Die Protokolle des österreichischen Ministerrates

1848-1867. 2. Abteilung Das Ministerium Schwarzenberg. Bd. 1 5. Dezember 1848-7. Jänner 1850, bearb. u. eingel. v. Kletečka, Thomas. Österreichischer Bundesverlag, Wien 2003. LXVIII, 1096 S. Besprochen von Thomas Olechowski.

Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867. 2. Abteilung Das Ministerium Schwarzenberg. Bd. 1 5. Dezember 1848-7. Jänner 1850, bearb. u. eingel. v. Kletečka, Thomas. Österreichischer Bundesverlag, Wien 2003. LXVIII, 1096 S.

Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867. 4. Abteilung Das Ministerium Rechberg. Bd. 1 19. Mai 1859-2./3. März 1860, bearb. u. eingel. v. Malfèr, Stefan. Österreichischer Bundesverlag, Wien 2003. LXXXV, 559 S.

 

Wendepunkte der österreichischen Verfassungsgeschichte behandeln die beiden hier zu besprechenden Protokollbände: Enthält der erste Band die Thronbesteigung Franz Josephs, die Auflösung des konstituierenden Reichstags und die Oktroyierung der Reichsverfassung vom 4. 3. 1849, also den Niedergang der ersten parlamentarischen Ära, so beschreibt der andere Band den Weg von der militärischen Niederlage 1859 über die daraus resultierende Staats- und Finanzkrise hin zur Einberufung des sog. „verstärkten Reichsrates“, also den zögerlichen Anbruch der zweiten parlamentarischen Ära in Österreich.

 

Wer sich bei der Herausgabe der ersten Bände der österreichischen Ministerratsprotokolle in den Siebziger Jahren gefragt hat, weshalb die Bearbeiter bei der Reihenfolge, in der sie die Protokolle edierten, nicht chronologisch vorgegangen sind, sondern sich die „spannendsten“ Kapitel bis zuletzt aufgehoben haben, wird bei der Lektüre der nun erschienenen Bände die Antwort finden: Die Herausgabe der österreichischen Ministerratsprotokolle stellt ein wissenschaftliches Großprojekt dar, in dessen Natur es liegt, dass sich die Editionstechnik mit dem Fortschreiten der Arbeit immer mehr verfeinerte. Bei der Behandlung der jetzt edierten Protokolle konnten die Bearbeiter den ganzen Erfahrungsschatz einbringen, den ihre Vorgänger und sie selbst im Laufe von drei Jahrzehnten gesammelt haben (Thomas Kletečka hat bereits die Zeiträume 20. 3. 1848–21. 11. 1848 und 4. 5. 1863–23. 5. 1864, Stefan Malfèr die Zeiträume 1. 5. 1861–6. 5. 1862, 3. 11. 1862–30. 4. 1863 und 25. 5. 1864–11. 7. 1865 bearbeitet), sodass rundweg gesagt werden kann: Hier haben zwei echte Kenner der Materie Quelleneditionen von höchstem Niveau vorgelegt.

 

Dies beweisen nicht nur die 44 bzw. 62 Seiten langen Einleitungen, die teils als Zusammenfassung des Editionsteils, teils überhaupt als Abriss der politischen Geschichte 1848/1849 bzw. 1859/1860 verstanden werden können, sondern auch und vor allem der umfangreiche Anmerkungsapparat: Zu jedem Protokoll finden sich zahlreiche Hinweise auf die in der betreffenden Ministerratssitzung erwähnten Personen und Materien, wofür die beiden Bearbeiter nicht nur zahlreiches an anderer Stelle gedrucktes Quellenmaterial und die Sekundärliteratur verarbeitet, sondern oft auch in anderen Archivbeständen recherchiert haben, und zwar in einer weit über das übliche Maß hinausgehenden Art und Weise. Das heißt nicht, dass die Bearbeiter künftigen Historikern jede Arbeit abgenommen haben und es zu den genannten Zeiträumen nichts mehr zu schreiben gäbe – aber erleichtert haben sie die weitere Arbeit allemal.

