Das Temeswarer Banat.
Das Temeswarer Banat, kurz Banat, ist eine historische Landschaft in Ostmitteleuropa, die heute Teile der Staatsgebiete von Rumänien, Serbien und Ungarn umfasst. Im Mittelalter zum Königreich Ungarn gehörig, bestand die Region von 1552 bis 1716 unter osmanischer und anschließend bis 1918 unter habsburgischer Herrschaft weiter als einheitlicher Raum, der erst nach dem Ersten Weltkrieg geteilt wurde. Diese jahrhundertelange imperiale Tradition hat der Gesellschaft und der Kultur des Banats ihre vielschichtige spezifische Prägung gegeben.
Der vorliegende, in seinem Erscheinen wohl nicht zufällig mit der Würdigung Temeswars/ Timişoaras als Europäische Kulturhauptstadt 2023 zusammenfallende Sammelband vereinigt drei Vorworte (Armin Heinen, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen; Răzvan Theodorescu, Rumänische Akademie; Victor Neumann, West-Universität Temeswar) und insgesamt 24 Beiträge. Spiritus rector des Unternehmens ist zweifellos Victor Neumann, Professor für Neuere Geschichte in Temeswar, der nicht nur als Herausgeber verantwortlich zeichnet, sondern mit 13 Aufsätzen einschließlich des Fazits auch mehr als die Hälfte aller Texte verfasst hat. Von den zehn weiteren Verfassern (Historiker, Kunsthistoriker und Architekten, darunter zwei Frauen) wirken ausweislich des Autorenverzeichnisses fünf in Rumänien (vier davon ebenfalls in Temeswar), drei in Serbien und zwei in Ungarn. Dem Werk, so Victor Neumann, gehe es „nicht um eine Abfolge von Ereignissen oder eine Aufzählung von Fakten, […] nicht um Segregation, sondern um das, was die Region in vielen Jahrzehnten ihrem Selbstverständnis nach ausmachte, um das zivilbürgerliche Miteinander und die interkulturelle Offenheit“. Wichtigstes Ziel sei, „die Bewohner des Banats selbst sichtbar werden zu lassen, ihre historischen Erfahrungen zu reflektieren, ihre Mentalitäten zu beschreiben und den Wandel der Einstellungsmuster im Zeitverlauf herauszuarbeiten“ und dabei eine „multiperspektivische Sicht“ auf breiter Quellengrundlage einzunehmen. Die Analysen würden zeigen, „wie es den Menschen im Banat gelang, die unterschiedlichen Kulturen miteinander in Beziehung zu bringen, West und Ost miteinander zu verbinden“, sodass der Leser immer wieder Hinweise finde „auf die Existenz eines multiplen kulturellen Codes, der die Region auszeichnete, ihre Identität ausmachte, gleichzeitig aber die kulturelle Vielfalt Mittel- und Südosteuropas repräsentierte“ (S. XIXff.).
Die Entwicklung des Banats von einer rückständigen, wenig bevölkerten Region zu einem prosperierenden Raum ist das Verdienst der Habsburger Herrschaft, die nach der Vertreibung der Osmanen 1716 günstige Rahmenbedingungen (unter anderem das Fehlen eines Adels und traditioneller Verwaltungsstrukturen) vorfand, im Geist eines aufgeklärten Absolutismus administrativ tätig zu werden und – angestoßen von Persönlichkeiten wie dem Prinzen Eugen von Savoyen und Claude Florimond de Mercy – das Banat gleichsam als Modellregion zu restrukturieren. Von 1718 bis 1778 und wiederum von 1849 bis 1867 unterstand sie unmittelbar der Wiener Verwaltung, dazwischen und bis 1918 jener des Königreichs Ungarn. Die Maßnahmen umfassten Infrastrukturprojekte auf kameralistischer Basis und umfangreiche Ansiedlungsprogramme („Peuplierung“). Dieser Bevölkerungstransfer (Deutsche, Franzosen, Spanier, Italiener, Tschechen, Slowaken, Ungarn) „erhöhte zusätzlich die religiöse und ethnische Vielfalt“ (S. 90). Ab 1780 war ein Urbarium oder Kataster als „gerichtsfester Eigentumsnachweis für Immobilien in allen drei Komitaten des Banats verfügbar“ (S. 102f.). Die „Sicherstellung des religiösen Lebens auf dem Fundament lebendiger und vertrauenswürdiger Kirchenstrukturen“ sei für Wien ebenfalls „ein wichtiges Ziel“ gewesen, das auch „die Akzeptanz des orthodoxen Glaubens all jener Menschen, die schon lange im Banat lebten“ (wie Serben und Rumänen), einschloss (S. 124). Das Bildungssystem vollzog „wie in vielen anderen Regionen des Habsburger Reiches auch, den Wandel von einem religiös fundierten System (1790-1810) zu