Frankfurter Kriminalgeschichte(n)

Band 80 des Archivs für Frankfurts Geschichte und Kunst, herausgegeben von Kiermeier, Franziska, Frankfurt am Main 2023, 248 S., zahlreiche Abbildungen

Frankfurter Kriminalgeschichte(n), Band 80 des Archivs für Frankfurts Geschichte und Kunst, herausgegeben von Kiermeier, Franziska, Frankfurt am Main 2023, 248 S., zahlreiche Abbildungen

Auf der Grundlage einer Vortragsreihe, welche die Gesellschaft für Frankfurter Geschichte e.V. zusammen mit dem Institut für Stadtgeschichte 2018/2019 veranstaltet hatte, entstand nunmehr der 80. Band des Archivs für Frankfurts Geschichte und Kunst mit Beiträgen zur Frankfurter Kriminalitätsgeschichte vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Von den insgesamt neun Beiträgen stammen die beiden ersten aus der Feder des Historikers und Mitarbeiters am genannten Institut Michael Matthäus: „Die Frankfurter Scharfrichter in Mittelalter und Früher Neuzeit“ und „Biographische Skizzen Frankfurter Scharfrichter der Frühen Neuzeit“. Sie füllen etwa die Hälfte des Bandes aus. Matthäus wertet umfassend die noch vorhandenen zeitgenössischen Quellen, insbesondere die Bürgermeisterbücher und die Sammlung Criminalia sowie die einschlägige Literatur seit dem 18. Jahrhundert aus. Dadurch gelingt es ihm, viele Aspekte des Scharfrichteramtes und der persönlichen Situation dieser Personen zusammenhängend darzustellen. Nachdem die Vollstreckung von Strafen im 13. Jahrhundert einem der Schöffen übertragen war und man im 14. Jahrhundert für Hinrichtungen auswärtige Scharfrichter („Henker“, in Frankfurt meist „Züchtiger“) hatte kommen lassen, stellte die Stadt seit 1373 einen eigenen Henker ein. War die Vergütung der Scharfrichter zunächst recht gering, besserte sich ihre wirtschaftliche Lage, als sie ab 1530 zusätzlich die Abdeckerei, die Abtrittreinigung und weitere Tätigkeiten übernahmen. Auch in Frankfurt waren die Scharfrichter ehrlos und standen außerhalb der Gesellschaft, jeder Kontakt, vor allem jede Berührung mit ihnen mussten die übrigen Stadtbewohner vermeiden. Dies schildert der Autor eingehend und ermittelt, dass sich der Züchtiger erst seit 1777 nicht mehr von der Stadtbevölkerung absondern musste, sondern sich frei in der Einwohnerschaft bewegen durfte. Die Gefahr des Ehrverlustes ergab sich für die Stadtbewohner nicht nur durch Kontakt mit dem Scharfrichter, sondern für Handwerker ebenso durch Bauarbeiten am Galgen. Deshalb mussten alle Zunftmitglieder am Bau beteiligt werden. Dies führte1561 dazu, dass für einen abwesenden Zimmermann ein Nagel aufgehoben wurde, den er nach seiner Rückkehr in den Galgenbau einschlagen musste, „damit keiner den andern dieser Arbeit halber etwas fürzuwerffen Vrsach haben möchte“. Die Scharfrichter übernahmen seit etwa 1500 zudem die Durchführung der Folter, die bis dahin Aufgabe des Stöckers gewesen war. Matthäus beschreibt im Einzelnen die Tätigkeit der Scharfrichter bei der Vollstreckung der Todesstrafen, wobei die Enthauptung besondere Fertigkeiten des Henkers verlangte und in einigen Fällen missglückte, als es dem Scharfrichter nicht gelangt, mit nur einem Schwerthieb den Kopf des Delinquenten vom Rumpf abzutrennen. Matthäus betont, dass die Hinrichtung am Galgen, der in Frankfurt vermutlich in der Nähe der Kreuzung von Moselstraße und Taunusstraße stand, die häufigste und schändlichste der Todesstrafen war. Seit dem 17. Jahrhundert stellt der Verfasser, ähnlich wie frühere Autoren, einen Rückgang der Hinrichtungen auf etwa eine pro Jahr fest. In seinem