Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert

. Beiträge zu Ehren von Werner Goez, hg. v. Herbers, Klaus. Steiner, Stuttgart 2001. 284 S. Besprochen von Caspar Ehlers.

Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren von Werner Goez, hg. v. Herbers, Klaus. Steiner, Stuttgart 2001. 284 S.

 

„Europa in der späten Salierzeit – Umbruch und Neuanfang“ war der Titel des dem hier zu besprechenden Sammelband zu Grunde liegenden Erlanger Kolloquiums im Sommer 1999 gewesen. Daß aus „Umbruch und Neuanfang“ eine „Wende“ wurde, die einen chronographischen – also eher willkürlichen – statt eines dynastischen Bezugspunkt hat, ist eines der Ergebnisse jenes fruchtbaren Symposions zu Ehren von Werner Goez. Sein Nachfolger in Erlangen, Klaus Herbers, Veranstalter der Tagung und Herausgeber des Sammelbandes, erläutert in seiner Einleitung die Entscheidung, den Buchtitel gegenüber dem des Kolloquiums zu verändern (S. 9ff.), mit eben jenem überdynastischen europäischen Blick der einzelnen Beiträge. Diese wiederum faßt er so gekonnt zusammen, daß es einem Rezensenten schwer gemacht wird, den Inhalt der dreizehn Referate wiederzugeben, ohne bei Herbers’ Einleitung abzuschreiben.

 

Der Beitrag Rudolf Schieffers über den „Investiturstreit im Bilde der Zeit nach 1122“ (S. 248-260) sowie derjenige Johannes Laudages zu „Rom und das Papsttum im frühen 12. Jahrhundert“ (S. 23-53) beenden beziehungsweise eröffnen den Sammelband, dem so eine Klammer gegeben wird, die vielleicht eher der älteren Konzeption der Tagung als der jüngeren des Buches verpflichtet ist, da dem Ausgang des Investiturstreites und dem Pontifikat Calixts II. der Charakter als Wendepunkt oder Neubeginn auch weiterhin gewährt wird – wenngleich mit der vom Jubilar stammenden Einschränkung, daß der Investiturstreit nur eine Phase längerfristiger Auseinandersetzungen zwischen Regnum und Sacerdotium gewesen sei (S. 260).

 

Laudage bezeichnet die Veränderungen, die die fast sechsjährige Amtszeit Calixts II. mit sich brachten, als „Durchbruch“ (S. 31), der sich vor allem in der Zahl der – hauptsächlich in Rom ausgestellten – Urkunden sowie der ‚Herrschaftspraxis’ äußerte. Als „Wende“ wird der Investiturstreit auch in der Studie Paolo Golinellis verstanden, die sich „Der Lage Italiens nach dem Investiturstreit: Die Frage der mathildischen Erbschaft“ widmet (S. 54-67). Er erneuert zudem seine These, daß die Güterschenkung an die Kirche in der Zeit Gregors VII. und nicht 1102 stattgefunden habe; während die ursprüngliche Urkunde verloren sei, möchte Golinelli die spätere als Fälschung von ca. 1132 ansehen (S. 62).

 

Den Blick auf „Südosteuropa in der späten Salierzeit“ lenkt Egon Boshof (S. 68-78). Die ‚außenpolitischen’ Versuche der Salier in diese Region waren weniger diplomatischer als militärischer Natur. Die Krise des salischen Königtums verhalf Ungarn zu einer Stärkung seiner Position im östlichen Europa, einem Raum, der offenbar von den Saliern in seiner Bedeutung unterschätzt wurde.

 

Zwei Beiträge widmen sich dem europäischen Südwesten: Odilo Engels beobachtet den Großraum um 1100 (S. 79-89), der neben Spanien auch Südfrankreich umfaßt, während Nikolas Jaspert „Frühformen der geistlichen Ritterorden und die Kreuzzugsbewegung auf der iberischen Halbinsel“ betrachtet (S. 90-116). Engels weist auf die pyrenäenübergreifenden Zusammenhänge hin und unterstreicht die prägenden Entwicklungen der weltlichen (der alte Adel muß einem jüngeren weichen) und der kirchlichen Strukturen am Beispiel von Kastilien und León. Er kommt zu dem Schluß, daß die Reconquista nur bedingt der Kreuzzugsbewegung zuzurechnen ist (S. 87), da neben jener Motivation auch die Spezifika der iberischen Halbinsel eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Jaspert schließt in gewisser Weise an jene Beobachtung an, wenn er sich mit den frühesten hispanischen Bruderschaften im Vergleich zu den Templern beschäftigt (vor allem S. 103ff.), kommt aber zu einem anderen Ergebnis als Engels: da ihm der Nachweis spanischer Aktivitäten im Heiligen Land trotz des päpstlichen Verbotes gelingt (S. 105-116), ist wohl doch von einem Zusammenhang beider Bewegungen auszugehen.

