Rassismus. Von der frühen Bundesrepublik bis zur Gegenwart,

, hg. v. Vukadinović, Vojin Saša. De Gruyter, Berlin 2023. 630 S. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER IT 13 (2023). 84. iT

Das Spektrum der mit dem Begriff des Rassismus einhergehenden gesellschaftlichen Problemlagen weist eine Bandbreite auf, die vom abwertenden sprachlichen Code bis zum vollzogenen Kapitalverbrechen reicht. Dementsprechend bietet der Terminus eine breite Anschlussfähigkeit, welche die Gefahr der Trivialisierung und analytischer Fehlleistungen einschließt. Schon in der Einleitung des vorliegenden Sammelbandes weist sein Herausgeber, der an der Freien Universität Berlin promovierte Historiker Vojin Saša Vukadinović, mit Recht auf derlei Irrwege hin (, wenn beispielsweise von „Geschlechterrassismus“ die Rede ist, um misogyne oder antifeministische Haltungen und Handlungen zu charakterisieren), unterlässt es aber unverständlicher Weise, dem Leser eine präzise Arbeitsdefinition von Rassismus an die Hand zu geben. Erschließt man eine solche aus dem Inhalt der folgenden Beiträge, so handelt es sich bei Rassismus im weiteren Sinne um an ethnischen (biologischen wie biologisiert-kulturellen) Merkmalen anknüpfende, pauschalierend behauptete (Vor-)Urteile zum Zweck der Rechtfertigung von die Menschenrechte verletzenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen und der funktional motivierten Spaltung der Gesellschaft in ein Wir und die Anderen. Des Weiteren postuliert der Herausgeber: „Antisemitismus und Rassismus sind […] grundverschiedene Phänomene. Diese Unterscheidung […] ist […] wichtig, weil der akademische wie der aktivistische Antirassismus des 21. Jahrhunderts immer öfters und zunehmend aggressiv auf antisemitische Propaganda setzt. Hierbei handelt es sich um eines von vielen Indizien dafür, dass die Erinnerung an die Shoah in Deutschland […] weniger von konsequenter Aufarbeitung, als vielmehr von Verdrängung geprägt ist“ (S. 60). Doch überzeugt diese strikte terminologische Trennung? Sind die beiden Phänomene wirklich „grundverschieden“, nur weil bestimmte Antirassisten in einem speziellen Kontext antisemitisch argumentieren? Und wo ist dann der Rassenantisemitismus zu verorten?

 

Ein kurzer chronologischer „Abriss der (bundes-)deutschen Rassismusgeschichte nach 1945“, beginnend mit der bedingungslosen Kapitulation des „Dritten Reichs“ am 8. Mai 1945 und abschließend mit dem Jahr 2006, vermerkt in loser Folge Wegmarken und präsente wie weniger wahrgenommene, für das Thema Rassismus relevante Vorkommnisse, darunter die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, die Genfer Flüchtlingskonvention, die Anwerbeabkommen und den Anwerbestopp für „Gastarbeiter“, die Formierung extremistischer Gruppierungen und Parteien, Publikationen, linksterroristische und rechtsterroristische Verbrechen, Debatten und rechtliche Initiativen. Die vergangenen 70 Jahre würden offenbaren, „dass nicht von einer rassistischen Kontinuität in Deutschland ausgegangen werden kann, wiewohl Rassismus kontinuierlich zur deutschen Nachkriegsgeschichte gehörte. Seine Konjunkturen, Verschiebungen und Anpassungsleistungen verdeutlichen, wie beständig sich das Phänomen […] in der hiesigen Gesellschaft halten konnte und dass es in unregelmäßigen Abständen und in unterschiedlichem Ausmaß von deren Rändern auf ihre Mitte rückwirkt – und umgekehrt“. Die nachfolgenden, in sechs Sektionen (Kontinuitäten von NS-Rassisten; 1968; 1970er; 1980er; 1990er; 21. Jahrhundert) zu jeweils zwei bis vier Papieren gegliederten 19 Beiträge würden „nicht den Anspruch auf Systematik“ erheben und verständen sich eher als „Probebohrungen in Sedimente, die mitunter noch nicht einmal als Problemfelder wahrgenommen worden sind“ (S. 60f.).

 

Der Band porträtiert zunächst drei Persönlichkeiten, deren rassistisches Engagement im nationalsozialistischen Staat mit entsprechenden Adaptionen in der Bundesrepublik fortgewirkt habe: die Biologin Karin Magnussen, die am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin-Dahlem unter anderem an Augen einer eigens zu diesem Zweck in Auschwitz ermordeten Roma-Familie aus Oldenburg forschte (Vojin Saša Vukadinović), die beim Rassentheoretiker Ludwig Ferdinand Clauß promovierte und in mehreren NS-Institutionen – darunter das Ahnenerbe der SS – engagierte Religionswissenschaftlerin Sigrid Hunke (Marco Ebert) und der als „Kronjurist“ und Legitimator der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geltende Staatsrechtler Carl Schmitt (Panagiotis Koulaxidis). Vor „Magnussens Verbrechen“, die 1982 die Resultate ihrer Menschenforschung noch einmal schriftlich modifizierte und ihr „Material“, die konservierten Augen der Ermordeten, bis ins hohe Alter privat aufbewahrt haben soll, „verschlossen später die bundesdeutsche Wissenschaft, der Kulturbetrieb und die Öffentlichkeit die Augen, die von diesem Beitrag zum rassistischen Massenmord und zum antisemitischen Vernichtungsprogramm noch weniger wissen wollten als von dem, was die männlichen Beteiligten verantwortet hatten“ (S. 115). An Hunkes zentralen Nachkriegsschriften, „Allahs Sonne über dem Abendland“ (1963) und „Das nach-kommunistische Manifest“ (1974), lasse sich „der Übergang vom Rassismus der Rassentheorien zum kulturellen Rassismus nachvollziehen“ (S. 123), sie selbst sei „keine Ewiggestrige, […] sondern der Beleg für die Anpassungsfähigkeit und Modernität des Nationalsozialismus“ (S. 141). Ihr „hochdynamisch(er)“ Unitarismus verstehe „die Freiheit des Menschen, die in der Freiheit zur Tat besteht, […] lediglich in der selbst vollzogenen Unterwerfung unter die göttliche Trias des Unbedingten (Anlage, Gemeinschaft, Geschichte)“ (S. 133). In der Tradition dieses eigenartigen Verständnisses von „Handlungsfreiheit“ stünden dann Überlegungen wie der abwegige Schluss der gefeierten Literaturwissenschaftlerin Judith Butler, „dass afghanische Frauen hinter und durch ihre Burka ihre spezifische weibliche Handlungsfähigkeit ausüben könnten. Die totale Homogenisierung der zur Passivität verurteilten weiblichen Individuen durch ihre Vollverhüllung soll als Ausdruck ihrer Handlungsfähigkeit und Wirkmacht gelten“ (S. 141). Das Unheil, das mit dem Namen Carl Schmitt einhergehe, entspringe vor allem dessen „Konzept der Identitätspolitik“, dem zufolge „Politik wesentlich im Unterscheiden zwischen Freunden und Feinden (bestünde), das heißt in einer Politisierung sozialer Differenzen“ (S. 156). Schmitts „frühe Etablierung in konservativen Kreisen und Netzwerken, denen seine erfolgreiche [ ] Enttabuisierung und Rezeption geschuldet war, zeigt seinen nahtlosen Übergang in die Intellektuellenwelt der Bundesrepublik auf. Seine zentralen Begriffsbildungen verliehen und verleihen denjenigen Stimmen theoretische und praktische Konjunktur, die zur unbedingten Verwerfung gesellschaftlicher Pluralität aufrufen und, politisch betrachtet, nur dann zu gemeinsamen Handlungen fähig sind, wenn sie andere Lebensformen zum Volks- oder Rassefeind erklären“ (S. 160f.).

