Häussler, Matthias/Eckl, Andreas, Lothar von Trotha in Deutsch-Südwestafrika.
Im Jahr 2018 veröffentlichte Matthias Häussler seine „Der Genozid an den Herero. Krieg, Emotion und extreme Gewalt in Deutsch-Südwestafrika“ betitelte, von dem Soziologen Trutz von Trotha (1946 – 2013) angeregte und an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaft der Universität Luzern eingereichte Dissertation, die ein überzeugendes, von den drei Kernelementen der Komplexität, des Rassismus und der Emotion bestimmtes Erklärungsmodell für die eliminatorische Eskalation des kolonialen Konflikts in dieser ehemaligen deutschen Kolonie anbietet. Dergestalt dem Familienverband von Trotha vertraut, hat der mittlerweile am Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum wirkende Historiker, Philosoph und Sozialwissenschaftler nun gemeinsam mit Andreas Eckl ein weiteres Vorhaben umgesetzt: das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt „Text- und Bildnarrativ eines Genozids. Kritische Edition des schriftlichen und fotografischen Nachlasses von Lothar von Trotha, Oberkommandierender der Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika 1904 bis 1905“. Das Ergebnis liegt nun in zwei Bänden vor, deren erster die kommentierte Transkription des etwa 800 handschriftliche Seiten umfassenden Tagebuchs des Generalleutnants präsentiert, während der zweite Band eine von ihm erstellte Bildermappe mit insgesamt 206 Fotografien analysiert und interpretiert.
Das Tagebuch setzt ein mit Trothas Abreise aus Hamburg nach Namibia am 20. Mai 1904 und endet mit seiner Rückkehr in die Heimat am 14. Dezember 1905. Die Einträge verteilen sich auf insgesamt fünf unterschiedliche Textträger, zwischen denen der Schreiber, abhängig von den Möglichkeiten und äußeren Rahmenbedingungen (die notwendigen militärischen Marschbewegungen gingen zwangsläufig mit vorübergehenden Einschränkungen in der materiellen Ausstattung auch des Oberkommandierenden einher), ab und an wechselt, sodass eine Aufgabe der Editoren darin bestand, ein durchgehendes, dem Lauf der Chronologie folgendes Textkorpus zu formieren. In Bezug auf den Umfang und den Inhalt der Aufzeichnungen beobachten die Herausgeber folgenden Verlauf: „Je länger Trotha im Lande war und sich die Kriege hinzogen, desto weniger Energie verwandte er aufs Tagebuchschreiben. Zwar hielt er an dem Ritual fest, aber die Einträge werden merklich knapper. Der Tenor der Einträge zeugt von einer zunehmenden Frustration“ (S. 7). Einige wenige kurze Passagen der Handschrift weisen Schwärzungen auf, die hinsichtlich ihrer Genese und Intention unklar sind. Zudem habe sich ein schon 1931 von der Witwe des Schreibers, Lucy von Trotha, vorangetriebenes, nicht realisiertes erstes Editionsvorhaben unter anderem in Form eines maschinengetippten Transkripts erhalten, das jedenfalls „nur ergänzend und punktuell als ‚Übersetzungshilfe‘ herangezogen“ werden konnte, da es „sprachliche Abänderungen vornimmt, um den Stil zu verflüssigen und der Lesbarkeit Vorschub zu leisten, [und] zahlreiche Passagen (unterdrückt), und zwar auch und gerade solche, die für heikel erachtet wurden und die propagandistischen Zwecke zu konterkarieren drohten“ (S. 10).