zweiten Beitrag beschreibt Matthäus Amtsführung und private Verhältnisse der Scharfrichter, wobei er sich vor allem auf die Bittschriften (Supplikationen) der Amtsbewerber an den Frankfurter Rat stützen konnte. Dabei deckt er den Zeitraum von 1570 bis zum 1849 verstorbenen letzten Scharfrichter ab, der allerdings seit 1799 keine Hinrichtung mehr ausführte. Unter anderem schildert Matthäus, wie teilweise erbittert Bewerber um eine Annahme als Scharfrichter in Frankfurt konkurrierten. Bemerkenswert ist ebenso, dass Mitte des 17. Jahrhunderts ein Frankfurter Scharfrichter durch kaiserliche Restitution in den Ehrenstand versetzt und auf sein Begehren aus dem Scharfrichteramt entlassen wurde. Für die behandelte Epoche stellt der Autor fest, dass die meisten Scharfrichter aus wenigen Scharfrichtersippen entstammten, so allein 14 aus vier Familien. Ebenfalls zwei Beiträge hat die Rechtshistorikerin Barbara Dölemeyer verfasst. Unter dem Titel „ ,Far du gauch – Galgen, Pranger, Abweisezeichen in und um Frankfurt“ befasst sie sich mit einer rechtsarchäologischen Thematik, indem sie derartige Gegenstände der Kriminalgeschichte in Frankfurt und der weiteren Umgebung vorstellt. Sie wertet das dazu entstandene Schrifttum aus und stellt die einschlägigen Fotografien und Gemälde vor. Der Titelspruch gehört zu dem Bergen-Enkheimer „Fratzenstein“ aus dem Jahre 1479 und sollte das fahrende Volk davon abhalten, Bergen zu betreten. In dem zweiten Beitrag „Türme, Wachlokale, Schuldgefängnis – sichere Verwahrung für Delinquenten und Schuldner“ behandelt Dölemeyer anschaulich Gebäude, in denen in Frankfurt und umgebenden Orten Haftmaßnahmen vollzogen wurden. Seit dem Spätmittelalter waren dies häufig zur Stadtmauer gehörende Türme und Torbauten wie Eschenheimer Turm (1428 vollendet) und Katharinenpforte in Frankfurt, Oberpforte und Weißer Turm in Bergen oder in der Eppsteiner Burg der „Bettelbub“. Zu ergänzen sei noch der Rote Turm in Friedberg. Im Frankfurter Leinwandhaus (errichtet 1396-1399) waren Schuldner und Untersuchungs- und Strafgefangene eingesperrt. Haupt- und Konstablerwache (beide aus dem 18. Jahrhundert) enthielten neben Wachlokalen ebenfalls Gefängnisräume und wurden durch den Wachensturm von 1833 bekannt. Der Historiker und Fachmann für Münzgeschichte Konrad Schneider stellt in seinem Beitrag „Falschgeld und Falschmünzer in Frankfurt am Main“ zum einen die Techniken (Gießen und Prägen) der Münzfälscher vor, denen nach der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. der Feuertod drohte. Schneider stellt dazu fest, dass im 16. Jahrhundert drei Falschmünzer zu dieser Strafe verurteilt wurden, ab dem 17. Jahrhundert die Strafen indes häufig auf Zwangsarbeit sowie anschließende Stadtverweisung lauteten und somit deutlich milder ausfielen. Schneider erwähnt weiter die Betrugsvariante, in der die Täter Gutgläubigen vorspiegelten, ein Geist könne den Weg zu einem verborgenen Schatz weisen, und ihnen dafür Geldmünzen abnahmen. Die niederländische Historikerin Jeannette Kamp befasst sich unter der Überschrift „ ,So schon mehrmalen in Arrest hier gewesen, u. wegen ihres liederlichen leben sonsten bekanndt ist– Wiederholungstäterinnen in Frankfurt im 18. Jahrhundert“ mit vielfach belegten Fällen, in denen stadtverwiesene Frauen, zum Teil unter Bruch der anlässlich voriger Ausweisungen beschworener Urfehden, nach Frankfurt zurückkehrten und dort aufgegriffen wurden. Die Frage nach den Ursachen illegaler Rückkehr weiblicher Straftäterinnen, denen häufig Diebstahl oder „Liederlichkeit“ vorgeworfen worden war, beantwortet die Autorin dahin, dass die Anziehungskraft der Stadt aus regional bestimmten Wanderungsmustern resultierte. Es habe immer wieder die Möglichkeit bestanden, sich durch weiterbestehende Kontakte an verschiedenen Orten aufzuhalten. Für die relative geschlechtsspezifische Häufung spielte sicherlich auch eine Rolle, dass nach einer Stadtverweisung zurückkehrende Männer mit schweren Delikten wie Raub und Zugehörigkeit zu gefährlichen Diebesbanden assoziiert wurden, ihnen somit härtere Sanktionen drohten als Frauen, deren Mobilität die Obrigkeit eher als weniger bedrohlichen Moralverstoß empfand. Die gewaltsamen Aufstände in Frankfurt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunders sind Gegenstand des Beitrags „Sperrbatzenkrawall, Wachensturm und Henriette Zobel – politische „Kriminalität“ in und um Frankfurt 1815-1850“, in dem der Rechtshistoriker Andreas Eichstaedt die Erkenntnisse zu diesem Kapitel Frankfurter Geschichte zusammenfasst. Beim Zoll-Krawall wandten sich 1830 und 1832 kurhessisch-hanauische Bauern und Handwerker der Dörfer Bergen, Enkheim und Seckbach (vielleicht auch Fechenheim) gegen die Zollerhebung an den Zollstationen zur Freien Stadt Frankfurt. Das kurhessische Militär schlug die Aufstände mit Schusswaffeneinsatz nieder. 1831 wurde eine Menge von etwa eintausend Frankfurter Einwohnern gewalttätig, als sie bei der abendlichen Rückkehr von einem Volksfest die Einlassgebühr, den „Sperrbatzen“ zahlen sollten. Auch hierbei griff das zum Schutz des Bundestages in Frankfurt stationierte Militär mit Waffengewalt ein. Der Sturm auf die Haupt- und die Konstablerwache am 3. April 1833 wurde von rund 50 Personen, Burschenschaftlern, jungen Akademikern, Handwerkern und polnischen Offizieren geführt. Sie wollten die in den Wachen inhaftierten politischen Gefangenen befreien und die Gesandten des Bundestages im Palais Thurn und Taxis gefangen nehmen. Der Aufstand scheiterte schon nach kurzer Zeit, nicht nur weil – wie Eichstaedt zu Recht vertritt – die Behörden und das Militär zuvor durch einen anonymen Brief gewarnt worden waren, sondern vor allem wegen der mangelnden Beteiligung der Bevölkerung. Der Autor befasst sich sodann näher mit den von den Demagogen beauftragten Strafverteidigern, den Rechtsanwälten Friedrich Siegmund Jocho und Maximilian Reinganum. Letzterer war ein zum Protestantismus konvertierter Jude, den die Bankiers Rothschild als Hausjurist engagiert hatten. Die Forschung hält es für möglich, dass er die Bankiers von den Anschlagsvorhaben informierte und es dadurch zu der anonymen Warnung gekommen war. Die weitere Schilderung gilt der Ermordung der preußischen Nationalversammlungs-Abgeordneten Felix von Lichnowski und Hans von Auerswald am 17. September 1848. Durch das nachgiebige Verhalten Preußens im 1. Dänisch-Deutschen Krieg wurde eine Empörung im Reich ausgelöst, die in einer Volksversammlung auf der Frankfurter Pfingstweide gipfelte. Dabei habe sich die politisch hochinteressierte Bäckerstochter Henriette Zobel nach Zeugenaussagen dazu hinreißen lassen, die beiden Abgeordneten mit ihrem Schirm zu traktieren, was zu deren Tod geführt habe. Die beiden letzten Artikel des Sammelbandes beschäftigen sich mit Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Der Historiker Marcus Velke-Schmidt behandelt die „Kriminalgeschichte der Stadt Frankfurt am Main im Nationalsozialismus – eine Annäherung“. Unter anderem stellt er heraus, dass seit 1933 neben der „Ausmerzung des Berufsverbrechertums“ die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ zur Hauptaufgabe der Kriminalpolizei wurde. Sie überwachte nicht nur „Berufsverbrecher“, sondern observierte und ermittelte gegen Personen, die nach der nationalsozialistischen Ideologie außerhalb der Volksgemeinschaft standen und somit Staatsfeinde waren, wozu Wohnsitzlose, „Landstreicher“, „Zigeuner“, Bettler, Zuhälter und Juden gehörten. Mit Beginn des 2. Weltkrieges verstärkten sich Kriegswirtschaftsdelikte, mit dem Einsetzen der Luftangriffe auf Frankfurt am März 1944 aber auch Diebstähle aus offengelassenen Kellern und Wohnungen. Eingehend widmet sich Velke-Schmidt der Verfolgung Homosexueller beider Geschlechter. Sie führte zunächst nach dem sogenannten Röhm-Putsch zur „Säuberung“ in den eigenen Reihen wie SA und Hitlerjugend. Ab 1938 gab die Gestapo die Verfolgung Homosexueller auf, weil sie sich vorrangig mit der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung befasste, ebenso wirkte sich der Abzug von Polizeibeamten aus. Der Band schließt mit dem Beitrag des Politikwissenschaftlers Wolfgang Kraushaar „Frankfurt und der linke Terrorismus“. Der Autor behandelt die Aktivitäten der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) sowie der neben dieser entstandenen und im Sinne der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ agierenden „Revolutionären Zellen“ (RZ). Er beginnt mit dem Versuch einer Abgrenzung zwischen Terrorismus und Kriminalität. Sie könne zwar im „Politischen“ – gemeint ist die Motivation der Täter – gesehen werden, terroristisches Handeln breche aber mit grundlegenden Prinzipien des Politischen, da es ihm an der erforderlichen Kompromissfähigkeit mangele. Die „Rote Armee Fraktion“ sei entgegen ihrer Eigensicht in kürzester Zeit zu einer terroristischen Organisation geworden. Kraushaar schildert sodann chronologisch die Taten des linken Terrorismus‘, die teils in Frankfurt am Main selbst (Kaufhausbrandstiftungen 1968, Anschlag auf das US-Offizierskasino im IG-Farben-Gebäude 1970,  Mord am hessischen Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry 1981), teils unter Mitwirkung aus Frankfurt stammender Täter verübt wurden (Überfall auf die Teilnehmer der OPEC-Konferenz in Wien 1975) sowie die Entführung des Air-France-Flugzeugs nach Entebbe in Uganda 1976, mit der die „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ unter anderem inhaftierte Mitglieder der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ freipressen wollte. Die Rolle Frankfurts im linken Terrorismus beschreibt der Verfasser weniger als Rekrutierungsort, weil die Mitglieder der RAF hauptsächlich aus anderen deutschen Städten stammten und die Frankfurter Sponti-Szene in gewisser Weise durch die Hausbesetzungen im Westend gebunden gewesen sei. Frankfurt sei dagegen Tatort aufsehenerregender Aktionen und Gründungsort der RZ gewesen. Der Auffassung, Vertreter der Frankfurter Schule (Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Jürgen Habermas, Max Horkheimer, Herbert Marcuse) hätten mit ihrer Kritik am Kapitalismus dem linken Terrorismus den Weg geebnet, tritt Kraushaar entgegen. Sie hätten vielmehr vor Aktionismus und dem RAF-Terrorismus gewarnt.  Insgesamt zeichnet sich der Jahresband durch eine sorgfältige Auswertung der oft nur fragmentarisch erhaltenen Quellen und der bereits vorliegenden Literatur aus. Die reiche Bebilderung illustriert die Beiträge in besonderem Maße.

 

Bad Nauheim                                                                             Reinhard Schartl