 

Müssen die vorhandenen Geschichtsbücher umgeschrieben werden, nun da die Quellen gedruckt vorliegen? Bringen die Protokollbände neue, Bahn brechende Erkenntnisse? Diese Fragen sind sehr schwer zu beantworten. Vieles, das hier ediert wurde, war zumindest in seinen Grundzügen schon bekannt, ein kleiner Teil hatte sogar schon Eingang in ältere Quelleneditionen gefunden (so z. B. die außerordentlichen Konferenzen vom August 1859, die nun im Anhang zu Band 4/1 wiedergegeben werden, bereits 1971 in der „Österreichischen Zentralverwaltung“). Gerade der Vergleich mit der genannten Quellenedition aber macht den Wert der nun vorliegenden Protokollbände deutlich: Handelte es sich doch bei der „Zentralverwaltung“ eher um eine willkürliche Auswahl von Quellen, während nunmehr eine Edition sämtlicher Protokolle vorliegt, die daher ein geschlossenes Bild der Epoche ermöglicht und die, wie gesagt, auch auf editionstechnisch höchstem Niveau ist, was von der „Zentralverwaltung“ nicht immer gesagt werden kann. Der Rezensent ist daher zuversichtlich, dass die Protokollbände nicht nur unzählige neue Details zutage fördern, sondern spätestens nach Abschluss der beiden hier eröffneten Abteilungen II (Ministerium Schwarzenberg) und IV (Ministerium Rechberg) auch insgesamt zu einer Neubewertung dieser Regierungen führen werden.

 

Es wäre ein sinnloses Unterfangen, hier die Ereignisse von 1848/1849 und 1859/1860 zusammenzufassen; nur einige interessante Aspekte, die dem Rezensenten aufgefallen sind, können hervorgehoben werden.

 

So etwa der finanzielle Aspekt. Die große Bedeutung der finanziellen Notlage der Monarchie für die politischen Ereignisse 1859/1860 dürfte hinlänglich bekannt sein, weniger aber vielleicht für die Ereignisse 1848/1849. Auch damals befand sich nämlich die Monarchie am Rande des finanziellen Zusammenbruchs: Ausgaben von 163 Millionen Gulden standen nur Einnahmen von 101 Millionen gegenüber; der Finanzminister Philipp Freiherr von Krauß musste in der Ministerratssitzung vom 28. 12. 1848 die Vertrauensfrage stellen; sein Verbleiben im Amt war wohl vor allem dem Umstand zu verdanken, dass es ihm gelungen war, beim Reichstag die Bewilligung eines 80-Millionen-Kredits zu erwirken. Dies führt die große Bedeutung, die der Reichstag gegenüber dem Ministerrat noch zu diesem Zeitpunkt hatte, plastisch vor Augen. Dass bei dieser Gelegenheit der ehemalige Hofkammerpräsident Karl von Kübeck schon als Nachfolger Krauß’ gehandelt wurde, zeigt, dass sich Ministerpräsident Schwarzenberg damals offenbar eine Zusammenarbeit mit seinem späteren Erzrivalen Kübeck noch gut vorstellen konnte.

 

Geradezu dramatisch lesen sich jene Protokolle, die sich mit der Frage der Auflösung des Reichstages beschäftigen; in der – in Kremsier, dem Sitz des Reichstages, stattfindenden! – Ministerratssitzung vom 6. 1. 1849 erhebt vor allem der damalige Handelsminister Karl Ludwig Freiherr von Bruck diese Forderung, da der Reichstag „die Achtung der Welt verloren habe“ und „seine Auflösung … in der Monarchie allenthalben den besten Eindruck hervorbringen, den Staatskredit heben und auch dem Ansehen Österreichs im Auslande förderlich sein“ werde. Die Sitzung vom 4. 3. 1849 findet unter dem Vorsitz des noch nicht 19jährigen Kaisers statt, welcher dem Ministerrat eröffnet, dass „Se. Majestät … dem vorgelegten, definitiv redigierten Verfassungsentwurfe … die Ah. Genehmigung zu erteilen geruhen“; beraten wird in dieser Sitzung noch das Manifest, mit dem die neue Verfassung verkündet werden solle, und insbesondere, wie die Auflösung des Reichstages in diesem Manifest begründet werden solle. Innenminister Franz Graf Stadion, Finanzminister Krauß, Justizminister Alexander Bach sowie Bergbauminister Ferdinand Ritter von Thinnfeld sprechen sich noch für eine milde Fassung aus, da die „gerügten Handlungen“ nur einzelnen Deputierten und Ausschüssen, nicht aber dem Reichstag als solchem anzulasten seien, während die übrigen für eine „entschiedene Sprache“ votieren; Bruck allerdings setzt es durch, dass weniger der „schlechte Geist, von welchem der Reichstag zu Kremsier erfüllt ist“ als vielmehr die Tatsache in den Vordergrund gestellt werden soll, „daß eine alle Länder Österreichs verbindende Verfassung von diesem Reichstage nicht ausgehen könne“ (weil im Reichstag weder Abgeordnete aus den ungarischen noch aus den italienischen Provinzen vertreten sind). Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die energische Vorgangsweise Brucks, aber auch die mäßigende Haltung Bachs in Bezug auf den Reichstag künftig zu einer Neubewertung dieser so schillernden Persönlichkeiten in der Historiographie beitragen wird.

 

Bruck, der 1851 als Handelsminister demissionierte, aber 1855 als Finanzminister wieder ins Kabinett berufen wurde, spielt auch im anderen hier zu besprechenden Protokollband eine Schlüsselrolle. Denn die katastrophale Lage der Staatsfinanzen, hervorgerufen durch den verlorenen Krieg von 1859, der neben Tausenden von Toten auch rund 200 Millionen Gulden gekostet hatte, ist, wie bereits erwähnt, der Grund für die Notwendigkeit, wiederum parlamentarische Institutionen einzuführen. In der Ministerkonferenz vom 7. 7. 1859 legt Bruck einen Entwurf für eine Verordnung vor, nach der „Vertrauensmänner unmittelbar einberufen werden sollen“, um die „Repartition“ der ungeheueren Anleihen, die zwei Tage zuvor beschlossen worden waren, zu kontrollieren – eine Maßnahme, die seines Erachtens unumgänglich ist, da ansonsten das „Publikum“ das Vertrauen in die österreichischen Banknoten völlig verlieren und zu Silber Zuflucht nehmen werde. Die übrigen Minister merken wohl, dass von diesen „Vertrauensmännern“ eine große Gefahr, die Wiedereinführung eines Reichstages ausgehen könne. Um sie abzuwehren, schlägt Justizminister Franz Graf Nádasdy vor, dass sich ja der Reichsrat gegebenenfalls die „Beihilfe von Vertrauensmännern … werde verschaffen können“. – Hier taucht also zum ersten Mal die Idee auf, den 1851 geschaffenen Reichsrat, der zu dieser Zeit Form und Funktion eines Kronrates besitzt, um weitere Mitglieder zu „verstärken“; § 16 des Reichsratsstatuts sah ja die Möglichkeit der Bestellung „zeitlicher Teilnehmer“ für die Behandlung besonderer Fragen vor. Am 26. 10. 1859 aber schlägt Kultusminister Leo Graf Thun vor, dass die Verstärkung nicht nach § 16 erfolgen solle: Der Reichsrat solle nicht durch „zeitliche“, sondern durch „außerordentliche“ Mitglieder verstärkt werden, da es sich nicht um bloße Fachexperten handeln soll (wie dies etwa bei der Beratung des Strafgesetzes 1852 der Fall gewesen war); vielmehr solle ja überhaupt der Reichsrat seinem Wesen nach reformiert werden. Dies ist letztlich auch das Ergebnis der Beratungen vom 23.-26. 1. 1860, in der über die Zusammensetzung des verstärkten Reichsrates intensiv diskutiert wird, und wenn auch Thun betont, dass „der verstärkte Reichsrat … kein repräsentativer Körper im konstitutionellen Sinne“ sein solle, „sondern nach wie vor der oberste Ratgeber der Krone“, so wird doch gerade aus dieser Formulierung deutlich, dass die Minister damals bereits ahnen, dass eine Rückkehr zu konstitutionellen Repräsentativkörperschaften unmittelbar droht. Der verstärkte Reichsrat, so restriktiv auch die Bestimmungen über seine Zusammensetzung und so gering seine Kompetenzen zunächst auch sein mögen, ist der Nukleus für das spätere cisleithanische Parlament.