einem stärker säkularen (1810-1848)“ (S. 276). Der Band setzt sich nicht nur mit diesen konkreten Projekten näher auseinander, sondern stellt sie in den Kontext der politischen Ziele der Habsburger im Rahmen der Ideen der Aufklärung und der vom Josephinismus angestrebten „Revolution von oben“. Weitere Beiträge beschäftigen sich eingehend mit dem Siedlungswesen, der Architektur der Freistädte Temeswar und Arad, mit dem Banater Barock und der künstlerischen Arbeit der bedeutenden Malerwerkstätten. Die Künstler waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend „von ihren Auftraggebern finanziell abhängig“ und mussten daher „bei den künstlerischen Ausdrucksformen verbleiben, die ihnen die Geldgeber auferlegten“ (S. 237f).
Die Auseinandersetzungen der Revolutionsjahre 1848/1849 gipfelten im Banat in einem Krieg zwischen Österreichern und Serben auf der einen und Ungarn auf der anderen Seite, der mit der Niederlage der aufständischen Ungarn und der Einrichtung einer (bis zum „Ausgleich“ mit Ungarn 1867) Wien unterstehenden „Woiwodschaft Serbien und Temeser Banat“ endete. 1850 lebten dort gemäß Zensus „1.525.214 Einwohner, darunter 414.947 Rumänen, 396.156 Deutsche, 309.885 Serben, 256.164 Ungarn, 73.642 Kroaten, 25.982 Slowaken, 23.014 Bulgaren und 12.596 Juden“ (S. 303). Hervorzuheben ist Victor Neumanns Beitrag über die „Vielfalt von Nations- und Staatskonzeptionen während der Zeit von Neoabsolutismus, Ausgleich und österreichisch-ungarischer Doppelmonarchie“ (S. 305ff.). Er vertritt die Hypothese, „dass das preußische Modell eines national orientierten „Sonderweges“ immer mehr Anhänger in den habsburgischen Provinzen fand und das alt-imperiale, österreichische Modell einer bewussten Vielfalt immer mehr zurückdrängte, ja, schließlich obsiegte. […] Wir beobachten eine Abkehr von kosmopolitischen Vorstellungen […] hin zu einer entschiedenen Suche nach ethnischer Identität und Eindeutigkeit, ganz im Sinne von Herders und Hegels Spekulationen oder Treitschkes Geschichte“ (S. 313). 1848 sei in Ostmitteleuropa ein Elitenprojekt der „Intelligenz, zumeist feudal-aristokratischer Herkunft“ gewesen, während die große Masse der Bevölkerung kaum alphabetisierte Bauern und entsprechend „leicht zu manipulieren“ gewesen seien (S. 306). Nur die radikal-revolutionären Ungarn hätten versucht, „sich von den Habsburgern zu lösen und einen unabhängigen Staat zu schaffen“, über dessen republikanische Ausgestaltung es unterschiedliche Vorstellungen gab, während „die nicht-ungarischen Notabeln (fest glaubten), dass eine Emanzipation ihrer ‚Nationalitäten‘ innerhalb der bestehenden Strukturen möglich sei, und zwar mit Hilfe und unter dem Schutz des Hauses Habsburg“ (S. 307). Der unter dem Druck der österreichischen Niederlage gegen Preußen zustande gekommene Ausgleich von 1867 mit dem Konzept einer Doppelmonarchie brachte dann für Ungarn „eine Lösung sowohl aus ungarisch-ethnonationaler Sicht als auch aus Sicht einer erwünschten aristokratischen Vorherrschaft“, eine Politik der Assimilation trat an die Stelle toleranter Vielfalt. Nach 1918 hätten sich „unglücklicherweise […] viele Nationalstaaten gegen das Erbe der Doppelmonarchie“ gestellt: „Dies war teilweise der Fall in Polen und in Jugoslawien, vor allem aber in Rumänien. Aus heutiger Sicht entstanden deshalb keine Staaten, die als rechtsstaatlich fundiert bezeichnet werden könnten. […] Anstelle des allgemeinen Staatsbürgerstatus entschied die ethnische Zugehörigkeit über politische und gesellschaftliche Teilhabeberechtigung“. Ein Beispiel für das „ethnonationale Denken“ sei nicht zuletzt „die Aufteilung des Banats nach nationalen Kriterien, so wie es nach dem Ersten Weltkrieg geschah“ (S. 324f.). Aus der Gesamtheit seiner Ausführungen spricht eine große Wertschätzung des Verfassers für die rational auf das Gemeinwohl bedachten, integrativen Leistungen der imperialen Habsburgerherrschaft (gerade auch im Banat), denen er die destruktiven Fliehkräfte des auf Mythen gegründeten und an Partikularinteressen ausgerichteten völkisch-nationalen Denkens gegenüberstellt.
In weiterer Folge konzentriert sich die Darstellung nach der Teilung des Raumes weitgehend auf das dem Staat Rumänien zugeschlagene Ostbanat mit dem Zentrum Temeswar, den Entwicklungen im nunmehr jugoslawischen Westbanat sind keine eigenen Beiträge gewidmet. In der Zwischenkriegszeit „prägte ein antidemokratischer, nationalistischer Diskurs die politische Kultur“ Rumäniens (S. 447), der auch vor Temeswar nicht haltmachte, obschon man hier „auf seiner eigenen Tradition der Konfliktvermeidung (bestand)“ und „auf den Geist bürgerlichen Selbstbewusstseins und die lange Erfahrung fruchtbaren multi- und interkulturellen Miteinanders (setzte)“ (S. 443). Die Geschichte der Juden im Banat erörtert Victor Neumann in zwei Aufsätzen, deren erster deren Emanzipation und Stellenwert im Banat bis zum Ende der Habsburgermonarchie behandelt, während der zweite ihr Schicksal im rumänischen Banat und in Südsiebenbürgen während des Zweiten Weltkriegs beleuchtet. Dass sie von der bereits beschlossenen Deportation in den Osten – und damit vor der Vernichtung – letztlich verschont blieben, sei vor allem der Kriegswende zu verdanken, die das Regime Antonescu am deutschen Sieg zweifeln ließ, aber ebenso der „Intervention jüdischer und rumänischer Führungspersönlichkeiten“, darunter auch der einflussreiche Metropolit von Siebenbürgen, Nicolae Bălan (S. 443). Bevor der Band zu einem abschließenden Fazit kommt, informieren zwei Beiträge – wiederum aus der Feder Victor Neumanns – über verschiedene regimekritische Initiativen zwischen 1956 und 1989 sowie über die spezielle Rolle Temeswars während der rumänischen Revolution gegen die Diktatur Nicolae Ceauşescus. Die Bilanz fällt ernüchternd aus: Man habe in der Zentrale „einfach nicht gesehen, welche Rolle Temeswar und das Banat im Westen Rumäniens hätte spielen können, indem es als Vermittlungsraum zu den benachbarten Staaten und Europa insgesamt gewirkt hätte. […] Was in Bukarest seitens der Regierung nicht verstanden wurde, ist der Umstand, dass jegliche Modernisierung zunächst von fortgeschrittenen Polen und peripheren Rändern ausgeht“. Der tiefgreifende Strukturwandel, dem die Stadt in den letzten drei Jahrzehnten unterworfen war, finde nicht zuletzt in „aggressive(n) Verhaltensweisen gegenüber dem Gemeinwohl“ Ausdruck, mit der Revolution von 1989 hätten mithin „das multikulturelle Banat und das multikonfessionelle Temeswar ihr Ende gefunden“ (S. 510ff.). Der Wehmut, der aus diesen Zeilen spricht, ist sicherlich der Erkenntnis geschuldet, dass die unglücklichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts auch hier eine einzigartige lebendige Kultur unwiderruflich zerstört und fortan auf den Status einer historischen Reminiszenz reduziert haben.
Kapfenberg Werner Augustinovic