Longerich, Peter, Die Sportpalastrede 1943.

Goebbels und der „totale Krieg“. Siedler, München 2023. 206 S. Besprochen von Werner Augustinovic. ZIER 13 (2013) 73. IT

Im November 1942 sah sich das Deutsche Reich mit krisenhaften Entwicklungen an den Fronten kommentiert, die in der Rückschau als markante Wendepunkte im Verlauf des Zweiten Weltkrieges identifiziert wurden: Während in Afrika den Amerikanern und Briten die Landung im Rücken der Achsenstreitmacht gelang, wurde im Osten die 6. Armee bei Stalingrad eingekesselt (und kapitulierte Ende Januar/Anfang Februar 1943). Es ergab sich somit das Problem, die deutsche Bevölkerung, die man mit optimistischen Meldungen lange über das Ausmaß der sich in Stalingrad abzeichnenden Katastrophe hinweggetäuscht hatte, so mit der Realität zu konfrontieren, dass sie nicht in Depression verfiel und das Vertrauen in die nationalsozialistische Führung verlor, sondern stattdessen auf den Ernst der Lage mit zusätzlicher Motivation und verstärkten Anstrengungen für einen erfolgreichen Kriegsausgang reagierte. Diesem Zweck diente die (zeitverzögert) im Rundfunk ausgestrahlte, mit gekonnter rhetorischer Raffinesse vorgetragene Sportpalastrede des Propagandaministers Dr. Joseph Goebbels vom 18. Februar 1943, in der er sich von einem ausgewählten, hoch emotionalisierten Publikum seine Vorstellungen von dem nunmehr einzuleitenden „totalen Krieg“ akklamieren ließ. Der prominente Historiker Peter Longerich – ein ausgewiesener Experte zum Thema Antisemitismus und unter anderem nicht nur Biograph von Goebbels (2010), sondern auch Heinrich Himmlers (2008) und Adolf Hitlers (2015) – präsentiert hier den Text der in der Vergangenheit wissenschaftlich und medial bereits vielfach rezipierten Rede mitsamt der Spontanreaktionen des Publikums nach der ausgestrahlten Tonaufzeichnung (zeitgenössische, im Druck erschienene Fassungen weisen bereits glättende Veränderungen auf), versieht ihn mit einem Kommentar und bettet den Auftritt und seine Folgewirkungen in den relevanten historischen Kontext ein.

 

Wie schon in der genannten Biographie, charakterisiert Peter Longerich den Propagandaminister als eine zutiefst narzisstische Persönlichkeit, die in Hitler ihren endgültigen Bezugspunkt gefunden hatte und von dessen Aufmerksamkeit und Zuwendung stark abhängig war. Diese Fixierung habe ihn naturgemäß in Konflikte mit anderen Größen der nationalsozialistischen Herrschaft gebracht, die ebenfalls um die Gunst des „Führers“ buhlten. Goebbels habe sich, wie seine von Longerich sorgfältig studierten Tagebucheintragungen erkennen lassen, bereits im Sommer 1942 im Hinblick auf den Gang der Kriegsereignisse vorsichtig gegen einen übertriebenen Optimismus oder gar Illusionismus ausgesprochen und dann mit der sukzessiven Verschlechterung der Lage an den Fronten zunehmend eine Verschärfung der Gangart in der Heimat angemahnt. Sein Projekt einer „Totalisierung“ des Krieges zielte auf „die Einführung der Arbeitsdienstpflicht für Frauen, die Einstellung der nicht kriegswichtigen Industrien sowie die Stilllegung von teuren Lokalen und Luxusgeschäften“ (S. 39). Als Hitler am 13. Januar 1943 einen Führererlass über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung unterzeichnete, kam dieser zwar den Vorstellungen des Propagandaministers entgegen, doch war Goebbels enttäuscht, nicht dem von Hitler zur Durchführung dieser Aufgaben eingesetzten „Dreierausschuss“ (Chef der Reichskanzlei Lammers, Chef der Partei-Kanzlei Bormann, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Keitel) unmittelbar anzugehören. Erst anderthalb Jahre später, nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944, sah sich Goebbels als nunmehr „Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“ am Ziel seiner Ambitionen – wenn auch de facto mit einschränkten Kompetenzen gegenüber den Obersten Reichsbehörden und (noch) ohne Zugriff „auf die Bereiche Militär, Partei und Rüstung“ (S. 175). Er habe letztendlich in seiner Funktion „in erheblichem Maße“ dazu beigetragen, „dass in der finalen Kriegsphase noch Hunderttausende oberflächlich ausgebildete und unzureichend bewaffnete deutsche Männer an die […] Fronten geschickt wurden, wo ein hoher Prozentsatz von ihnen ums Leben kam“ (S. 179).