 

So nicht zu erwartende „Errungenschaften“ der 1968er-Bewegung referieren zwei Beiträge. Ein erster (Polina Kiourtidis) expliziert, wie damals die Linke, deren Fokus in der Gegenwart auf der Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus liege, „im antirassistischen Kampf […] Antisemitismus in Form von Antizionismus“ (S. 167) produziert habe. Durch die „manichäische Sortierung des Weltgeschehens aus einer antiimperialistischen Perspektive in Gut und Böse“ wurde Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 unter Ausklammerung der existentiellen Sicherheitsbedürfnisse des jüdischen Staates im arabischen Umfeld für die Neue Linke „als imperialistisch wahrgenommener Staat auf der zu bekämpfenden Seite und das ‚unterdrückte‘ palästinensische Volk auf der zu befreienden Seite verortet. […] Die damalige Rede vom angeblich rassistisch verfassten jüdischen Staat, der gewaltsamen Vertreibung des palästinensischen Volkes und die einseitige Verurteilung Israels als alleinigem Aggressor lebten beharrlich fort, um Israel moralisch zu delegitimieren und politisch anzufeinden“ (S. 184f.). Der zweite Aufsatz dieser Gruppe (Ali Tonguç Ertuğrul, Sabri Deniz Martin, Vojin Saša Vukadinović) thematisiert die patriarchale Abschottung migrantischer Mädchen in der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinde, die 2014 in der Ermordung der 19jährigen Lareeb Khan durch ihre Eltern gipfelte, und kritisiert, wie „vormalige 68er“ und Islam-Konvertiten wie Paul-Gerhard Hadayatullah Hübsch und Uwe Abdullah Wagishauser „in ihrer rebellischen Selbstfindungsphase autoritäre Ehrvorstellungen und Normen migrantischer Glaubensgemeinschaften übernahmen – um alsbald in diesen aufzusteigen und dort als moralische Instanzen zu wirken“ (S. 191f.). Es lasse sich eindeutig zeigen, „wie Hübsch mittels seines vermeintlichen Dialogwunschs erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit im Dienste misogyner Sittenstrenge leistete sowie Kontakte ins rechte Lager knüpfte – und wie der Ahmadiyya-Islam in der alten Bundesrepublik trotz archaischer Grundierung erst unter einen multikulturellen und später unter einen gendertheoretischen Schutzmantel gepackt wurde“ (S. 193).

 

In den 1970er Jahren traten, wie ein weiterer Beitrag (Armin Pfahl-Traughber) ausführt, im deutschen Rechtsextremismus sogenannte nationalrevolutionäre Gruppen auf, die einen vorgeblich nicht qualitativ wertenden „Ethnopluralismus“ propagierten, „der im Selbstverständnis auf die Vielfalt der Völker abstellt“. Bei näherer Betrachtung aus humanistischer Denkperspektive gehe dieser aber „weder auf die Individualität von Menschen noch auf deren Universalität ein“ (S. 228). Neuere Bestrebungen, wie „die Alternative für Deutschland (AfD), die ‚Identitären‘ und die Neue Rechte“, würden sich eher an diesem „Ethnopluralismus“ orientieren, während traditionelle Protagonisten der rechten Szene, wie „die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die Neonazis und die Völkischen“, mehr dem klassischen „Rassegedanken“ anhingen. Differenzen bestünden allerdings ohnehin „mehr in der äußeren Form, weniger im eigentlichen Inhalt“ (S. 235f.). Eine Untersuchung des ebenfalls in das siebte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fallenden, frühen Second-Wave-Feminismus durch eine seiner Protagonistinnen (Barbara Holland-Cunz) zeigt auf, dass dieser schon damals die Theorieverbindungen von Sexismus und Rassismus eingehend beleuchtet habe, wobei diese „feministische Gesellschaftstheorie von Anfang an Rassismus als zentrales Element patriarchaler Herrschaft einbezieht und brandmarkt“. Als Beleg werden Schriften Karin Schrader-Kleberts, Kate Milletts, Betty Friedans und Shulamith Firestones herangezogen. Es sei daher unrichtig und unlauter, wenn nun der geschichtsvergessene „pseudofeministische Mainstream der Gegenwart“ [gemeint sind die sogenannten Gender Studies; W. A.] dieses Verdienst „ausschließlich für sich selbst“ reklamiere (S. 263).

 

An die Selbstverbrennung der aus der Türkei stammenden, jungen Lyrikerin Semra Ertan im Jahr 1982 anknüpfend, beschäftigt sich ein weiterer Verfasser (Moritz Pitscheider) mit der Lage oder besser: Ausbeutung der sogenannten „Gastarbeiter“ in der alten Bundesrepublik. Er benennt unter anderem Benachteiligungen wie einen niedrigeren Lohn für harte Arbeit, eine menschenunwürdige Wohnsituation, die grundrechtsverletzende Kontrolle am Wohnort, faktischen Arbeitszwang durch eine rechtliche Arbeitsplatzbindung, ein unsicheres Aufenthaltsrecht, die Ablehnung durch deutsche Kollegen und die mangelnde Solidarität der einheimischen Gewerkschaften im Arbeitskampf. Als Arbeiter und Migranten wurde „ihre miese soziale Lage durch die rassistische Segmentierung des Arbeitsmarktes verstärkt“, ebenso durch das marktwirtschaftliche Konkurrenzprinzip. „Die Beobachtung, dass ‚der Rassismus […] materiell fundiert‘ war und nicht durch einfältige Klischees, die durch hartnäckige Werbung für eine Multikulti-Gesellschaft schon verschwinden würden, […] ist […] keineswegs eine neue Feststellung“ (S. 286), und „mit millionenschweren Weltoffenheitskampagnen“ sei in Wahrheit „weder einheimischen noch migrantischen Arbeitern geholfen“ (S. 288). Ein anderer Aufsatz (Fernando Wawerek) zeigt die Defizite der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismus-Forschung jener Jahre auf, die „vor allem auch in den sozialen und kulturellen Voraussetzungen zu sehen (sind), die die Forschenden einbrachten“ (S. 314). Ihre Arbeiten spiegelten, indem sie Rechtsextremismus zum gesellschaftlichen Randphänomen degradierten, „all diejenigen Verdrängungsleistungen wider, die den Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit dem Rechtsextremismus ebenso kennzeichneten wie auch die Erinnerungskultur der alten Bundesrepublik“ (S. 317). Die Kernprobleme bestünden heute noch: „Die Auseinandersetzung wird abgeschieden vom Subjekt und von dessen psychologischen und sozialen Entstehungsbedingungen geführt – übrig bleiben Abstrakta wie ‚Diskurse‘ oder ‚Strukturen‘. In das Zentrum von Analysen werden Äußerungsformen gestellt, die als politische, wissenschaftliche oder massenmediale Produkte vielen Menschen gar nicht zur Verfügung stehen und nur den Bereich sprachlich-symbolischer Repräsentation berühren“ (S. 319). Hellsichtige universalistische Kritik an einem allzu blauäugigen Verständnis von Multikulturalismus, die bezeichnender Weise damals wie heute „äußerst unpopulär war und noch immer ist“ (S. 336), formulierte wiederum bereits 1989 der Sozialforscher und Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt, Gegenstand der Abhandlung „Melting Pot statt Stammesverbände“ (Lukas Sarvari). Pohrts gegen Daniel Cohn-Bendits islamische Glaubensgemeinschaften einseitig bevorzugende amtliche Aktivitäten gerichtetes „Plädoyer für eine Anerkennung der Ausländer als Einwanderer – und demnach der Anerkennung Deutschland[s] als Einwanderungsland – zielte in der Konsequenz auf den Verzicht jedweder Andersbehandlung, womit rechtliche Benachteiligungen ebenso ausgeschlossen sein mussten wie die partielle Begünstigung kultureller Gruppen durch den Staat“ (S. 334f.). Als Teil der Vernetzungen der extremen Rechten zwischen den USA und Westdeutschland untersucht ein Beitrag die bundesdeutsche Präsenz des Ku Klux Klan in der Zeit von 1980 bis zur Jahrtausendwende (Garry Zettersten). Zunächst lokal auf US-Militärbasen beschränkt, sei in den 1990er Jahren, inspiriert durch den Rechtsrock Ian Donaldsons und dessen Netzwerk Blood and Honour, eine Popularisierung des Klans unter gewaltbereiten Neonazis sowie die Organisierung westdeutscher Klangruppen erfolgt. Von der Vorstellung eines „Rassenkriegs“ motiviert, hätten ihre Mitglieder „zahlreiche gewaltsame Straftaten“ (S. 363) bis hin zu Morden begangen.

