Hein, Oliver, Vom Rohen zum Hohen.
BuschmannHein20010903 Nr. 10448 ZRG 119 (2002) 58
Hein, Oliver, Vom Rohen zum Hohen. Öffentliches Strafrecht im Spiegel der Strafrechtsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts (= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 3). Böhlau, Köln – Weimar 2000. XIV, 418 S.
Daß unser Geschichtsbild ein Konstrukt ist, hat sich dank der geschichtstheoretischen Kritik der letzten Jahrzehnte inzwischen herumgesprochen. Auch die Wissenschaft von der Rechtsgeschichte ist von dieser Kritik erfaßt worden, wenn auch in anderer Weise als dies in der allgemeinen Geschichte und deren Wissenschaft geschehen ist. Im Vordergrund der Kritik stand bisher die Frage, inwieweit die moderne Begrifflichkeit als Hilfsmittel zur Darstellung vergangener Rechtsverhältnisse und überhaupt des vergangenen Rechts tauglich ist oder nicht, wobei vor allem die Begrifflichkeit der Verfassungsgeschichte, aber auch der Privatrechtsgeschichte im Mittelpunkt des Interesses stand.
In der vorliegenden Arbeit, einer bei Klaus Lüderssen in Frankfurt am Main angefertigten juristischen Dissertation, wird der Versuch unternommen, auch die traditionelle Strafrechtsgeschichte, deren Ursprünge in den Darstellungen des 19. Jahrhunderts zu suchen sind, einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Die Fragen, denen der Verfasser nachgeht, betreffen nicht nur die z. T. anachronistische Begrifflichkeit, von der sich die Strafrechtshistoriker und Strafrechtler ebenso schwer trennen können wie die Verfassungshistoriker oder die Repräsentanten der Privatrechtsgeschichte von ihren gewohnten Begriffen. Die Fragen beziehen sich vielmehr auch auf das geschichtstheoretische Fundament der überlieferten Darstellungsweise der Strafrechtsgeschichte als solcher, namentlich auf die Frage nach der Berechtigung, die Geschichte des Strafrechts als Geschichte des öffentlichen Rechts zu begreifen, nach dem Verständnis von der Kontinuität in der Strafrechtsentwicklung bei den einzelnen Autoren und schließlich – auf der Basis der modernen Wissenschaftskritik – die Frage nach den Implikationen dieses Verständnisses im einzelnen. Auch die Grenzen einer narrativen Wissenschaftshistorie werden behandelt, wobei der Verfasser nicht beabsichtigt, eine Art Metatheorie der Wissenschaftsgeschichte in Bezug auf die Geschichte des Strafrechts und der Strafrechtswissenschaft zu liefern, sondern lediglich auf die Tatsache hinwiesen will, daß jede Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte auf bestimmten Vorannahmen beruht, die bedacht werden müssen, wenn man eine kritische Darstellung der Wissenschaftsgeschichte unternehmen will.
Unter Berücksichtigung dieser Fragestellung behandelt der Verfasser zunächst die Darstellung der Entstehung des öffentlichen Strafrechts in der Strafrechtstheorie des 19. Jahrhunderts, für die er - jedenfalls für die zweite Hälfte des Jahrhunderts – als Tenor die These von der Zivilisierung und Vergeistigung des Strafens reklamiert.. Dieses Deutungsschema, so meint der Verfasser, bilde noch heute den maßgebenden Rahmen für das Verständnis der Geschichte des Strafrechts, auch und nicht zuletzt in der Praxis der Rechtsprechung, wie ein Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1977 belege. Es bezeichne seit seiner ersten Formulierung eine Art Konstante für die rechtspolitische, rechtstheoretische und rechtsdogmatische Argumentation in Bezug auf die Strafe und deren Wesen.
Für die Frage nach der Entstehung dieses Deutungsschemas greift der Verfasser auf Rudolph von Jhering zurück, in dessen kritisch-sozialdarwinistischem Positivismus er die Anfänge jener Vorstellung erkennen zu können meint, nach der sich die öffentliche Strafe als Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses und als Ausdruck fortgeschrittener Bildung präsentiert. Als nächstes zieht er die bekannten Lehren Adolf Merkels heran, in denen für ihn die Vorstellung von einem öffentlichen Strafrecht und dessen Entwicklung geradezu als Paradigma und Maßstab für die Stellung des Rechts in Staat und Gesellschaft überhaupt figuriert. Gleiches gilt nach Ansicht des Verfassers für die Geschichtstheorie in Franz von Liszts berühmtem Marburger Programm von 1882, in dem noch stärker als bei Jhering und Merkel die teleologische Komponente der Entwicklung herausgestellt und als Legitimation die Begründung der Strafe verwendet wird.
Bei der strafrechtsgeschichtlichen Literatur, in der die historische Begründung für Entstehung des öffentlichen Strafrechts vor allem auf den Begriff der Nation und deren Ursprung in der germanischen Zeit gestützt wurde, entdeckt der Verfasser vor allem eine Orientierung an der politischen Epoche der europäischen Restauration, zu deren Kennzeichen er auch die Berufung auf ein erneuertes Christentum zählt. Zu den Repräsentanten dieser Richtung werden zunächst die Anhänger der Historischen Rechtschule gerechnet, allen voran Wilhelm Eduard Wilda, für den sich das Strafrecht der Germanen als historisch-praktische Grundlage des geltenden Rechts darstellt. Stärker als das römische Recht habe das germanische Recht und das aus diesem entstandene deutsche Recht eine der Zeit angemessene Problemlösungskapazität gehabt und daher sei der Sieg des römischen Rechts, so Wilda, nur ein vermeintlicher gewesen. Der Verfasser sieht in dieser Ansicht weniger eine geschichtliche Erkenntnis, sondern eher einen Ausdruck der politischen Anschauungen des deutschen Vormärz, wobei er hier an Überlegungen anknüpft, die Ernst Wolfgang Böckenförde schon vor etlichen Jahren in Bezug auf die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert angestellt hat. Für die Strafrechtsgeschichtsschreibung nach 1848 war nach Ansicht des Verfassers vor allem die Rechts- und Staatsphilosophie Hegels maßgebend, obschon die Einflüsse anderer Philosophien nicht geleugnet werden. Auf der anderen Seite glaubt der Verfasser auch die Fortsetzung des sozialdarwinistischen Ansatzes am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts feststellen zu können und mit ihnen erste Anfänge einer „rassistischen“ Betrachtungsweise, als deren Exponent er insbesondere Carl von Amira und dessen Verständnis von der Todesstrafe als Mittel der „Rassenreinhaltung“ ausmacht.
Am Schluß der gedankenreichen Arbeit, deren Inhalt im Vorstehenden nur in groben Umrissen skizziert werden kann, werden vom Verfasser noch einmal die leitenden Gesichtspunkte zusammenfassend dargestellt, die für die Strafrechtsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts maßgebend waren. Vor allem der entwicklungsgeschichtliche Gesichtspunkt und dessen z.T. umgekehrte Verwendung als Legitimationsmuster für ein historisch begründetes Strafrecht als geltendes Recht wird vom Verfasser als entscheidendes Merkmal der gesamten Strafrechtsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts angesehen, wobei zu Recht auf die unterschiedliche Bedeutung und den unterschiedlichen Gehalt des Wortes „roh“ hingewiesen wird.
Als besonderes Verdienst der Arbeit wird hervorgehoben werden müssen, daß in ihr erstmals der Versuch unternommen worden ist, eine zusammenhängende Darstellung der Strafrechtsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, deren Funktion innerhalb der Strafrechtswissenschaft und deren Einbettung in die politischen, aber auch geistigen und wissenschaftlichen Vorgänge der Zeit geliefert zu haben. Auch das Bemühen des Verfassers, die theoretischen Erkenntnisgrundlagen sowohl der einzelnen Vertreter der Strafrechtswissenschaft wie der Strafrechtsgeschichtsschreibung, offenzulegen und die Deutungsmuster herauszuarbeiten, die den Darstellungen zugrundeliegen, verdient Hervorhebung und Beachtung. Problematisch hingegen erscheint zum einen die Fokussierung der Fragestellung auf die Frage nach der Entstehung des öffentlichen Strafrechts mit der Betonung der Kennzeichnung „öffentlich“ und zum anderen die Subsumtion der Untersuchungsergebnisse unter den Tenor „Vom Rohen zum Hohen“. Vor allem die letztere trifft gerade für die Strafrechtsgeschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dieser Allgemeinheit wohl nicht zu, insofern hier im Zusammenhang mit der nationalistisch-romantischen Verklärung der germanischen Zeit und deren Rechtsverhältnissen gerade das „Rohe“ als Ausgangspunkt lebensnahen und volkstümlichen Rechts angesehen wurde, auch wenn es sich hierbei um eine veredelte Form des „Rohen“ handelte. Die Fokussierung auf die Frage nach der Entstehung des öffentlichen Strafrechts ist deswegen problematisch, weil die Frage als solche, soweit sie sich auf das Mittelalter und die Neuzeit bezieht, in ihrem Kern quellenwidrig ist und damit notwendig zu verzerrten Antworten führen muß. Alle Versuche, mit dem Begriffspaar „öffentlich“ und „privat“ in Bezug auf das mittelalterliche und frühneuzeitliche Recht zu operieren, sind mangels Identität des zeitgenössischen Verständnisses mit dem heutigen subkutanen Vorverständnis zu Scheitern verurteilt, worauf der Verfasser übrigens auch selbst hinweist, allerdings mit der Maßgabe, daß er den Begriff „öffentlich“ dennoch als Bezeichnung für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konfliktsregelungen für tauglich erklärt. Daß dies eine tragfähige Argumentation ist, muß bezweifelt werden. Eine dem heutigen Verständnis auch nur annähernd entsprechende Bedeutung des Begriffes „öffentlich“ im Sinne von „öffentlichem Recht“ ist den zeitgenössischen Quellen jedenfalls nicht zu entnehmen und daher schwerlich als Kennzeichnung für das Strafrecht dieser Zeit verwendbar. Überhaupt muß es gerade im Hinblick auf die Ergebnisse der kritischen Geschichtstheorie fraglich erscheinen, ob solche Fragestellungen heute noch vertretbar sind oder ob es nicht vielmehr angebracht wäre, im Absehen von der modernen Begrifflichkeit sich der Sprache und Begrifflichkeit der Quellen zu bedienen, um zu einer Erkenntnis des vergangenen Rechts zu gelangen, ohne sich dem Zwang auszusetzen, die Ergebnisse der Strafrechtsgeschichtsforschung in moderne Begriffe fassen zu müssen, um sie danach als Legitimationsmuster für das geltende Strafrecht benutzen zu können. Mit dem Begriff „öffentlich“ im Hinblick auf ein „öffentliches Recht“ wird man erst dann sinnvoll arbeiten können, wenn er von den Zeitgenossen selbst verwendet wurde und in den Quellen nachweisen läßt. Erst dann wird man der Frage nachgehen können, was unter „öffentlichem Strafrecht“ verstanden wurde und inwieweit dieses Verständnis als Vorstufe unseres heutigen Verständnisses angesehen werden kann oder nicht.
Doch genug der Anmerkungen zur Arbeit und deren Thesen. Sie sollen insgesamt nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vorliegende Untersuchung wegen ihres Gedankenreichtums, wegen der kritischen Analyse der überlieferten Darstellungsmuster und überhaupt wegen der Kritik an der herkömmlichen Ansicht vom Verlauf der Strafrechtsgeschichte Respekt und Anerkennung verdient. Über ihren Inhalt und vor allem über ihre Thesen wird man in einzelnen noch diskutieren müssen. Die Diskussion ist jedenfalls eröffnet.
Salzburg Arno Buschmann