 

Der gegenständlichen Sportpalastrede war am 30. Januar 1943 anlässlich des zehnten Jahrestages der Machtergreifung am selben Ort bereits eine „Generalprobe“ vorausgegangen, wobei der Propagandaminister seine zentralen Überlegungen im Kern vorgetragen und deren Resonanz beim Publikum erfolgreich getestet hatte. Die Edition ist so gestaltet, dass jeweils auf der vom Leser aus gesehen linken Buchseite der (insgesamt in 25 Abschnitte untergliederte, kursiv gedruckte) Redetext inklusive der (in Klammer gesetzten) Publikumsreaktionen (darunter auch „Rufe: ‚Aufhängen!‘“) zu finden ist, auf der rechten Buchseite die zugehörigen Anmerkungen. Letztere enthalten diverse interpretatorische Hinweise und ergänzende Informationen, bisweilen aber auch nur eine Rekapitulation des bereits vom Redetext dargebotenen Inhalts. Formal bestehe die Rede aus „drei Teilen: […] einer allgemeinen Einleitung, in der Goebbels seinen Zuhörern den Ernst der Lage vor Augen führt, verbunden mit der Versicherung, diese Lage wahrhaftig darzustellen, und schließlich […] die Entschlossenheit zum Handeln ableitet. Zweitens, im Hauptteil der Rede, stellt er […] drei Thesen auf, die er sodann ausführlich begründet. Im dritten Teil folgen dann als Höhepunkt und Abschluss die zehn Fragen, die das Publikum mit rasender Zustimmung beantwortet“. Inhaltlich argumentiere „Goebbels im Kern, dass der Kampf gegen die tödliche Bedrohung durch den Bolschewismus […] weitaus größere Opfer erfordere, als sie bislang gebracht worden seien, nämlich den ‚totalen Krieg‘. Das Volk – repräsentiert durch das Publikum im Saal – sei nicht nur bereit, diese Opfer auf sich zu nehmen, sondern fordere sie sogar ein. Damit stellt die Rede gleichsam ein Plebiszit für den ‚totalen Krieg‘ dar“ (S. 68). Sowohl durch ihre klassenkämpferischen Akzente – mehrfach wird der Neid auf besser gestellte Volksgenossen angefacht, die sich angeblich immer noch ihren kriegsnotwendigen Pflichten entzögen – und mehr noch durch ihren expliziten eliminatorischen Antisemitismus – Deutschland habe die Absicht, der „jüdischen Bedrohung […] rechtzeitig und wenn nötig unter vollkommener und radikalster Ausrott-, Ausschaltung des Judentums entgegenzutreten“ (S. 90) – fällt die Ansprache auf. Laut Kommentar setze sie „die Linie fort, die Hitler und andere führende NS-Politiker bereits seit Längerem verfolgten, nämlich durch gezielte Signale die im Umlauf befindlichen Gerüchte über die Ermordung der Juden Europas zu bestätigen, ohne jedoch Einzelheiten des Mordprogramms preiszugeben“ (S. 93).

 

Interessant sind die nachfolgenden Ausführungen zum divergenten Echo dieser Rede. Goebbels selbst gibt sich in seinen Tagebüchern betont euphorisch, die Rede sei „eine Sensation erster Klasse und nimmt die Schlagzeilen und die ersten Seiten wohl sämtlicher Zeitungen in der Welt für sich in Anspruch“ (S. 144). Anhand verschiedener Beispiele der zeitgenössischen Auslandspresse kann der Verfasser zeigen, dass diese Einschätzung keineswegs der Realität entsprach und dort überwiegend „die überdeutliche Loyalitätskundgebung für Hitler als propagandistisches Manöver und damit als deutliches Anzeichen für ein Schwinden des Vertrauens in die Führung gelesen“ worden sei (S. 150). Selbst im Reich erfuhr die Rede, wie diverse Stimmungsberichte und private Notizen erkennen lassen, keine einheitlich positive Rezeption. Der Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg hielt für seinen Bereich fest: „Insbesondere wurde der Schluß der Rede (Frage und Antwort) fast allgemein abgelehnt“, und sein Zweibrückener Amtskollege warnte vor dem „Klassenhaß“, der, einmal entfesselt, „sich einmal nach einer ganz anderen Richtung wenden“ könne (S. 155f.). Diese gerade im Krieg besonders fatale Gefahr einer Spaltung der Volksgemeinschaft dürfte der Hauptgrund dafür gewesen sein, dass sich Goebbels gegenüber anderen Funktionären und vor allem auch bei Hitler mit seinen allzu radikal anmutenden Forderungen einer Totalisierung des Krieges lange nicht durchzusetzen vermochte.

 

Die Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 stellt nichtsdestotrotz sowohl inhaltlich als auch in ihrer Inszenierung ein herausragendes Lehrbeispiel für die politische Propaganda des nationalsozialistischen Staates in einer kritischen Phase des Zweiten Weltkriegs dar. Dass Peter Longerich der interessierten Öffentlichkeit nun eine kommentierte und kontextualisierte Edition dieser vielleicht prominentesten Ansprache der NS-Zeit in einer kompakten Ausgabe zur Verfügung stellt, ist zu begrüßen, zumal der Band auch durch seine – heute nicht mehr selbstverständliche –  formale Sorgfalt besticht.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic