vielleicht sogar dorthin zurücksehnen werden, nicht zuletzt zu Momenten wie diesen, fast archetypisch in ihrer Sorglosigkeit, im Spiel und der wiedergewonnenen jugendlichen Unsterblichkeit unter einem blauen Himmel und ewigen, ständig veränderlichen Wolken“ (S. 372). An anderen Stellen geht es um das Dilemma des mit der Bedrohung der Freiheit unmittelbar konfrontierten Pazifismus („Was ist schlimmer? Ein weiterer Krieg oder der Sieg des Nationalsozialismus?“, S. 555) oder tiefgründig um die Liebe („Liebe ist nichts, das man sich verdient, sondern eine Gnade, der man sich öffnen muss, um sie entgegenzunehmen“, S. 76).

 

Diese wenigen Ausführungen mögen genügen, dem Interessenten ein Bild von dem zu vermitteln, was die gegenständliche, mit insgesamt drei Tafelteilen ausreichend und treffend illustrierte Publikation zu bieten hat. Ihr kaleidoskopischer Charakter sorgt mit dem ständigen Wechsel der Schauplätze und Akteure für Abwechslung und verlangt eine gewisse Geschmeidigkeit des Denkens. Im letzten Abschnitt erfährt der Leser auch, welcher weitere Lebensweg den einzelnen Protagonisten nach 1942 beschieden war. Obwohl in dem Buch zeitlich nur ein kleiner Ausschnitt des Zweiten Weltkrieges untersucht wird, ist die grundsätzliche Gültigkeit der Aussagen nicht auf diese Epoche beschränkt. Den vielen fruchtbaren Bausteinen und Denkanstößen zur Erkenntnis des fundamentalen Charakters von Krieg und Gewalt und der Position des einzelnen Menschen in diesem System kommt in Anbetracht der derzeitigen Vorgänge in der Ukraine zusätzlich eine besondere Aktualität zu. Zu überschießender Kritik neigende Rezensenten mögen sich darüber hinaus die Mahnung Albert Camus‘ zu Herzen nehmen, der einst festhielt: „Es dauert drei Jahre, ein Buch zu schreiben, fünf Zeilen, es mit verdrehten Zitaten lächerlich zu machen“ (S. 116).

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic