Clark, Christopher, Frühling der Revolution.

Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, aus dem Engl. v. Juraschitz, Norbert/Schmidt Klaus-Dieter/Wirthensohn, Andreas. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2023. 1164 S., Abb, 6 Kart. Besprochen von WernerAugustinovic.

Clark, Christopher, Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, aus dem Engl. v. Juraschitz, Norbert/Schmidt Klaus-Dieter/Wirthensohn, Andreas. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2023. 1164 S., Abb, 6 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.


 


2013 konnte Christopher Clark mit seiner „Die Schlafwandler“ überschriebenen, innovativen Darstellung der europäischen Diplomatie im Vorfeld des Ersten Weltkriegs die Aufmerksamkeit sowohl der staunenden Fachwelt als auch eines interessierten breiten Publikums auf sich ziehen. Ein ähnlicher Coup könnte dem ambitionierten Cambridge-Professor auch mit seiner aktuellen Publikation, welche die Revolutionen von 1848/49 als europäisches Ereignis in den Blick nimmt und im englischen Original „Revolutionary Spring. Fighting for a New World, 1848-1849“ betitelt ist, gelingen. Das mag vielleicht auf den ersten Blick verwundern, denn im Gegensatz zum Großen Krieg, dessen enge kausale Verbindung mit dem in den Familien durch eine präsente Erlebnisgeneration nahezu bis in die jüngste Gegenwart noch lebendigen Zweiten Weltkrieg ein fast automatisches, aus persönlicher Betroffenheit resultierendes Interesse erwarten lässt, treffen solche günstigen Voraussetzungen für das zeitlich viel weiter zurückliegende Revolutionsthema nicht zu. Auch mag der Wettstreit zwischen liberalen, sozialen und nationalen Ideen im 19. Jahrhundert weniger die Gemüter erregen als jene konkreten jüngeren Schuldfragen, die einen festen Platz im gesellschaftlichen Bewusstsein der Deutschen okkupieren. Es sind die kluge Konzeption und die inhaltlich wie erzählerisch herausragende Qualität von Clarks neuestem Werk auf mehr als 1000 Textseiten, die trotz der genannten Bremsfaktoren (wie der Verfasser selbst bekennt, erschienen ihm als Schüler die Revolutionen von 1848 „so weit weg […] wie das alte Ägypten“ und ihre Komplexität „als nutzloses, altertümliches Gekrakel, unempfänglich für jene Art der Erzählung, die moderne Menschen erfüllt“; S. 1022) für sich sprechen.


 


Erfolg oder Misserfolg eines bedeutenden historischen Ereignisses werden gerne daran gemessen, inwieweit diesem die unmittelbare Umsetzung konkreter Zielsetzungen gelingt. Aus dieser stark verkürzten Perspektive erscheinen die Revolutionen von 1848/1849 durchweg als gescheitert, indem sie zwar der seit 1815 andauernden Periode des restaurativen Systems Metternich ein Ende bereiteten, aber weitgehend nicht in der Lage waren, die monarchischen Ordnungen massiv einzuhegen oder gar durch demokratisch-republikanische zu ersetzen. Im Ergebnis verblieben trotz manch ambitionierten Verfassungsentwurfs überall konstitutionelle Monarchien mit einer mehr oder minder stark eingeschränkten politischen Teilhabe. Christopher Clark zeichnet diese Entwicklung in einer bemerkenswerten Breite und Tiefe nach und legt dar, weshalb die Ideen und Kräfte, welche die Revolutionen auslösten und in ihnen wirksam wurden, gerade nicht verpufften, sondern wiederum wichtige längerfristige Prozesse anstießen, so dass das Bild von der grundsätzlich gescheiterten Revolution in dieser erweiterten Sicht kein zutreffendes sei.