 

An einem Thema kann ein Wiener Rezensent nicht vorbeigehen: der Wiener Stadterweiterung, zu der Bach – mittlerweile nicht mehr Justizminister, sondern Innenminister – am 21. 5. 1859 einen ersten Plan in die Ministerkonferenz brachte. Hier sehen wir Bach und Bruck nicht um die hohe Politik streiten, sondern z. B. über den Standort einer Bäckerei, und ob sie nicht zu einer Rauchbelästigung der Wienerinnen und Wiener führen könne; der der Konferenz hinzugezogene Feldmarschallleutnant Freiherr von Kellner verteidigt die geplante Errichtung von freistehenden Wachthäusern, die deshalb notwendig seien, weil nach der Schleifung der Stadtmauern die bisherigen Torwachen wegfielen.

 

Diese und viele andere für die österreichische Verfassungsgeschichte, die Wiener Stadtgeschichte oder auf andere Weise bedeutsame Diskussionen können in den beiden Protokollbänden nachgelesen werden. Was leider fehlt, sind die in den Ministerratssitzungen bzw. Ministerkonferenzen besprochenen Entwürfe, von denen im Anmerkungsapparat meist nur gesagt wird, ob sie dem Originalprotokoll beiliegen oder nicht, und ohne die die Diskussionen manchmal nur schwer verständlich sind. Wer ihren Inhalt erfahren will, dem bleibt es nicht erspart, die entsprechenden Bestände im Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Abteilung Kabinettsarchiv/Ministerratsprotokolle) auszuheben. Das ist schade, da es doch eigentlich Sinn der Edition wäre, die Benützung der genannten Bestände mit der Zeit überflüssig zu machen. Es wäre daher schön, wenn sich die Herausgeber der „Österreichischen Ministerratsprotokolle“ spätestens nach Vollendung der Protokolledition auch dieser so wichtigen Quellen annehmen und wenigstens die wichtigsten von ihnen – z. B. in Sonderbänden, die die Protokollbände ergänzen, oder auch als CD-Rom, die den Protokollbänden beigelegt wird – edieren.

 

Zuletzt noch eine kleine Kritik an der Einleitung in Bd 2/1, in die sich doch einige störende Tippfehler eingeschlichen haben, was wenigstens insofern nicht tragisch ist, als die Fehler offensichtlich sind und sich auf die Einleitung beschränken, während die Edition, soweit festgestellt werden konnte, fehlerfrei geblieben ist. „Tragisch“, wenn das Wort überhaupt verwendet werden kann, ist es allerdings, wenn die Begriffe „Reichstag“ und „Reichsrat“ gleich mehrmals verwechselt werden (Bd 2/1, XXIV). Aber auch dieser Lapsus steht natürlich in keinem Verhältnis zum hervorragenden Gesamteindruck der Edition.

 

Vielmehr seien die beiden Herausgeber – von denen Stefan Malfèr nunmehr übrigens auch die Gesamtredaktion der Protokollbände übernommen hat – ermutigt, ihre Arbeit konsequent fortzusetzen und bei gleich bleibender Qualität schon bald die nächsten Bände folgen zu lassen. Alle Historiker, Historikerinnen, Rechtshistoriker und Rechtshistorikerinnen, die zur österreichischen (Verfassungs-)Geschichte des 19. Jahrhunderts arbeiten, werden es ihnen danken!

 

Wien                                                                                                              Thomas Olechowski