 

Mit dem Anstieg von Rassismus und Xenophobie nach dem Mauerfall befasst sich der Beitrag „Das Boot ist voll“ (Sabri Deniz Martin) und spricht von einer Re-Nationalisierung der bundesdeutschen Politik. Die Verteidigung des nationalen Wohlstands gegen Asylwerber – es war unter anderem die Zeit der Jugoslawienkriege und Deutschland zunächst noch direkt Außengrenze der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union – äußerte sich in einem Wohlstandschauvinismus, der mit rechtsradikalem Terror, medialem Begleitfeuer und einer restriktiven, vor allem von der Union befeuerten Politik einherging, die ihren normativen Ausdruck im „Asylkompromiss“ 1993 fand, der das Grundrecht auf Asyl erheblich beschnitt. Fazit: „Die Ära Kohl drückte Generationen von Flüchtlingen mitsamt Nachkommen in Traurigkeit, Integrationsprobleme und Kriminalität. Sie unternahm nichts gegen Aggression und Bedrohung, Misstrauen und Rassismus, sondern hat diese Fakten vielmehr mitzuverantworten“ (S. 394), was auch für das Verständnis der neuerlichen rassistischen Verwerfungen im Gefolge der „Europäischen Flüchtlingskrise“ 2015/2016 essentiell sei. Über die Formierung migrantischer Selbstorganisierung, geboren aus „der Notwendigkeit, sich den zunehmenden Übergriffen entgegenzustellen, und […] der Erkenntnis, dass man es in politischen Gruppierungen, die sich antirassistisch nannten, mit Bevormundung und Stereotypen dessen zu tun hatte, was als migrantisch/ausländisch ‚genug‘ und ausreichend ‚betroffen‘ von Rassismus galt“ (S. 408), und über „antirassistische Opferkonkurrenz“ berichtet ein weiterer Aufsatz (Annette Seidel-Arpaci). Die Verfasserin übt scharfe Kritik an Arbeiten von A. Dirk Moses und Michael Rothberg, deren Argumente sie als „infam“ bezeichnet, würden sie doch in der geistigen Tradition von Norman G. Finkelsteins „Holocaust Industry“ Migranten, denen sie jeden näheren Bezug zur deutschen Vergangenheit absprechen, „gegen die Erinnerung an die Shoah in Stellung“ bringen, um damit implizit einer Schlussstrichmentalität das Wort zu reden (S. 433). Dass selbst Literaturnobelpreisträger mitnichten davor gefeit sind, in die Rassismusfalle zu tappen, zeigt eine Untersuchung von Herta Müllers Reportage „Situation der Zigeuner in Rumänien“ sowie von Günter Grass‘ „Reden zugunsten des Volkes der Sinti und Roma“, Äußerungen, in denen hinter dem vordergründig wohlwollenden Gestus de facto Paternalismus und antiziganistisch-rassistische Klischees bedient würden (Benedikt Wolf). Ein anderer Beitrag (Kurt Gritsch) beschäftigt sich mit dem deutschen und österreichischen Serbien-Bild vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart und überprüft die These, wonach dieses als „Konstrukt“ der Balkanpolitik dieser Länder zu verstehen sei und „rassistische Züge“ trage, „weil es der Rechtfertigung von Gewaltverhältnissen diente“. Im Ergebnis wird festgestellt, dass, wann immer „ein serbisches Feindbild zur Ablenkung von Eigeninteressen nützte, auf bestehende Stereotype zurückgegriffen (wurde) oder neue konstruiert (wurden)“, zwar „nicht immer […] losgelöst von Fakten, aber stets in einseitiger und stilisierter Darstellung“ (S. 510f.).

