Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38

. Band 6/1, 6/2 3. Januar 1867 bis 20. Dezember 1878, bearb. v. Paetau, Rainer unter Mitarbeit v. Spenkuch, Hartwin (= Acta Borussica N. F. Erste Reihe, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 6). Olms-Weidmann, Hildesheim 2004.IX, 1-504, VI, 505-806 S. Besprochen von Werner Schubert.

Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38. Band 4/1 und 4/2 30. März 1848-27. Oktober 1858, bearb. v. Holtz, Bärbel (= Acta Borussica N. F. Erste Reihe, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 4). Olms-Weidmann, Hildesheim 2003. XX, 738 S. Band 6/1, 6/2 3. Januar 1867 bis 20. Dezember 1878, bearb. v. Paetau, Rainer unter Mitarbeit v. Spenkuch, Hartwin (= Acta Borussica N. F. Erste Reihe, hg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 6). Olms-Weidmann, Hildesheim 2004.IX, 1-504, VI, 505-806 S.

 

Die bereits früher vorgestellte (ZRG Germ. Abt. 121 [2004]) Mikrofiche- und Regestenedition ist inzwischen mit den Bänden 4 und 6 fortgesetzt worden. Sie erschließen den Inhalt und die Hauptergebnisse der Beratungen des Staatsministeriums und des Kronrats, die innerhalb der „mehrstufigen regierungsinternen Diskussionen die Phase der kollegialen Aussprache und der Entscheidungsvorbereitung für den Monarchen“ (S. 3) erfassen. Der von B. Holtz bearbeitete Band 4 umfasst den Zeitraum vom 30. 3. 1848 bis zum 27. 10. 1858 und dokumentiert insgesamt 702 Sitzungen (davon 86 Kronratssitzungen mit dem Monarchen). Allerdings finden sich in den für 1848 (ab Ende März) bis zum Jahresende überlieferten 17 Protokollen keine Angaben zu der verfassungspolitischen Thematik dieser Jahre (Verfassungsdebatte; Verlegung der preußischen Nationalversammlung; Vorbereitung eines Staatsstreichs), obwohl besonders im April, Mai und im Herbst 1848 weitaus mehr Sitzungen stattgefunden haben, deren Protokolle, sofern überhaupt solche existierten, nicht auffindbar sind (vgl. S. 39ff.). Dabei sind für die Jahre 1848 und 1850 mit 101 bzw. 106 Protokollen für das politische Geschehen dieser Jahre (Entscheidungen um die Frankfurter Reichsverfassung und die Erfurter Union) die Staatsministerialverhandlungen sehr ergiebig. Die von Preußen vorgesehenen Gesetzentwürfe zur Organisation des Reichsgerichts der Erfurter Union (hierzu W. Schubert, ZRG Germ. Abt., Bd. 101 [1984], S. 169ff.) waren nicht Gegenstand der Beratungen des Staatsministeriums. Da die preußische Verfassung nicht wenige Gesetzesvorbehalte enthielt, ging es zunächst darum, diese durch sog. organische Gesetze auszuformen und nicht selten im Sinne einer restaurativen Gesellschaftspolitik zu revidieren. Außer der Beamten- und Richterdisziplinierung sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen das Gesetz über die Presse (1851), die Einberufung der alten Provinzialstände (1851), die Wiederherstellung der gutsherrlichen Polizeiverwaltung, die Abänderung der Art. 94 und 95 der Verfassung hinsichtlich der Geschworenengerichte (1852) und die Stiehlschen Regulative von 1854 zur konservativen Korrektur der Volksschulpolitik. Nicht eingeführt wurde die Zivilehe entsprechend Art. 19 der Verfassung (vgl. S. 68), und zwar auch nicht in der Form der Notzivilehe, für die sich Friedrich Wilhelm IV. und eine Minderheit des Staatsministeriums einsetzten (vgl. S. 404f.). Der wichtigste zivilrechtliche Beratungsgegenstand zwischen 1854 und 1858 war die Reform des materiellen und formellen Ehescheidungsrechts, die 1844 unvollendet geblieben war. Hierbei ging es um die Einschränkung der Ehescheidungsgründe des Allgemeinen Landrechts und die vom König geforderte Zulassung der Trennung von Tisch und Bett (vgl. S. 341, 349, 350, 358f., 384f., 398, 404f., 425, 429). Abgelehnt wurde die von den katholischen Abgeordneten des Abgeordnetenhauses geforderte Wiedereinführung der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit (S. 413). Im Staatsministerium wurden ferner beraten die Gesetze von Anfang 1849 über die neue Gerichtsverfassung und über die Einführung von Geschworenengerichten (S. 68f., 217), die Novelle von 1853 zum Hypothekenrecht (S. 256), das Kinderarbeitsgesetz von 1853 (S. 269; hierzu auch das von Holtz angeführte Werk von D. Kastner, Kinderarbeit im Rheinland, Köln 2003), die Verschärfung des Gesinderechts (1854; S. 283, 436), das Konkurs- und Anfechtungsrecht von 1855 (S. 509, 450) sowie das Minderjährigenkredit- und das Wuchergesetz (S. 406, 430). Keine Erwähnung findet in den Protokollen die Stellung Preußens zu dem von Bayern beim Deutschen Bund eingebrachten Antrag auf Einberufung der später sog. Nürnberger Konferenz zur Ausarbeitung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs. Wiederholt kam auch das Strafrecht zur Sprache (u. a. S. 191 hinsichtlich des Strafgesetzbuchs von 1851). Hinzu kamen noch die zahlreichen Entwürfe zum öffentlichen Recht, insbesondere zum Kommunalverfassungsrecht. In der breiten, sehr konzentriert geschriebenen Einleitung (S. 1-45) geht Holtz auf die Ministerpräsidenten zwischen dem März 1848 bis Oktober 1858 sowie auch auf die meisten Ressortminister im Einzelnen ein (leider nicht auf den Justizminister Simons). Neben Ferdinand von Westphalen als „hartnäckigen Vertreter repressiven Vorgehens“, der die Forderungen der Kamerilla im Kabinett vertrat (S. 31), stellt Holtz insbesondere den Ministerpräsidenten v. Manteuffel als eigenständige Persönlichkeit heraus, der Preußens Zukunft „in dem aus der Revolution hervorgegangenen Verfassungsstaat durch eine erforderliche soziale Reform und Neuorganisation der ständischen Gruppenordnung sichern“ wollte (S. 30). Insgesamt enthält der von Holtz bearbeitete Band hinreichend aussagekräftige Regesten und Verweise auf die einschlägigen Archivalien und die dazugehörige Literatur, so dass die Grundlagen der bedeutsamen Gesetzgebungsgeschichte der Reaktionszeit zwischen 1850 und 1858 auch dem Rechtshistoriker leichter zugänglich ist als bisher.

 

Der von Paetau unter Mitarbeit Hartwin Spenkuchs bearbeitete Band 6 umfasst die Zeit vom 3. 1. 1867 bis zum 20. 12. 1878, mithin den Übergang vom Deutschen Bund zum Norddeutschen Bund, diesen selbst und das Deutsche Reich bis zur innenpolitischen Wende Bismarcks. Hauptthemen dieser Zeit waren die Finanzierung des deutsch-französischen Krieges, die Verwaltung von Elsaß-Lothringen, die Bedingungen des Friedens mit Frankreich, der Etat des Heeres und der Marine, die Integration der Provinzen Hannover, Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau, der Kulturkampf sowie die Finanz-, Steuer- und Zollpolitik und die Vereinheitlichung und Reformgesetzgebung des Reichs und Preußens. Mit der dem Justizministerium unterfallenden Gesetzgebung gehört die Ära des aus Hannover stammenden Justizministers Leonhardt neben der Vormärzzeit zu den wichtigsten und fruchtbarsten Epochen der deutsch-preußischen Rechtsgeschichte. In das Reichsstrafgesetzbuch von 1870/1871 konnte Preußen wesentliche Teile seines Strafgesetzbuchs von 1851 einbringen (hierzu die Verhandlungen des Staatsministeriums insbesondere über die Beibehaltung der Todesstrafe S. 181f., 183; sämtliche einschlägigen StM-Prot. bei W. Schubert/Th. Vormbaum, Entstehung des StGB, Bd. 2, Berlin 2004). Mit den Reichsjustizgesetzen (GVG, CPO, StPO) befasste sich das Staatsministerium über mehrere Jahre hinweg wiederholt (S. 93, 355f., 431, 432f., 439ff., 497, 519, 586); sie führten zu einer grundlegenden Reform und Vereinheitlichung der preußischen Justizverfassung und deren prozessualen Grundlagen (vgl. S. 13 f.). Das Staatsministerium beschäftigte sich auch mit der Errichtung des Bundes-(Reichs-)Oberhandelsgerichts und dem Sitz des Reichsgerichts (S. 140, 448) sowie mit Problemen der Rechtsanwaltsordnung von 1878 (S. 470, 488, 625) und der Umsetzung des Gerichtsverfassungsgesetzes durch die Neuinstallierung der ordentlichen Gerichtsbarkeit (S. 470, 474, 476). Nur knapp behandelt wurden im Staatsministerium das Urheber- und Patentrecht. Nachdem die Einführung der fakultativen Zivilehe in der Restaurationszeit gescheitet war, setzte das Staatsministerium zunächst in Preußen (1874) und 1875 im Reich die Einführung der obligatorischen Zivilehe durch. Die Personenstandsgesetze Preußens und des Reichs waren längere Zeit Gegenstand der Beratungen des Staatsministeriums (S. 161f., 168, 243, 261, 263, 286, 302, 313, 329, 345, 363, 375f., 377, 379). Die wichtigste bürgerlichrechtliche, auch für das spätere Bürgerliche Gesewtzbuch wegweisende Reform betraf das Immobiliarsachenrecht durch das Eigentumsübertragungsgesetz von 1872, verbunden mit einer Neuordnung des Hypothekenrechts und dem Erlass einer Grundbuchordnung (S. 111, 122, 205f., 214, 264, 271; hierzu Stephan Buchholz, Abstraktionsprinzip und Immobiliarrecht, 1978; W. Schubert, Beratung des BGB, Sachenrecht III [Grundbuchordnung], Berlin 1982, S. 27ff.). Das Recht der Zwangsversteigerung von Grundstücken war bereits durch ein Gesetz von 1869 erheblich geändert worden (S. 122, 500 [1878]; hierzu W. Schubert, Beratung des BGB, Sachenrecht IV, Berlin 1983, S. 5ff.). 1875 erging eine Vormundschaftsordnung, welche das überreglementierte Vormundschaftsrecht des Allgemeinen Landrechts erheblich liberalisierte (hierzu W. Schubert, in: J. Wolff, Das Preuß. ALR, 1995, S. 237ff.). Weitere wichtige personen- und familienrechtliche Reformen brachten das Volljährigkeitsgesetz von 1869 (S. 155f.), das Gesetz über die Bürgschaften von Frauen und vor allem das Geschäftsfähigkeitsgesetz von 1875 (S. 338f.). Befürwortet wurden vom Staatsministerium die Publizierung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs und der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung als Bundesgesetze (S. 137; hierzu W. Schubert, ZHR 144 [1980], S. 484ff.) und der Wegfall des Konzessionsprinzips für die Gründung von Aktiengesellschaften (S. 175, hierzu W. Schubert, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, 1981, S. 285ff.; S. 430 Befassung des Staatsministeriums mit den Missbräuchen des Aktienrechts, hierzu Rez., in: W. Schubert/P. Hommelhoff, Hundert Jahre modernes Aktienrecht, Berlin 1985, S. 7ff.). Endlich sei noch hingewiesen auf das zukunftsträchtige Gesetz über die Einführung von Erbbescheinigungen (Erbschein) von 1869 (hierzu M. P. Hirsch, Von der Erbbescheinigung des preußischen Rechts zum Erbschein des BGB, Frankfurt a.M., 2004). Im Berichtszeitraum erfolgten ferner wichtige Reformen des Kommunal- und Provinzialrechts und vor allem die Begründung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durch Installierung des Oberverwaltungsgerichts sowie eine Neuregelung des noch weitgehend privatrechtlich orientierten Enteignungsrechts (1874). Der Überblick über die bedeutsamsten Gesetze des Reichs und Preußens in der Zeit zwischen 1868 und 1878 zeigt die Bedeutung des Bandes für die Geschichte des Privat-, Prozess-, Straf- und des öffentlichen Rechts. Die wichtigsten Bereiche dieser Gesetzgebung hat Paetau in der Einleitung angesprochen. Besondere Sorgfalt legte er auf die Biogramme im Personenregister, in dem zahlreiche Ministerialbeamte erstmals biographisch erschlossen werden. Das Sachregister führt die Beratungsgegenstände insgesamt zuverlässig und vollständig auf. Nützlich wäre es allerdings gewesen, wenn Paetau für die wichtigsten Gesetzgebungsvorhaben (u. a. für die Reichsjustizgesetze und das Eigentumserwerbsgesetz) alle einschlägigen Fundstellen einmal zusammenhängend aufgeführt hätte.

 

Mit Abschluss der Bände 4 und 6 stehen noch die Bände 2 und 11 der Regestensammlung aus, über die im nächsten Band der Zeitschrift zu berichten sein wird.

 

Kiel

Werner Schubert