 

„Krieg, Individualisierung und Staatlichkeit im ausgehenden 11. und im 12. Jahrhundert“ ist der Gegenstand der Überlegungen von Ernst-Dieter Hehl (S. 117-133), der auf die Verschiebung von der Handlung hin zur Intention bei der Buße hinweist (S. 119f.), was eine Individualisierung der Person nach sich zog. Diese wiederum löste die „Verschränkung von Amt und Person“, so daß ein Dreiklang: Individuum – Amtsperson – Institution, entstand, der den Weg zur Staatlichkeit bereitet habe (S. 133).

 

Dieter Hägermanns Beitrag über „Technische Innovationen im 12. Jahrhundert. Zeichen einer Zeitenwende?“ greift unter anderen Aspekten die Frage nach den Wandlungen jener Epoche auf (S. 134-142). Er untersucht Inventionen auf militärischem, ökonomischem sowie technischem Terrain und kommt zu dem Schluß, daß das 12. Jahrhundert als ein „Schwellenjahrhundert“ anzusehen sei (S. 142).

 

Ebenfalls zweifach sind rechtsgeschichtliche Forschungen vertreten. Harald Siems stellt „Die Analogie als Wegbereiterin zur mittelalterlichen Rechtswissenschaft“ vor (S. 143-170), während Johannes Fried unter Mitwirkung seiner Schülerin Gundula Grebner einer Gründungslegende der Bologneser Juristenfakultät nachgeht: „... auf Bitten der Gräfin Mathilde. Werner von Bologna und Irnerius“ (S. 171-206). Letztendlich kreisen beide Beiträge um dasselbe Problem. Siems geht der Frage nach, auf welchen intellektuellen Wegen aus dem langobardischen Recht die mittelalterliche Rechtswissenschaft wurde, während Fried und Grebner den Beitrag namentlich bekannter Personen in der maßgeblichen Bologneser Rechtsschule dazu untersuchen. Jener Werner, der der historischen Erinnerung als Gründer der Schule galt, sei vor dem stauferfeindlichen Hintergrund des ausgehenden 12. Jahrhunderts zu einer „Kunstfigur“ (S. 175, 200f.) namens Irnerius verwandelt worden, argumentiert Fried. Nachweisen läßt sich dieser gelehrte Werner-Irnerius neben den bereits von Fried behandelten Zeugnissen noch in 14 Urkunden ab dem Jahr 1112, wie Gundula Grebner ausführt (S. 202-206), darunter sieben Originale mit seiner eigenhändigen Unterschrift. Anhand dieser Stücke kommt Grebner zu dem Ergebnis, daß Wernerius nicht in das Umfeld der Mathilde von Canossa sondern in das Heinrichs V. zu stellen ist (S. 206).

 

„Hagiographische Handschriften im 12. Jahrhundert“ werden von Bernhard Vogel betrachtet (S. 207-216). Ausgehend von einem Legendar des Prämonstratenserstifts Arnstein an der Lahn und zwei weiteren Codices, die sämtlich für den Lesedienst an Heiligenfesten bestimmt waren, zeigt Vogel, daß „ré-écriture“ nicht unbedingt „neu schreiben“ sondern auch „erneutes Abschreiben“ bedeuten konnte (S. 216) – wobei auch auf ältere Fassungen inzwischen überarbeiteter Viten zurückgegriffen wurde, wenn diese Neufassungen, wie etwa diejenige des hl. Heribert durch Rupert von Deutz, sich durch ungelenke Formulierungen weniger zum Vorlesen eigneten als die ‚klassischen’ Stücke.

 

Peter Segl verbindet „Häresien und intellektuelle[n] Aufbruch in der späten Salierzeit“ miteinander (S. 217-237), indem er Vorgeschichte und Hintergründe des Prozesses gegen Abaelard (entweder 1140 oder 1141), „eine der Schlüsselfiguren für eben diesen Aufbruch und dessen gefährliche Nähe zur Haeresie“ (S. 227), der erneuen Bewertung unterzieht und zugleich die weiteren namentlich bekannten Haeretiker (Petrus von Bruys, Tanchelm und den Prediger Heinrich) der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vorstellt. Segl weist darauf hin, daß der Aufbruch in die späte Salierzeit, die Auswirkungen hingegen in die folgenden Jahrzehnte datieren. Segl schließt mit dem Hinweis auf die „Gegenkräfte entbindende“ (Werner Goez) Person Gregors VII., zu denen nicht nur die Widerspenstigen im Investiturstreit sondern auch die Haeretiker gehört hätten.

 

Hartmut Kugler beleuchtet die „Deutsche Literatur in der späten Salierzeit“ (S. 238-247) und beginnt mit der Klage, daß sich nur über Nicht-Überlieferungen aus der als „Große Lücke“ zu bezeichnenden Zeit zwischen 900 und 1060 reden läßt, wenn man nach deutschsprachiger Literatur mit weltlicher Thematik sucht (S. 238ff.). Eine mögliche und plausible Erklärung dafür sieht Kugler in dem Zusammenhang zwischen Rombezug des König- beziehungsweise Kaisertums und der daraus resultierenden ausbleibenden Nationenbildung, die ein sich in volksprachlicher Dichtung ausdrückendes Selbstverständnis verhindert hätten. Die – eschatologisch motivierte – Aufrechterhaltung der Kontinuität des Römischen Reichs erforderte eben auch lateinisches Schreiben, so daß die „Continuatio Linguae“ die „Translatio Imperii“ beglaubigte (S. 242f.). Erst mit der „Kaiserchronik“ setzt weltlich-politische Literatur deutscher Sprache ein, als Beispiel für volkssprachliche Dichtkunst religiöser Art aus der Zeit Heinrichs V. interpretiert Kugler die Werke der Frau Ava, denen er Vorläufercharakter für die frauenmystische beziehungsweise laienreligiöse Sprache späterer Zeiten einräumt.

 

Der letzte Beitrag des Bandes stammt von Rudolf Schieffer und schließt, wie erwähnt, den Kreis, in dem er ausgehend von den Fresken im Lateran, die Calixt II. nach dem Triumph des rechtmäßigen Papsttums spätestens 1124 anbringen ließ, die Erinnerung an die Ereignisse des ersten Viertels des 12. Jahrhunderts darstellt. In englischen und französischen Quellen – wie übrigens auch in byzantinischen – spielt der Streit um die Investitur eine untergeordnete Rolle; in deutschen läßt sich überraschenderweise eine gewisse Unklarheit über die Gründe der Auseinandersetzung feststellen, es werden keine Zusammenhänge hergestellt beziehungsweise nur Einzelereignisse im Gedächtnis bewahrt. Erst Otto von Freising und wenig später Gerhoch von Reichersberg versuchen, den Investiturstreit, von dem sie allerdings nur eine verfremdet-schemenhafte Vorstellung haben, in ein Geschichtskonzept einzuordnen. Insgesamt gesehen, stehen den Quellen, die den Streit als ein in sich abgeschlossenes historisches Ereignis von längerer Dauer begreifen (wie die deutsche Forschung des 19. Jahrhunderts), zahlreiche andere Zeugnisse gegenüber, die ihn als Teil eines langfristigen Konfliktes einordnen.

 

Der erwähnte Titel des Kolloquiums dürfte nicht zuletzt wegen der zahlreichen, den postulierten Wandel, Aufbruch oder gar Neuanfang untersuchenden Beiträge für die Drucklegung verändert worden sein, die verdeutlichten, daß intellektuelle Prozesse im mittelalterlichen Europa kaum mit dynastischen Zäsuren einhergehen. Klaus Herbers hat in seinem eröffnenden Beitrag zwei Spannungsfelder aufgezeigt: „den Vorgang vom Erinnern zum Vergessen“ sowie die „Entwicklung von ritueller zu textueller Kohärenz, vom Mythos zum Logos“ (S. 20f.). Beide sind zeitlos und kaum Jahrhundertwenden oder gar Dynastiewechseln zuzuordnen.

 

Ein „Schriftenverzeichnis Werner Goez“ (S. 261-268) dokumentiert das beeindruckende Werk des Jubilars, das in den zahlreichen Beiträgen des Kolloquiums gewürdigt worden ist; ein Register der Orts- und Personennamen beschließt den facettenreichen Tagungsband.

 

Göttingen                                                                                                       Caspar Ehlers