 

Vier Abhandlungen, die unter „Rassismus im 21. Jahrhundert“ firmieren, beschließen den Sammelband. Die erste (Samuel Salzborn) seziert die unterschiedliche Wahrnehmung und Erinnerung von Linksterrorismus und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik – mit einem ernüchternden Befund. Während linksextreme Gewaltaktionen sofort historische Analogien, etwa zur RAF (Rote Armee Fraktion), auslösten, habe „die bundesdeutsche Alltagskultur […] vom Rechtsterrorismus in Geschichte und Gegenwart so gut wie keine Kenntnis genommen. […] Das völkische Narrativ […] wurde mit der militärischen Niederschlagung des Nationalsozialismus […] gesellschaftlich bzw. politisch-kulturell nicht gebrochen. […] Und genau das ist der Schlüssel zur Frage, warum es zur Abwehr der Thematisierung von Rechtsextremismus kommt: Denn auch wenn man möglicherweise Gewalt und Terror(ismus) ablehnt, so lehnt man mindestens unbewusst die weltanschaulichen Ziele der Rechtsterrorist(inn)en eben nicht ab“ (S. 539). Ein weiterer Autor (Martin Jander) nimmt mit dem 2021 verstorbenen, als linker DDR-Dissident sozialisierten Theologen und Philosophen Edelbert Richter einen Mann in den Blick, dessen Weg ihn weltanschaulich an den rechten Rand führte, indem seine seit 2015 veröffentlichten Schriften eine protestantisch-deutsche „Identitätspolitik mit deutlich nationalen, antiamerikanischen und antisemitischen Zügen“ propagieren (S. 543). Richter vertrete eine „große Nähe zu ethnopluralistischen Konzepten, die eine modernisierte Variante nationalsozialistisch-rassistischer Denkkonstruktionen bilden“ (S. 562). Auch Rudolf Steiners (1861 – 1925) nun „hochkulturell verankert(e)“ Anthroposophie tradiere, wie expliziert wird (Ansgar Martins), „bis heute eine ganz erstaunliche Auswahl von rassischen und Völker-Stereotypen, die in ihrer Gründerzeit anscheinend kaum als skandalös auffielen, aber heute den politischen Status des Ganzen verändern“ und im Bildungskanon der Waldorf-Pädagogik immer noch punktuell nachzuweisen seien (S. 565f.). Mit der historischen Korrektur des Begriffs „antimuslimischer Rassismus“ setzt sich der vierte und letzte Beitrag dieser Sektion auseinander (Ahmad A. Omeirate). Der Verfasser wirft einen Blick auf die historische Achse zwischen dem Nationalsozialismus und dem antisemitischen arabischen Nationalismus sowie auf die Genese der Muslimbruderschaft, deren Vertreter in den 1950er und 1960er Jahren in Westdeutschland Zuflucht fanden. Trotz ihrer antidemokratischen, den säkularen Staat ablehnenden, ihr eigenes, sakrales Rechtswesen reklamierenden Positionen „konnten sich Institutionen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft über Jahre hinweg als Ansprechpartner ‚der‘ Muslime für Gesellschaft, Medien und Politik inszenieren“, einer Thematisierung ihrer reaktionären Tendenzen aber „folgen meist massive Rassismus-Vorwürfe“ (S. 606). Islamisten würden sich so „hinter dem kollektivierenden Label „der Islam“ oder „die Muslime“ […] tarnen. Im Gegenzug brandmarken sie kritische Wissenschaftler […] und andere Akteure aus der Position der vermeintlich homogen wahrgenommenen muslimischen Mehrheitsgesellschaft öffentlich als ‚antimuslimische Rassisten‘ oder als ‚islamophob‘. Obwohl sich ihre kritische Haltung nicht per se auf alle Muslime bezieht, sondern eben auf islamistische Bewegungen und ihre verfassungsfeindlichen, antidemokratischen, nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Weltanschauungen abzielt, die genauso von Muslimen im europäischen und islamischen Raum regelmäßig kritisiert werden“ (S. 609f.). Tragischer Weise würde diese Position zusätzlich von gewissen postmodernen Akademikern unter Berufung auf  Edward W. Saids „Orientalismus“ (1978) und unter völliger Ausklammerung der jüngeren Gewaltgeschichte des Islamismus unterstützt.

