Strafjustiz und DDR-Unrecht.

* Dokumentation, hg. v. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard, Band 1 Wahlfälschung. De Gruyter, Berlin 2000. XLVIII, 528 S. Besprochen von Thomas Vormbaum. ZRG GA 119 (2002)

VormbaumStrafjustiz20010125 Nr. 10246 ZRG 119 (2002) 87

 

 

Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, hg. v. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard unter Mitarbeit von Müller, Jan und Schäfter, Petra, Band 1 Wahlfälschung. De Gruyter, Berlin 2000. XLVIII, 528 S.

 

Die Herausgeber bezwecken mit ihrer Dokumentation nicht weniger, als „der Öffentlichkeit erstmals ein vollständiges Bild der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht (zu präsentieren)”. Bedenkt man, daß noch im Herbst 2000 - 55 Jahre nach dem Untergang des NS-Regimes - eine strafrechtliche Hauptverhandlung wegen siebenfachen Mordes an jüdischen Gefangenen eröffnet worden ist, so mag das Unternehmen nach der (historisch) kurzen Zeit von 10 Jahren seit der deutschen Einigung gewagt erscheinen - umso mehr, als der hier betrachtete erste Band der Dokumentation ja bereits das Ergebnis mehrjähriger Vorarbeiten ist.

Die Herausgeber bemühen sich, die angedeuteten Bedenken zu zerstreuen - im Ergebnis, wie ich meine, mit Erfolg. Zum einen besaß die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht jene Dimensionen, denen die Justiz nach 1945 sich gegenübersah - neben Holocaust, KZ-System und massenhaften Kriegsverbrechen sanken tödliche Schüsse auf Flüchtende an der Grenze, also das, was der DDR-Führung als das - juristisch - Schlimmste vorzuwerfen ist, fast zur Nebensächlichkeit herab. Des weiteren war die Bereitschaft zur Verfolgung von System-Unrecht im Falle der DDR erheblich größer als damals. Hier spielte sicherlich der Wunsch eine Rolle, die Justiz nicht ein zweites mal dem Vorwurf auszusetzen, an dieser Aufgabe gescheitert zu sein; gewiß hat aber auch der Umstand, daß die Mehrzahl der Verfahren von bundesdeutschen Staatsanwälten und Richtern gegen ehemalige DDR-Bürger, also gegen die „Anderen” und nicht, wie nach 1945, gegen die „Eigenen” betrieben wurde, diese Bereitschaft erhöht. Nicht zu unterschätzen ist schließlich, daß die Justiz (sowohl die deutsche wie die alliierte) nach 1945 vor einer völlig neuen Aufgabe stand, während 50 Jahre später gerade die damals gewonnenen rechtlichen Kategorien herangezogen werden konnten. All dies hat zu einem verhältnismäßig raschen Fortschreiten der strafrechtlichen Auseinandersetzung mit der Systemvergangenheit der DDR geführt, die deshalb in manchen Bereichen bereits als abgeschlossen gelten kann. Überdies beginnen die Herausgeber ihre Edition mit eben diesen Bereichen, gewinnen also für die weniger schnell abgearbeiteten und juristisch auch komplizierteren Bereiche weitere Zeit. Schließlich kündigen sie an, daß ein Nachtragsband etwa noch vorhandene Nachzügler-Verfahren sowie später entdeckte Verfahren berücksichtigen werde (S. XXII).

Welche Funktion kann sie darüber hinaus für die Geschichts- und Rechtswissenschaft ausüben? Die Einführung in die Gesamtedition (S. XVff.) nennt „vor allem zwei übergreifende Perspektiven” (S. XV): sie zeige zum einen die Strafverfolgungsaktivitäten der Justiz auf und gebe zum anderen „zeitgeschichtlich bedeutsame Feststellungen wieder”, wodurch mittelbar „auch die DDR-Vergangenheit ... zum Gegenstand der Dokumentation” werde. Darüber hinaus stehe die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit in einer „Linie der Verfolgung staatlich initiierter Kriminalität” bis hin zu den Jugoslawien- und Ruanda-Tribunalen - einer Entwicklung, die darauf ziele, „die faktische Straflosigkeit der Kriminalität der Mächtigen zu beenden”. Diese „Ausdehnung der Herrschaft des Rechts” verdiene höchste Aufmerksamkeit, und die „uneingeschränkte und ungefilterte Wahrnehmung” für diesen Vorgang solle durch die Dokumentation ermöglicht werden.

Kann man den Herausgebern in dieser Absicht ohne weiteres zustimmen, so erscheint ihre Einschätzung des spezifisch zeitgeschichtlichen Wertes doch ein wenig zu optimistisch. Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß „Justizdokumente zeitgeschichtlich bedeutsame Feststellungen” enthalten (S. XV); die weitere Annahme aber, diese Feststellungen seien „durch die hohen Beweisanforderungen des Strafverfahrens abgesichert”, enthält allenfalls die halbe Wahrheit. Ob die Wahrheitsmaßstäbe des Strafrichters denen des Zeithistorikers kommensurabel sind oder auch nur sein können, ist zumindest eine diskussionswürdige Frage. Immerhin sehen sich Justizpraktiker und Historiker vor unterschiedliche Aufgaben gestellt. Staatsanwälte und Richter müssen entscheiden, Historiker können abwarten oder Fragen bloß vorläufig beantworten; jene fragen nach der Schuld des Angeklagten, diese setzen ihren professionellen Ehrgeiz in die Multiperspektivität ihrer Untersuchungen. Die besonders hohen Beweisanforderungen des Strafprozesses betreffen die zu Lasten des Beschuldigten zu treffenden Feststellungen; der Grundsatz „in dubio pro reo” ist für den Historiker eine irrelevante Kategorie. Dies sind nur einige Probleme aus dem Fragenkreis „Geschichte vor Gericht”[1]. Freilich muß sogleich hinzugefügt werden, daß in der Masse der Fälle diese Vorbehalte keine praktische Wirkung entfalten dürften, pragmatisch betrachtet also die Aussage der Herausgeber zutreffen wird.

Die Dokumentation, die in der Hauptsache aus gerichtlichen Sachurteilen besteht (S. XVIII), ist nach Fallgruppen geordnet, die gleichzeitig die Bandaufteilung bestimmen. Da von der rechtlichen Zuordnung der Fälle u. a. auch die Verfolgungspraxis abhing, eröffnete sich damit den Herausgebern die Möglichkeit, die Herausgabe der geplanten ca. 10 Bände nach dem Stand der jeweiligen justiziellen Verarbeitung zu staffeln.

Da eine Volltextedition aller Verfahrensdokumente nicht ernsthaft in Betracht kam, haben die Herausgeber eine Auswahl treffen müssen, die für jeden Fallbereich besonders erläutert werden soll.

Der nunmehr vorliegende erste Band hat die DDR-Wahlfälschungen zum Gegenstand - und damit einen Komplex, dessen Bearbeitung inzwischen so gut wie vollkommen abgeschlossen ist. In der Einleitung zu diesem Band (S. XXV-XLVIII) geben die Herausgeber einen aufschlußreichen Überblick über die zeitgeschichtliche und juristische Problematik. Der nüchterne und Wertungen, vor allem eigene rechtliche Würdigungen vermeidende Stil dieser Einleitung verdient umso mehr hervorgehoben zu werden, als bekannt ist, daß die beiden Herausgeber, von ganz unterschiedlichen Ansatzpunkten ausgehend, eine im Ergebnis übereinstimmende dezidierte - nämlich positive - Einstellung  zu diesen Verfahren haben. So verzichtet denn auch der Rezensent, der eine davon abweichende Auffassung vertritt, diesen Streit hier neu zu beleben. Der Leser findet in dieser Einleitung alle Rechtsprobleme, die dazu vertretenen Auffassungen und die dazu erschienene Literatur aufgeführt.

Von den zahlreichen Verfahren haben die Herausgeber die noch während der DDR-Zeit ergangenen Urteile vollzählig berücksichtigt. Unter den nach dem 3. Oktober 1990 von der bundesdeutschen Justiz abgeschlossenen Verfahren haben sie eine repräsentative Auswahl getroffen (S. XLIV), welche in erster Linie regionale Aspekte, daneben vor allem die Aspekte „Erfassung aller Fallvarianten”, „rechtliche Aussagen von besonderem Gewicht” „besondere öffentliche Aufmerksamkeit” und „umfangreichere Feststellungen zum politisch-historischen Umfeld der (Wahl-) Manipulationen” berücksichtigen.

Die Lektüre der Urteile zeigt, daß den Herausgebern mit diesen Kriterien eine anschauliche und informative Auswahl gelungen ist.

Den weiteren Bänden, deren Themen rechtlich und politisch nicht ganz so heftig umstritten waren (und sind) wie die Wahlfälschungsverfahren, dafür aber Taten von größerem kriminellem Gewicht beinhalten, darf man gespannt entgegenblicken.

 

Hagen/Westf.                                                                                          Thomas Vormbaum

[1] S. zu diesem Thema neuerdings Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, hg. v. Frei, Norbert/Laak, Dirk van/Stolleis, Michael. München 2000.