Buttlar, Horst von, Das grüne Jahrzehnt.
Wird es der Menschheit gelingen, bis 2050 den Ausstoß klimaschädlicher Gase so zu reduzieren, dass die Erderwärmung deutlich unter zwei Grad Celsius bleibt? Wohl niemand kann diese Frage in ihrer Pauschalität heute seriös beantworten. Mehr Sinn macht es hingegen, auf die Schritte zu blicken, die bereits in diese Richtung gegangen worden sind, und wie sich diese Bemühungen in statistischen Auswertungen abbilden. Wo liegen die Hebel, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, wer ist gefordert?
Der mehrfach ausgezeichnete Wirtschaftsjournalist Horst von Buttlar, unter anderem Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins „Capital“, will sich nicht von apokalyptischen Visionen ins Bockshorn jagen lassen. Folgt man seinen mit aussagekräftigen Schaubildern unterfütterten Ausführungen, stehen die Technologien und politischen Instrumente, die für die bis 2030 umzusetzenden Weichenstellungen erforderlich sind, bereits heute zur Verfügung. Zwar zielten das Pariser Klimaabkommen und die Selbstverpflichtung der Europäischen Union auf den weiteren Zeithorizont bis 2050 ab, doch müsse vor allem im gegenwärtigen „grünen Jahrzehnt“, auf das auch die meisten konkreten Programme angelegt seien und von dem mittlerweile bereits mehr als drei Jahre verstrichen sind, „etwas passieren. Wenn man danach anfängt, ist es zu spät“ (S. 19). Sein auf zehn Kapitel verteiltes Buch beruht nach eigener Aussage „auf zahlreichen Interviews und Gesprächen mit Gründern, Unternehmerinnen, Forschern, Expertinnen und Pionieren, die sich alle Zeit genommen haben, ihre Perspektive zu schildern und […] Einblick in ihre Ideen und Unternehmen gewährt haben“ (S. 304).
Im Rückblick habe Deutschland in der Dekade seit 2010 trotz der Krisen einen Boom des Wohlstands erlebt und sich so ein beruhigendes Polster für die zukünftigen Herausforderungen erwirtschaftet, doch nun müsse kräftiger in die unumgänglichen Veränderungen investiert werden, man müsse lernen, „Töpfe planvoll zu leeren und nicht nur zu füllen“ (S. 32). Eine große Hypothek für das Land sei das Faktum, dass man „die einzige große Industrienation“ sei, „die parallel aus Kernkraft und Kohle aussteigt“ und nun vorübergehend massiv auf den fossilen Brennstoff Gas angewiesen ist, doch sei aufgrund der Geopolitik (Stichwort Russlands Einmarsch in die Ukraine) „diese Gasbrücke faktisch zusammengebrochen“ (S. 40). Die Eindämmung des Klimawandels sei, wiewohl eine globale Aufgabe, zudem „an regional unterschiedliche historische Verantwortung und regional verschiedene Voraussetzungen geknüpft“, die Lösung liege „in einem Mix aus weltweiten Systemen mit CO₂-Preisen und -Zöllen, europäischen Lösungen wie dem Emissionshandel und in nationalen Investitions- und Umbauplänen. Konkret und anschaulich wird der Kampf gegen den Klimawandel aber in Projekten vor Ort, wo Menschen nach Lösungen suchen, in einer Rolle irgendwo zwischen Kundschafter und Pionier“ (S. 50f.).
Das notwendige Investitionsvolumen für den vom Verfasser so bezeichneten „Giga Green New Deal“ wird gemeinhin mit der gewaltigen Summe von weltweit etwa vier Billionen Dollar pro Jahr bis 2030 beziffert, dem Dreifachen des aktuellen Werts. Die Entwicklung und die Umsetzung individueller Nachhaltigkeitsstrategien, die nicht reversibel seien, weil sie „wie ein grüner Filter über der Gesamtstrategie“ säßen, und die Bereitstellung erneuerbarer Energien durch Staat und Gesellschaft in hinreichender Menge würden zukünftig für Unternehmen wahrscheinlich zu einer Frage von Sein oder Nicht-Sein werden. Diese seien zunehmend auch mit gerichtlichen Klagen vom Klimawandel Betroffener konfrontiert, „in Deutschland gab es im April 2021 das revolutionäre Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, in dem dieses ein ‚Recht auf Zukunft‘ deklarierte, wonach nachfolgende Generationen gleiche Rechte hätten wie heutige, weshalb die Regierung ihre Klimaschutzanstrengungen verschärfen müsse. […] Der fulminante Beschluss […] hat letzte Zweifel daran beseitigt, dass auch die Gerichte bei der Rettung der Welt ein wichtiges Wort mitzureden haben. […] ‚Climate Change Litigation Database‘ […], eine Datenbank für alle Klimaklagen, kam Ende 2021 auf über 60 Klagen gegen Unternehmen, die außerhalb der USA eingereicht wurden“. Für die betroffenen Konzerne könnten solche Prozesse „unheimlich reputationsschädigend wirken“ (S. 141f.).
Auch auf dem Finanzmarkt werde man „in Zukunft verstärkt auf diese Klimarisiken schauen, so wie man sich anschaut, wie gut ein Geschäftsmodell eines Unternehmens ist, wie teuer oder billig es produziert, wie innovativ es ist, wie schnell es wächst, wie hoch die Marge ist, in welchen Ländern es aktiv ist und wie hoch die Dividende ausfällt. Wer nicht gegensteuert, gerät irgendwann in Schwierigkeiten“ und laufe Gefahr, in die „Klimapleite“ zu schlittern (S. 166f.). Die Aufdeckung von Greenwashing-Skandalen zeige, dass auch die Finanzmärkte trotz noch inhomogener Nachhaltigkeitsrankings (man denke an die Taxonomieverordnung der Europäischen Union, welche die Atomkraft auf Betreiben Frankreichs und Gas auf Betreiben Deutschlands als „grün“ deklariert, ein politischer Deal, gegen den Österreich mittlerweile eine Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht hat) bereits auf einem guten Weg zu mehr Transparenz seien. Die Banken würden „umschwenken, je mehr der ‚grüne‘ Markt wächst. Auch, weil sie unter Druck gesetzt werden – von Regierungen, Behörden und immer öfter auch von ihren Aktionären – , und […] weil sie hier Geld verdienen können“ (S. 198).
Da der Umbau zur Klimaneutralität „alle Volkswirtschaften auf der Welt“ betreffe, seien Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt sehr wahrscheinlich, denn man stehe „vor dem größten Trainings- und Umschulungsprogramm seit der industriellen Revolution“. Es sei zu bezweifeln, dass „diese Millionen Jobs, die verschwinden, und die Millionen, die neu entstehen, dies wirklich in einem geschmeidigen Prozess tun werden“ (S. 184). Die Ansprüche, die der Verfasser an die Leistungsfähigkeit zukünftiger Unternehmen stellt, sind ambitioniert: Angesichts der anstehenden Herausforderungen „brauchen wir hundert Mal, wenn nicht tausend Mal Biontech – kleine und große Innovationen, die eine Menschheitsaufgabe lösen, und das am besten in hoher Geschwindigkeit. […] Wirklich wichtig, ja existenziell sind Unternehmen, die Lösungen […] entwickeln: dass wir sauberer und billiger Energie erzeugen, dass wir besser und länger Energie speichern können, dass wir weniger Fleisch essen und dass Wasserstoff so einfach und nutzbar ist wie Wasser. […] Die Taktgeber der Zukunft sind Firmen wie Biontech und Tesla“ (S. 214). Überwiegend im siebenten Kapitel des Buches „Die grüne Gründerzeit“, aber keineswegs ausschließlich dort, werden Unternehmen präsentiert, die schon mehr oder weniger erfolgreich Innovationen auf den Weg gebracht haben, wie Northvolt in der Batteriefertigung, Ubitricity bei Ausbau der Ladeinfrastruktur, Alnaturas „Bio-Bauern-Initiative“ oder Climeworks mit Anlagen zu dem Einfangen und Speichern von CO₂ aus der Luft. Auch in der etablierten deutschen Industrie sei notgedrungen mittlerweile manches in Bewegung geraten, von der Automobilbranche über den Stahlkonzern Thyssenkrupp bis hin zum Chemieriesen BASF.
Der Politik komme die schwierige Aufgabe zu, „alle Menschen für einen verdammt langen Zeitraum auf ein Ziel ein(zu)stimmen“, und dabei „auf neue Art Vertrauen (zu) vermitteln sowie Resilienz und Stehvermögen (zu) stärken“ (S. 262ff.). Am Ende werde aber „der Mix aus Anreizen, Regulierungen und Verboten nur dann durchzuhalten sein, wenn jeder von uns aus eigenem Antrieb, intrinsisch motiviert, sein Verhalten anpasst“ (S. 278). Seine Recherchen lassen den Verfasser am Ende optimistisch (und in Anbetracht der gegenwärtig schwierigen Lage vielleicht etwas zu euphorisch) zurück: „Wir stehen nicht ratlos auf diesem Weg und mitnichten am Anfang. Wir laufen bereits, wir handeln bereits, wir reduzieren bereits, wir erfinden bereits, wir bauen auf und aus, und es ist fantastisch zu erleben, was im ewig vibrierenden Maschinenraum der Wirtschaft alles entstehen kann“ (S. 303).
Es ist diese wohltuend konstruktive Wahrnehmung der Lage, welche den zwingend notwendigen Wandel auch als eine Chance begreift, die Horst von Buttlars sachkundige und wohlüberlegte Ausführungen so lesenswert macht. Von pessimistischer Untergangsstimmung ebenso weit entfernt wie von jeder Art von blauäugigem Zweckoptimismus, lässt er keinen Zweifel daran, dass die gestellten Aufgaben unsere gebündelte Kraft auf allen Ebenen erfordern und dass Idealismus nicht ausreichen wird, uns bei der Bewältigung des Klimawandels voranzubringen, wenn man die spezifischen Mechanismen der gesellschaftlichen Subsysteme außen vor lässt. Unterschiedliche Akteure müssen in dem gemeinsamen Ziel ihre Interessen gleichsam natürlich wiederfinden und könnten dann die unvermeidbaren Reibungsverluste weitgehend kompensieren. Mutige Investitionen und durch Entbürokratisierung beschleunigte Verfahren müssen jenes vielfältige Potenzial an innovativen Ansätzen und kreativen Ideen aktivieren, das der Wettbewerb hervorbringt und das uns erst in die Lage versetzt, die großen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, mit Aussicht auf Erfolg zu bewältigen. Nicht von ungefähr hat der Verfasser sein Buch seinen drei Kindern und deren Generation gewidmet, auf dass sie nicht die letzte sein möge. Die hoffnungsvolle Botschaft lautet: Wir haben die Mittel und wir brauchen den Willen. Wenn wir noch in diesem Jahrzehnt wirklich unser Bestes geben, können wir es (vermutlich) schaffen.
Kapfenberg Werner Augustinovic