 

In ihrer Gesamtheit laufen die Beiträge, über deren Autorinnen und Autoren man in dem Verzeichnis im Anhang Näheres nachlesen kann, auf eine kritische Bestandsaufnahme des Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland hinaus, die in ihrem Ergebnis wie folgt zusammengefasst werden kann: Bewusste oder unbewusste rassistische Haltungen seien demnach weiterhin in breiten Schichten der bundesdeutschen Gesellschaft verankert, prägten die Wahrnehmung und erklärten unter anderem die ungewöhnliche Toleranz deutscher Bürger gegenüber rechtsextremistischer Gewalt. Das Jahr 1945 markiere aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive keineswegs einen scharfen Bruch, vielmehr gebe es eine weitreichende Kontinuität im rassistischen Denken, das durch die mit der Wende 1989/1990 einhergehende Re-Nationalisierung eine Bestätigung und weitere Radikalisierung erfahren habe. Aufgrund einer versäumten gründlichen Aufarbeitung der Vergangenheit schließe das rassistische Potential in der deutschen Bevölkerung immer noch Handlungsweisen vom Paternalismus bis hin zum terroristischen Mord ein. Die politischen Theoriekonzepte der Rassisten hätten sich in der Terminologie zwar oft den vom demokratischen Staat gesetzten Rahmenbedingungen angepasst, unterschieden sich in ihren Konsequenzen – wie Abgrenzung und Ausgrenzung – aber kaum von jenen des traditionellen Rassismus. Auf der anderen Seite würden Rassismus-Vorwürfe in Vergangenheit und Gegenwart politisch instrumentalisiert, beispielsweise von der Linken zur Delegitimierung der Politik des Staates Israel oder von islamistischen Interessensgruppen zum Zweck der Immunisierung gegenüber Kritik an ihren verfassungsfeindlichen Aktivitäten. Auch würden unter der Flagge des Multikulturalismus und der Genderbewegung fragwürdige Beiträge mit wissenschaftlichem Anspruch publiziert, die in der Sache auf eine Aufweichung der demokratischen Grundwerte und der universalen Menschenrechte hinauslaufen. Nicht zuletzt wohl wegen der hohen gesellschaftlichen Relevanz des Themas hat der Verlag die vorliegende gedankenreiche, zur kontroversen Diskussion einladende Schrift im Open Access für jedermann verfügbar online gestellt.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic