Stolleis, Michael, Der lange Abschied vom 19. Jahrhundert.

* Die Zäsur von 1914 aus rechtshistorischer Perspektive (= Schriftenreihe der juristischen Gesellschaft zu Berlin 150). De Gruyter, Berlin 1997. 22 S. Besprochen von Hans-Werner Hahn. ZRG GA 119 (2002)

HahnStolleis20010215 Nr. 938 ZRG 119 (2002) 59

 

 

Stolleis, Michael, Der lange Abschied vom 19. Jahrhundert. Die Zäsur von 1914 aus rechtshistorischer Perspektive (= Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 150). De Gruyter, Berlin 1997. 22 S.

 

Der vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehaltene Vortrag bietet nicht nur einen souveränen Einblick in die Grundprobleme des 19. Jahrhunderts, sondern stellt zugleich einen wichtigen Beitrag zu einer neuen Sichtweise auf dieses Jahrhundert dar. Lange Zeit haben Historiker die Geschichte des 19. Jahrhunderts ganz aus der Perspektive der großen Entwicklungsprozesse von den traditionalen zu den modernen Strukturen betrachtet. In jüngster Zeit wird dagegen der Mehrschichtigkeit im Erscheinungsbild dieses Jahrhunderts ein immer größerer Stellenwert eingeräumt. Auch Stolleis betont in seinem Vortrag die Vielfalt und Widersprüche des 19. Jahrhunderts, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die daraus erwachsenden Krisen. So zeigt er, wie einerseits ständische Gesellschaftsstrukturen die heraufziehende bürgerliche Welt noch überlagerten und letztere andererseits bereits wieder durch das neue industrielle Massenzeitalter zu erodieren begann. Ähnlich verhielt es sich bei dem Nebeneinander von vornationalen Reichen, dem Durchbruch des Nationalismus und den gleichzeitig bereits deutlich werdenden Tendenzen zu internationalistischen Strukturen einer neuen Weltgesellschaft. Besonderes Gewicht legt der Verfasser schließlich auf die rechtshistorischen Grundfragen. Zum einen diskutiert er den dualistischen Grundzug der deutschen Verfassungswirklichkeit, die bis 1918 einerseits von den großen Fortschritten zum Rechts- und Verwaltungsstaat und andererseits durch die Defizite im Bereich von Parlamentarisierung und politischer Partizipation bestimmt blieb. Zum anderen geht er den wichtigen, künftig noch breiter zu untersuchenden Zusammenhängen von Industrialisierung und Rechtsentwicklung nach. Der Blick in die verschiedenen Bereiche zeigt, daß das Jahr 1914 weder in sozialer und ökonomischer Hinsicht noch unter rechts- und verfassungsgeschichtlichen Aspekten „im hegelschen Sinne eine ´notwendige` Zäsur“ darstellte. Dennoch wertet Stolleis den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die von ihm ausgehenden politischen wie geistig-kulturellen Erschütterungen als einen Einschnitt, wie er kaum einschneidender zu denken sei und an dem sich alle anderen „Zäsuren durch Abstandsmessung von diesem Schicksalsjahr“ zu definieren hätten. Insgesamt gesehen liegt hier ein außerordentlich anregender Problemaufriß vor, der die weiteren Debatten sehr befruchten wird.

 

Jena                                                                                                               Hans-Werner Hahn