Schönfeldt, Hans-Andreas, Vom Schiedsmann
Schönfeldt, Hans-Andreas, Vom Schiedsmann zur Schiedskommission. Normdurchsetzung durch territoriale gesellschaftliche Gerichte in der DDR (= Ius Commune 145). Klostermann, Frankfurt am Main 2002. XXIV, 508 S.
Modelle zur alternativen Lösung alltäglicher rechtlicher Konflikte zwischen Bürgern erfreuen sich in unserer Gesellschaft zunehmender Diskussion, wenngleich die Reformüberlegungen oftmals vornehmlich unter dem Aspekt der Justizentlastung geführt werden. Während sich beispielsweise die Mediation zu einer Art Modethema entwickelt hat, führen die in den einzelnen Bundesländern bestehenden Vergleichsbehörden, Schiedsämter und Schiedsmänner hingegen eher ein Schattendasein. Dies steht – letztlich bedingt durch die unterschiedlichen rechtspolitischen Zielsetzungen – in einem auffälligen Gegensatz zu den ehemaligen zahlreichen gesellschaftlichen Konfliktregelungsinstitutionen der Deutschen Demokratischen Republik. Neben den im betrieblichen Bereich seit 1953 geschaffenen Konfliktkommissionen zählen hierzu insbesondere auch die seit 1963 hauptsächlich in den Wohngebieten tätigen Schiedskommissionen, deren Aufgabe vornehmlich darin bestand, „Rechtsverletzer unterhalb der Schwelle von strafrechtlichen Sanktionen zur Einhaltung elementarer Normen anzuhalten bzw. zivilrechtlich relevante Konfliktlagen im Wohnfeld vorbeugend zu entschärfen“ (S. XIV). Mit der Entwicklung dieser Schiedskommissionen als Steuerungsinstrumente gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse hat Schönfeldt sich im Rahmen des Forschungsprojekts „Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften“ des Max-Planck-Insituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main in seiner Studie befasst. Die Untersuchung ist chronologisch in fünf Kapitel untergliedert und zeichnet sich außer durch sorgfältige Verarbeitung der einschlägigen Literatur zur gesellschaftlichen Gerichtsbarkeit der DDR auch durch die umfangreiche Verwendung unveröffentlichter, im Bundesarchiv vorhandener Quellen aus den Archivbeständen der DDR aus.
Schönfeldt beginnt seine Untersuchung mit einem (sehr) kurzen historischen Abriss (S. 1-9), um sodann die Entwicklung des Schiedsmannswesens über die 1953 eingeführten Sühnestellen bis hin zur Einführung der ersten Schiedskommissionen aufzuzeigen (S. 9-65). Deren Zuständigkeit umfasste im Wesentlichen geringfügige Strafsachen, bestimmte zivilrechtliche Streitigkeiten, Verfahren wegen „arbeitsscheuen Verhaltens“ und wegen Verletzung der Schulpflicht. Der Autor legt im anschließenden Kapitel überzeugend dar, dass mit den zunächst nur im Rahmen eines Pilotprojekts eingeführten Schiedskommissionen der Erziehungsgedanke eine primäre Funktion gegenüber der ursprünglichen Bedeutung der Sühnestellen als Streitschlichtungsinstitutionen erhielt (S. 72f.). Hierbei sollten die Schiedskommissionen – die im Vergleich zu den Sühnestellen weitaus mehr Kompetenzen inne hatten – nach dem Willen der SED-Führung als ein Instrument zur Verhaltenssteuerung innerhalb der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden, bisher als Sozialbereich vernachlässigten Wohngebiete (S. 81) genutzt werden. Sie dienten insoweit – als Ergänzung der in den Betrieben vorhandenen Konfliktkommissionen – zur „sozialen Disziplinierung“ der nicht (mehr) Berufstätigen (S. 116). Das dritte Kapitel beginnt Schönfeldt mit einer detaillierten, teilweise zu sehr an der Chronologie der Ereignisse orientierten Darstellung der flächendeckenden Einführung der Schiedskommissionen (S. 121-147). Von größerem Interesse sind hingegen die anschließenden Ausführungen zu den staatlichen Lenkungsinstrumenten. Der Leser erfährt hier einiges zur Übergabepraxis von geringfügigen Strafsachen seitens der Staatsanwaltschaft sowie zu Sanktionsempfehlungen durch Angehörige der Kriminalpolizei (S. 147ff.). Auch die personelle Zusammensetzung der Schiedskommissionen wird von Schönfeldt beleuchtet (S. 159ff.), wobei er als Ergebnis eine „signifikante Überpolitisierung“ der Mitglieder nicht ausmachen kann (S. 162).
Im vierten Kapitel untersucht Schönfeldt die Auswirkungen der „Großen Strafrechtsreform“ von 1968 auf die Institution der Schiedskommission. Als Folge konstatiert er eine Aufwertung der Schiedskommission vom „gesellschaftlichen Organ der Rechtspflege“ zum gesellschaftlichen Gericht“ (S. 205), die mit einer Perfektionierung der strafrechtlichen und administrativen Kontroll- und Sanktionsinstrumentarien einhergeht (S. 198). So wurden die Anleitungs- und Schulungssysteme durch Maßnahmen wie beispielsweise die – in der Praxis allerdings auf unerfahrene und fehlerhaft arbeitende Schiedskommissionen beschränkte – individuelle Betreuung, die Beratungen der Schiedskommissionen vorbereitenden Besprechungen mit Richtern der Kreisgerichte, Schulungen und Kurzlehrgänge, Schiedskommissionskonferenzen und die Herausgabe von Informationsblättern ausgebaut (S. 227). Insbesondere den Richtlinien und Beschlüssen des Obersten Gerichts misst der Autor zu Recht eine über die bloße Steuerung der Rechtsprechung hinausgehende Wirkung zu, weil „sie als Leitungsdokument in einer Weise verfasst [wurden], die es anderen am Verfahren beteiligten Institutionen und nicht zuletzt auch den Rechtsadressaten (Bürgern) selbst ermöglichte, ihr Verhalten dementsprechend einzurichten“. Schließlich zeigt Schönfeldt anhand instruktiver Beispiele auf, dass aus der Eigenschaft der Schiedskommission als „Erziehungsinstanz“ eine Kontrollfunktion zur Überwachung „kriminell verdächtiger“ Bevölkerungsteile entstand (S. 250f.). Im abschließenden fünften Kapitel werden die weiteren Reformen bis 1989 sowie die in den neuen Bundesländern gegründeten Schiedsstellen dargestellt. Wenn Schönfeldt zu Beginn dieses Kapitels resümiert, die Tätigkeit der Schiedskommissionen wie auch der anderen ordnungssichernden Institutionen habe den dort engagierten Bürgern ein „Gefühl tatsächlicher Entscheidungsmacht“ gegeben, sei insoweit ein „Arrangement zwischen Herrschenden und Beherrschten“ gewesen und habe infolgedessen einen Beitrag zur Erhaltung der Stabilität des Gesamtsystems der DDR über Jahrzehnte geleistet (S. 323), erscheint dies als eine zwar mögliche, jedoch in dieser Deutlichkeit aus den vom Autor analysierten Quellen kaum nachweisbare Schlussfolgerung.
Die am Schluss einiger Kapitel vorhandenen Tabellenanhänge tragen zur Vertiefung bzw. zum besseren Verständnis, ein Personen- und ein Sachregister zur leichteren Erschließung des Buches bei. Wünschenswert wären kurze Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels sowie am Schluss der Studie gewesen, um die gewonnenen Ergebnisse und Thesen, die infolge des gewählten, streng chronologischen Aufbaus der Arbeit teilweise sehr verstreut sind, für den Leser zu komprimieren und möglicherweise abschließend in einen größeren Kontext einzubinden. So werden beispielsweise die Aspekte Lenkung, Personalpolitik und Geschäftsanfall in mehreren Kapiteln – für den jeweiligen zeitlichen Abschnitt – behandelt, worunter die Erkennbarkeit der Entwicklungslinien leidet. Die Einleitung (S. XI-XIX) zeigt Ansätze einer wünschenswerten Gesamtwürdigung der Ergebnisse und ist insoweit zumindest in Teilen schon eine Art vorweggenommener Zusammenfassung der Untersuchung, ersetzt eine solche jedoch nicht. Insgesamt handelt es sich aber um eine sehr informative und gründlich recherchierte Arbeit, die einen wichtigen und weiterführenden Beitrag zur Erforschung der gesellschaftlichen Gerichte der DDR darstellt.
Hannover Kai Müller