Als historische Quelle gibt das Tagebuch nach Ansicht des Rezensenten vor allem Einblick in die Selbstinszenierung Lothar von Trothas, die wiederum einiges über die Persönlichkeit und die Psychologie des Protagonisten offenbart. Mit Überzeugung reklamiert er (der selbst über keine akademisch fundierte Generalstabsausbildung verfügt) für sich stets überlegene militärische Kompetenz und exklusive Einsicht in das militärisch und politisch Notwendige, in der Kolonie für ihn bekanntlich nicht Unterwerfung und Befriedung, sondern – wie mehrfach explizit festgehalten - die vollständige Vernichtung des Gegners (S. 43: „Die Eingeborenen müssen vernichtet werden, siehe Amerika, sei es durch die Kugel oder via Mission durch den Branntwein“). Die militärischen Operationen vermittelt der General so, als seien sie Trothas alleinige Schöpfung und nicht das Ergebnis der Arbeit eines planenden Stabs, (tatsächlich oder vermeintlich) unrichtige Militärkarten sind ihm ein Grund ständigen Lamentierens. Misserfolge und Unklarheiten in der Lage lastet er regelmäßig seinen vor Ort führenden Offizieren an, nur einige wenige finden seine Anerkennung. Das Schicksal seiner Pferde scheint ihm näher zu gehen als das seiner Soldaten (man beachte in diesem Zusammenhang auch den breiten Raum, den Pferdebilder in seinem Fotoalbum einnehmen). Seine anmaßenden, sarkastischen Werturteile treffen nicht nur die eigenen Offiziere, sondern nahezu alles und jeden: die Siedler und Amtsträger in der Kolonie (S. 43: „Jeder Europäer […], der zu Hause am Hungertuch genagt hat, ist hier nach 4 Wochen der große Herr und jedes Dienstmädchen nach 4 Wochen Gnädiges Fräulein“; S. 181: „Für 8000 M. faulenzen, das ist das deutsch afrikanische Bild“) bis hin zu Generalstabschef Graf Schlieffen (S. 141: „Alfred, Alfred! Geh in ein Kloster oder in ein Kaltwasserbad“) und die als rückgratlos eingeschätzten politischen Entscheidungsträger, die Diplomaten und die Presse in Berlin (S. 144: „Ich lasse mir von der Gesellschaft nichts gefallen“; S. 233: „Harden bringt den Wortlaut meiner Berichte seit Jahresfrist. Unerhört, dies Schweinpack im Auswärtigen Amt“ ). Frauen – Trothas erste Ehefrau war zu dieser Zeit zuhause in Deutschland schwer krank und verstarb noch vor seiner Heimreise – taxiert er gern in einem saloppen Macho-Tonfall (S. 133: „Um 4 Uhr kommt Frau v. B[urgsdorff] […] Sie ist groß, gute Figur not the youngest but good looking“; S. 222: „Nachmittag demonstriert Dr. Schultze ein Hottentottenweib. Brust und Gesäß wahrhaft formidabel“). Gern gibt Lothar von Trotha auch den weltgewandten polyglotten Schöngeist (so streut er in seine Tagebucheintragungen immer wieder Floskeln in englischer, französischer oder lateinischer Sprache ein, prekäre Passagen chiffriert er via kyrillische Buchstaben) mit naturwissenschaftlichen Interessen (Geographie, Geologie, Zoologie, Botanik) und Sinn für sprachlichen Humor (so verballhornt er mehrfach die Wendung „Das ist mir ein Rätsel“ zu „Det is mich ne Präzel“, vgl. S. 21). Seine dominante Prägung durch den militärischen Wertekanon äußert sich einerseits in der Entschiedenheit, mit welcher der ansonsten bei der Tötung Eingeborener gar nicht zimperliche General das heimtückische Niederschießen sich ergebender Hereros durch einen Offizier als „eine Gemeinheit 1. Ranges“ klassifiziert, die den Offizier „den Kragen kostet“ (S. 120f.), sowie andererseits in der überraschend anmutenden Wertschätzung des indigenen Nama-Anführers Jakob Morenga (auch: Marengo), der nach einem seiner Überfälle zur Versorgung seiner verwundeten Gegner einen Arzt herbeiruft, was Trotha zu der Feststellung veranlasst: „Eigentlich großartiger Kerl!“ (S. 235). Offensichtlich war Trotha, gemessen an den Maßstäben seiner Zeit, kein herausragend exponierter rassistischer Extremist, seine genozidalen Handlungen dürften weniger persönlichen Ressentiments den Kolonialvölkern gegenüber als vielmehr einer kalkulierten militärisch-politischen Handlungsrationalität geschuldet gewesen sein: die physische Vernichtung als radikalste und nachhaltige Verdrängung eines Gegners zum Zweck der langfristigen Sicherung der eigenen Herrschaft, emotional unterfüttert durch die von der Niederlage am Waterberg in Gang gesetzte, von Matthias Häussler in seinem eingangs erwähnten Werk beschriebene Scham-Wut-Spirale. Hierin unterschied der Oberkommandierende sich deutlich von seinem Widersacher und Vorgänger im Amt des Gouverneurs, Oberst Theodor Leutwein, der mit Blick auf wirtschaftliche Interessen Verhandlungslösungen bevorzugte.
Mit dem Selbstbild des sich stets theatralisch inszenierenden, überlegenen erfolgreichen „Machers“ kollidieren in der Realität die sich nur mühsam einstellenden militärischen Erfolge in dem ungleichen Krieg und die wachsende Kritik an Trothas brutalen Methoden in der deutschen Öffentlichkeit, der Presse und dem Reichstag, die in letzter Konsequenz seine Abberufung nach sich zog. Auf mangelnde Anerkennung reagiert er im wahrsten Sinne des Wortes verschnupft. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass die zahlreichen Krankheiten, über die der 1848 geborene, somit fortgeschrittene Mittfünfziger im Tagebuch immer wieder offen klagt und die ihn geradezu multimorbid erscheinen lassen (so „Übeldranigkeit“, Müdigkeit, Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen, Hexenschuss, Erkältung, Fieber, Herz- und Zahnschmerzen), auch und gerade eine Folge des andauernden psychischen Drucks waren, dem er ausgesetzt war. „In meiner Nase bereitet sich, fürchte ich, eine Katastrophe vor. […] Ha, an etwas muß man sterben, wenn es nur hält, bis diese Sache zu Ende. Ça suffit pour moi et les miens“ (14. Juli 1904, S. 51).
In Ergänzung ihrer „Anmerkungen zur Edition (S. 1 – 14) kommentieren die Herausgeber Trothas Tagebucheintragungen in insgesamt 1255 Fußnoten. Zusätzlich haben sie 46 Textdokumente in den Anhang gestellt, verschiedene Berichte, Presseartikel, Korrespondenzen und Verlautbarungen, darunter die Druckversion der formellen Grundlagen für die Übernahme der vollziehenden Gewalt durch Trotha in Deutsch-Südwestafrika vom 11. Juni 1904 (Dok. 1) und – dreifach – seinen berüchtigten „Aufruf an das Volk der Herero“ vom 1. Oktober 1904: in Transkription des Originals, in korrektem Otjiherero und in wörtlicher englischer Übersetzung (Dok. 7). Sehr bescheiden fällt leider das Personenregister aus, das keineswegs alle, sondern bestenfalls einen Bruchteil der in dem Tagebuch genannten Namen erfasst.
Am 14. Juli 1904 vermerkt der General unter anderem im Tagebuch: „Ich habe heute befohlen, daß Wachtmeister Stürmer […] wegen […] Unbrauchbarkeit […] zur Etappe kommt, hingegen soll der Photo Apparat hierher. Ich werde es lernen“ (S. 50f.). Der Oberkommandierende ist von nun an auch als Fotograf in eigener Sache unterwegs. Zwei Jahre nach seiner Rückkehr in die Heimat entschließt sich Lothar von Trotha, 206 Fotografien unter dem Titel „Bilder aus dem Krieg in Südwestafrika von Generalleutnant v. Trotha“ auf 35 Seiten strukturiert zu einer Mappe zusammenzustellen, „auf den ersten Blick ein sehr persönliches Erinnerungsbuch eines Egozentrikers, der überhaupt erst in DSWA zum Hobbyfotografen wurde“, bei genauerem Hinsehen jedoch vor allem eine „gegen die öffentliche Wahrnehmung und Interpretation des Kriegsgeschehens und seiner Rolle darin“ gerichtete, „alternative Erzählung für die Nachwelt, in die seine Interpretationen und Bedeutungszuschreibungen des Kriegsgeschehens eingebettet sind“ (S. 3f.). Die weitgehend chronologisch aufgebaute Bilderzählung hat Trotha in 16 Kapitel unterteilt, die Umfänge zwischen einer und drei Tafeln sowie zwischen minimal vier und maximal zwanzig Bildern aufweisen und folgende Bezeichnungen tragen: 1 Von Swakopmund in das Hereroland, 2 Hererofeldzug, 3 Waterberg – Hamakari, 4 Otjosondu, 5 Windhuk, 6 Hauptquartier, 7 Hauptquartier auf dem Marsch, 8 Kub und Gibeon am Fischfluß, 9 Keetmanshoop, 10 Pferdebilder, 11 Große Brukaros, 12 Bethanierfeldzug, 13 Marsch nach Lüderitzbucht, 14 Heimreise, 15 Einzelbilder, 16 Der General. Die Edition widmet jeder Aufnahme eine eigene Seite, wobei das jeweilige Bild etwa die eine Hälfte des verfügbaren Raumes einnimmt, während die zweite Hälfte den Kommentatoren für ihre sachkundigen Erläuterungen zur Verfügung steht.
In ihrem zusammenfassenden Analyseblock stellen die Herausgeber unter anderem fest: „Trotha kontrastiert nicht, er vergleicht nicht und wertet damit auch nicht ab. Das Andere oder Fremde interessiert ihn nicht sonderlich, weder in diesem Album noch im Tagebuch. […] Die Verortung der Bildermappe Trothas im allgemeinen Kontext der ‚Kriegsfotografie‘ zeigt, dass die Motivcluster […] in weiten Teilen konventionell sind und die für das Genre ,Kriegsfotografie‘ zu erwartenden Fotos umfassen“ (S. 287). Der Kern des mit der Bildermappe transportierten Narrativs sei die Botschaft: „Alles in bester Ordnung, ‚tous va bien toujours ici‘“. Alle Aufnahmen betonten „genau das: die Alltäglichkeit des Kriegsgeschehens und die Normalität des Erlebten in Zeiten des Krieges und damit des Krieges selbst“. Selbst der Tod habe sich dieser Ordnung zu fügen, Verwundete erscheinen nur als Versorgte im Krankenbett, Gefallene beerdigt im ordentlichen Heldengrab. „Bilder von getöteten, gefallenen oder auch nur verletzten Soldaten dagegen würden verstörend wirken, sie sind ein Abbild von Chaos und Unordnung, und derartige Aufnahmen fehlen im Album“ (S. 291f.). Bemerkenswert seien deshalb vor allem die Lücken in der Berichterstattung, die Ausklammerung aller Kriegsgräuel: „Es gibt keine Bilder von den Kampfhandlungen, keine Aufnahmen der Schlachtfelder, keine Bilder vom Feind, von verletzten oder toten Afrikaner:innen, keine Hinrichtungen, keine Aufnahmen aus der Omaheke, keine Bilder von Kriegsgefangenen, keine Bilder aus den Konzentrationslagern“, obwohl all das ein zentraler Teil von Trothas persönlicher Erfahrung gewesen sei. Über die Gründe dieser Selektion könne man nur spekulieren (bewusste Einflussnahme auf die Erinnerungskultur, Verdrängungsmechanismen, Mangel an Empathie), doch könne sie „kein Zufall sein, sondern muss aus einem bestimmten Grund erfolgt sein“ (S. 310f.). Zur nachhaltigen Beeinflussung der öffentlichen Meinung habe Trotha seine nur in kleinster Auflage produzierte Bildermappe wohl nicht für geeignet erachtet. Ein „Politik und Kriegführung“ überschriebener Artikel aus seiner Feder, publiziert in den „Berliner Neueste(n) Nachrichten“ vom 3. Februar 1909 und der aktuellen Edition ergänzend beigefügt, schien ihm in dieser Hinsicht mehr Erfolg zu versprechen.
Tagebuch und Bildermappe stehen nach Auffassung der Herausgeber in einer spezifischen funktionalen Beziehung. In seinem Tagebuch bringe Trotha „keine Selbstzweifel zum Ausdruck mit Blick auf sein Wirken als Oberkommandierender der Schutztruppe. Wohl aber verdeutlichen diese Notate permanente Erfahrungen von Unplanmäßigkeit, Unordnung und Chaos und letzten Endes auch ein gewisses Maß an Ohnmacht gegenüber diesen Missständen und Misserfolgen“. Die Bildermappe mit dem „Narrativ des ‚Alles in bester Ordnung‘ blendet diese Aspekte vollkommen aus und überblendet damit letztlich die persönliche Erinnerung an das Geschehen“, sie vollziehe geradezu eine „massive Umformung der Erinnerung“ (S. 302). Bei der quellenkritischen Würdigung und der Verwendung der beiden Zeitzeugnisse in der Forschungsarbeit ist diesem Aspekt zweifellos eine besondere Beachtung zu schenken.
Kapfenberg Werner Augustinovic