 


Zum Verständnis des Geschehens legt der Verfasser ein breites Panorama an, das weit über den europäischen Tellerrand ausgreift und überseeische Gebiete wie Südamerika oder Australien in die Betrachtung einbezieht, koloniale Räume, in die europäische Mächte die revolutionären Energien zum Teil ableiteten. Der Band folgt einem sinnvollen, klar nachvollziehbaren Aufbau. Das erste Kapitel widmet sich der sozialen Frage in den Gesellschaften Europas vor 1848, es geht darin „um wirtschaftliche Not, allgegenwärtige Angst, Ernährungskrisen und massive Gewalt“ mit dem besonderen Augenmerk „auf Bereichen der Repression, Verdrängung, Unterdrückung und des Konflikts“. Soziale Unzufriedenheit für sich allein verursache zwar unmittelbar noch keine Revolution, wohl aber sei die materielle Not „der unverzichtbare Hintergrund für jene Prozesse der politischen Polarisierung [gewesen], die die Revolutionen erst ermöglichten“ (S. 27). Unter dem Begriff der „Ordnungskonzepte“ veranschaulicht und charakterisiert ein zweiter Abschnitt maßgebliche gesellschaftsrelevante Kräfte, so den Liberalismus, die unter dem Rubrum „Radikale“ erfassten Demokraten und Sozialisten sowie die Konservativen am anderen Ende des politischen Spektrums, aber auch die Sphären des Patriarchats, der Religion, von Patriotismus und Nation und von Freiheit und Unfreiheit. Die Kapitel drei bis fünf explizieren die Eskalationsfolge der Revolutionen, von der „Konfrontation“ über die „Explosionen“ bis hin zu dem mit Regierungsbildungen, Parlamentswahlen und Verfassungsdokumenten einhergehenden „Regimewechsel“. Ein sechster Abschnitt analysiert die emanzipatorischen Impulse im Hinblick auf die Stellung von Sklaven, Frauen, Juden und Roma, die mit den Revolutionen einhergingen, und prüft, welche Entwicklung sie in weiterer Folge nahmen. Weshalb die Revolutionäre ihre errungenen Positionen wieder preisgeben mussten, erhellen dann die nachfolgenden Kapitel: Vor allem die Uneinigkeit im Hinblick auf die Ziele der Revolution unter den verschiedenen politischen Kräften (vereinfacht: politische Revolution der Liberalen versus soziale Revolution der Radikalen) verhinderte eine Konsolidierung und den Machterhalt der neuen Regime, der Zustand der „Entropie“ (ein der Thermodynamik entlehnter Begriff, der metaphorisch für den Prozess der Zerstreuung und des Erkaltens der revolutionären Energie in Anspruch genommen wird) ermöglichte schließlich die erfolgreiche Konterrevolution, und doch gab es nach 1848, wie das neunte, abschließende Kapitel darlegt, keine Rückkehr mehr zum konservativen Status quo ante, sondern eine Reihe tiefgreifender Veränderungen.


 


Christopher Clark führt plausibel aus, dass die Revolutionen als gesamteuropäisches Phänomen zwar überall mit den gleichen Forderungen auftraten: „Verfassung, Freiheit, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Bürgerwehr (oder Nationalgarde), Wahlrechtsreform“, aber dennoch „keine einzige dieser Revolutionen […] Folge einer konspirativen Planung (war). Keine stand unter der Kontrolle einer einzigen Gruppe. Die ‚Revolutionäre‘ von 1848 waren nicht die Vollstrecker eines Plans, sondern Improvisatoren, für die die Gegenwart eine exponierte Grenzzone war. […] Die Schnelligkeit des Sieges war erstaunlich und die darauffolgende Euphorie absolut verständlich. Doch unzählige Probleme blieben bestehen, Aufgaben, die sich mit unterschiedlicher Dringlichkeit auf die verschiedenen Schauplätze der Revolution auswirkten“ (S. 474). Diese grundsätzliche Planlosigkeit habe einer „umherschweifende(n) Souveränität“ Vorschub geleistet, das spontane, aus der Euphorie des unerwarteten Erfolgs geborene „ozeanische Eintauchen in ein kollektives Ich“ sei bald gekippt zu „Angst und […] Misstrauen, als Bruchlinien auftauchten“ (S. 644). Eine gesamteuropäische Bündelung der revolutionären Kraft war nicht möglich, da „die Aufstände von 1848 trotz ihrer extremen zeitlichen Komprimierung zu unterschiedlichen Zeiten begannen und sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickelten, angetrieben durch sehr unterschiedliche lokale Umstände in einer Vielzahl weit verstreuter Gebiete. Die daraus resultierende Ungleichzeitigkeit führte zu Blockaden und Gegenströmungen, die einer Konvergenz der revolutionären Impulse auf dem gesamten Kontinent entgegenstanden“ (S. 771). Unter den „vielen Ressourcen“, die der Konterrevolution zum Sieg verhalfen, waren wiederum „die dauerhafte Loyalität und Effizienz der Streitkräfte die wichtigsten“ (S. 891). Nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis erwuchs später bei vielen Denkern ein pragmatischer Realismus mit einer „Neubewertung des Verhältnisses von Ideen und Macht“; August Ludwig von Rochau hielt in diesem Sinne fest, „daß das Gesetz der Stärke über das Staatsleben eine ähnliche Herrschaft ausübt wie das Gesetz der Schwere über die Körperwelt“ (S. 921).


 


Große Aufmerksamkeit schenkt das Werk den zahlreichen Verfassungswürfen, die seit „Anfang der 1820er Jahre […] zur Lingua franca einer transnationalen liberalen Bewegung“ geworden waren und nun eine Blüte erlebten. 1848 wurde „in allen von einer Revolution erfassten Staaten eine Verfassung erlassen. Sie waren so zahlreich und wurden unter derart unterschiedlichen Umständen eingeführt, dass Verallgemeinerungen schwierig sind“ (S. 547f.). Clark stellt viele dieser Ausarbeitungen näher vor und charakterisiert sie anhand ihrer wichtigsten Elemente. In Summe sei es „ein Zeichen des Erfolgs der Verfassung als Instrument der Staatenbildung, dass ihre Verknüpfung mit fortschrittlichen politischen Vorhaben gelockert und ihre Zielrichtung allgemein gefasst wurde“ (dies unter anderem ein erfolgreiches Mittel, „radikale Herausforderungen durch die Linke zu delegitimieren“), so dass selbst die Konservativen nach 1848 Verfassungen grundsätzlich nicht mehr infrage stellten und stattdessen „als Mittel der politischen Stabilisierung (befürworteten)“ (S. 559f.). Eine verfassungsmäßig fundierte staatliche Verwaltung war fortan allgemeiner Standard.


 


Abseits von diesem dominierenden Thema der Verfassung als dem „Höhepunkt einer gewissen Art der liberalen Politik“ (S. 559) zogen die Ereignisse von 1848 weitere bemerkenswerte Veränderungen im staatlichen und gesellschaftlichen Leben Europas nach sich. So konstatiert der Verfasser: „Welche Form genau die neue politische Konstellation jeweils annahm, variierte je nach den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, aber in allen europäischen Staaten wurde die Agenda durch eine postrevolutionäre Annäherung bestimmt, die in der Lage war, den Bestrebungen der gemäßigteren Teile der alten Progressiven genauso gerecht zu werden wie denen der innovativeren, stärker unternehmerisch ausgerichteten Teile der alten konservativen Eliten. Diese postrevolutionäre Ordnung kontrollierte die politische Mitte so effektiv, dass sie sowohl die demokratische Linke als auch die alte Rechte erfolgreich marginalisierte“ (S. 970). Auf dem Wirtschaftssektor „vollzog sich ein Übergang von einer gewinn- oder einnahmeorientierten Politik hin zu einer Politik, die auf die Stimulierung des mittel- und langfristigen Wirtschaftswachstums abzielte. Erreicht wurde das zum Teil durch permissive Reformen, deren Ziel es war, die verschiedenen Gesetze und Vorschriften des alten Regimes abzubauen, die Kapitalkonzentration und Investitionen behinderten […]. Die Regierungen konzentrierten sich […] auf jene Formen von territorialen Infrastrukturinvestitionen, die – da sie in erster Linie eher unrentabel waren – nur dem Staat überantwortet werden konnten“ (S. 972f.). Eine erfolgreiche, auf die stete Erhebung verlässlicher statistischer Daten gestützte Wirtschaftspolitik wurde zunehmend zu einem wichtigen Legitimationsfaktor von Regierungen gegenüber der Öffentlichkeit. Das schwerfällige und aufwändige Instrument der staatlichen Vorzensur wich – mit der Ausnahme Russlands – mittelfristig überall einer liberaleren Pressepolitik, die Regierungen gingen in Anbetracht einer grenzübergreifenden und unumkehrbaren Ausweitung politischer Druckerzeugnisse und ihrer Rezipienten nun „das Geschäft der öffentlichen Meinungsbildung geschmeidiger und kohärenter an“ (S. 995). Wenn behauptet werde, „die Revolutionen hätten die Büchse der Pandora des Nationalismus geöffnet und damit den Kontinent gespalten“, so stehe dem „das Panorama der administrativen Veränderungen nach 1848“ entgegen, das nahelege, „dass die Revolutionen auch eine homogenisierende oder ‚europäisierende‘ Wirkung hatten“, etwa in Form einer „transnationale(n) europäische(n) ‚Verwaltungsintelligenz‘, deren Kultur und Bildung synchronisiert und genuin europäisch waren“ (S. 1006f.).


 


Was 1848 mit unserer Gegenwart zu tun hat, offenbart der Verfasser seinen Lesern im Schlussabschnitt, in dem er auf die aktuellen, mit einer (Teil-)Abkehr von der Moderne einhergehenden globalen Verwerfungen und Krisen Bezug nimmt und bemerkenswerte Parallelen zu 1848 ausmachen zu können glaubt. Im Kern stellt er dazu fest: „Es ist […] lehrreich, über die Menschen und Situationen von 1848 nachzudenken: die zerklüftete, vielgestaltige Art ihrer Politik; die Unruhe und den Wandel ohne ein sicheres Gespür für die Richtung, in die es gehen soll; die Ängste vor Ungleichheit und der Endlichkeit der Ressourcen; die tödliche Verflechtung der Unruhen im Inneren mit den internationalen Beziehungen; das Einbrechen von Gewalt, Utopie und Spiritualität in die Politik. Wenn denn eine Revolution bevorsteht (und von einer nichtrevolutionaren Lösung der ‚Polykrise‘ […] scheinen wir sehr weit entfernt zu sein), könnte sie ganz ähnlich aussehen wie 1848: schlecht geplant, verstreut, uneinheitlich und voller Widersprüche. […] als ich dieses Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, die Menschen von 1848 könnten sich in uns wiederfinden“ (S. 1024). Unabhängig davon, für wie hoch man gegenwärtig die Wahrscheinlichkeit von Erhebungen revolutionären Ausmaßes einschätzt (wie substanziell die Proteste von „Querdenkern“, „Gelbwesten“ oder „Trumpisten“ wirklich in diese Richtung weisen, wäre einer näheren Untersuchung wert), unterstreichen die oben festgehaltenen Beobachtungen und Diagnosen Christopher Clarks noch einmal klar seine These von der 1848er-Revolution (und vielleicht auch von künftigen Revolutionen) als einer weitgehend ungesteuerten, dezentralen Entladung von Energien, die sich in Zeiten des Umbruchs zu einer kritischen Masse anreichern und ihre unberechenbare Brisanz im stetigen kommunikativen Austausch zwischen einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Einflussfaktoren entwickeln. Ein erfolgreiches Gegensteuern scheint daher nur bedingt möglich und – folgt man dem Beispiel von 1848 – war damals in den Ausnahmefällen, wo es gelang, einer wiederum schwer abzuwägenden Mischung von kluger politischer Antizipation und Anpassung, energischer Repression und einer gehörigen Portion an Fortune zuzuschreiben. Es ist das große Verdienst des Verfassers, dass er diese Prozesse auf der Grundlage einer überwältigenden Menge an Quellenmaterial so souverän und markant herausarbeitet, ohne sich dabei im Labyrinth der Informationsflut und der ständig wechselnden Schauplätze zu verlieren. Auch unter diesem Aspekt steht sein aktuelles Werk damit seinen viel gelobten „Schlafwandler(n)“ an Qualität und erzählerischer Dichte nicht nur in nichts nach, sondern vermag diese nach dem Urteil des Rezensenten tatsächlich noch zu übertreffen.


 


Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic