Brühl, Carlrichard, Merowingische Königsurkunden

, hg. v. Kölzer, Theo. Böhlau, Köln 1998. 293 S., 15 Abb. Besprochen von Jürgen Weitzel.

Brühl, Carlrichard, Merowingische Königsurkunden, hg. v. Kölzer, Theo. Böhlau, Köln 1998. 293 S., 15 Abb.

 

Der im Jahre 1997 verstorbene Historiker Carlrichard Brühl hat in Vorbereitung einer für die Monumenta Germaniae Historica vorzunehmenden kritischen Neuedition der merowingischen Königsurkunden einige „Studien“ verfasst, die im vorliegenden Band von seinem Schüler und Kollegen Theo Kölzer publiziert wurden. Die kritische Edition soll die im Jahre 1872 durch Karl August Pertz besorgte Ausgabe ersetzen. Diese ist anerkanntermaßen wenig gelungen, eine Einschätzung, die Brühl durch Mitteilung teilweise erstaunlicher Vorgänge und Defizite in teilweise ebenso ein­deutigen wie scharf formulierten Wertungen untermauert. Dies geschieht vornehmlich in den ersten beiden Kapiteln des Buches, die wie folgt überschrieben sind: „Die Editio­nen der merowingischen Königsurkunden von Mabillon bis Pertz und der Gang der For­schung von Pertz bis heute“ und „Die Edition von K. Pertz und die künftige Monumenta-Ausgabe“. Der Verfasser bietet hier auf 49 Seiten die Grundzüge der Geschichte der Diplomatik (Urkundenlehre) seit 1681, die in ihrer Entstehung eng gerade mit der Erforschung der merowingischen Königsurkunde verbunden ist. Rivali­täten und Gemeinsamkeiten der einschlägigen Forschung in Frankreich und in Deutschland treten dabei ebenso vor das Auge des Lesers wie die Rivalitäten, Erfolge und Fehlleistungen innerhalb der 1819 ins Leben gerufenen „Monumenta Germaniae Historica“. So kann man dem Urteil Brühls, dass der neuen Wissenschaft 1681 „eine glanzvolle Zukunft beschieden sein sollte“ (S. 1) zwar grundsätzlich, nicht aber in vie­len Einzelzügen, die mehr als nur belanglose Details sind, zustimmen. Die Zahl der ge­scheiterten, misslungenen und verzögerten Editionen ist nicht gering. Die Eifersüchte­leien innerhalb der Gruppen der jeweils führenden Wissenschaftler erscheinen als be­trächtlich. Brühl selbst schildert das Versagen nicht nur von Personen, sondern auch angesichts sachlicher Fragestellungen. Im Anhang erörtert er die Problematik der „Intitulatio der Merowingerkönige“. Seit dem Jahre 1885 wird darüber diskutiert, ob die Kürzung v. inl. der Merowingerdiplome als vir inluster oder aber als viris inlustribus aufgelöst werden müsse, ob es sich dabei also um eine Adresse oder aber um ein Be­standteil des Königstitels handele. Brühl spricht sich mit überzeugenden Argumenten klar für ersteres aus. Dem „glanzvoll“ von S. 1 steht am Ende der Erörterungen zur Intitulatio S. 277 der Satz entgegen: „Ein Ruhmesblatt für die Diplomatik ist diese nun schon über hundert Jahre währende Diskussion jedenfalls nicht gewesen.“ Wahrlich, ist doch ein guter Teil der hinsichtlich der Titulatur eingetretenen Verwirrung darauf zurückzuführen, dass der eine oder andere Wissenschaftler auf die „unselige Idee“ ver­fiel, „der Kanzlei der Merowinger zu unterstellen, sie habe den Titel des eigenen Königs nicht gekannt“. Ein weiteres Beispiel wenig glanzvoller Arbeit ist die Erforschung der Placita, der königlichen Gerichtsurkunden, wovon später noch die Rede sein soll.

 

Die von Brühl vorbereitete Edition soll in chronologischer Reihenfolge 192 Nummern und zu­sätzlich 13 „Spuria moderna“ umfassen. Aufgenommen werden grundsätzlich nur Urkunden im engeren Sinn, das sind Präzepte, Tractoriae (Beförderungs- und Verpfle­gungsanweisungen zugunsten königlicher Beamter), Mandate und Placita, aber keine Briefe und Testamente (S. 30). Unter den 192 Stücken sind 38 Originale aus dem Zeit­raum von 625-717. Ein weiteres Original ist nachweisbar in der französischen Revolu­tion untergegangen. Bei 17 der 39 Originale handelt es sich um Placita, 2 weitere Placita sind nur abschriftlich überliefert, das letzte in einem Druck von 1625. Die „Studien“ befassen sich nun mit der diplomatischen Aufbereitung dieser 192 plus 15 zu edierenden Urkunden, was freilich bedeutet, dass Hunderte, ja Tausende weiterer Quellenzeugnisse und Hinweise ermittelt und bewertend in den Editionszusammenhang eingestellt werden müssen. Dieser ebenso anspruchs- wie verdienstvollen Grundlagenarbeit hat sich Brühl mit hervorragenden Kenntnissen, größter Sorgfalt und „treffsicherem Instinkt“ (Vorwort) gewidmet. Im Zentrum der schwierigen und langwierigen Untersuchungen steht dabei das „discrimen veri ac falsi“. Dieses Bemühen findet seinen Niederschlag im „speziellen Teil“ (Kap. 3-8) des Buches, in dem „die Urkunden für einzelne Empfänger oder Empfängergruppen kritisch untersucht werden“ (S. 49). In diesen Kapiteln unter­sucht Brühl die Fälschungen auf den Namen Chlodowechs I. sowie auf die seiner Söhne und Enkel (S. 50ff.), die Urkunden für die Abtei Saint-Germain des Prés und für das Bistum Paris (S. 110ff.), die Dagobert-Fälschungen für die Abtei Saint-Denis (S. 137ff.), die Urkunden für die Abtei Saint-Maur des Fossés (S. 202ff.), für die Abteien Corbie und „Sithiu“ (Saint-Bertin) (S. 226ff.) und für die Abtei Saint-Wandrille (S. 260-264). Die meisten der auf diesen rund 200 Seiten ausgebreiteten Zusammenhänge können nicht zum Thema dieser Besprechung gemacht werden. Leider ist es ja so, dass sich nur noch wenige Rechtshistoriker mit der Merowingerzeit und ihren Diplomata beschäftigen. Zum anderen befassen sich diplomatische Studien wesensmäßig nur am Rande mit dem Rechtsinhalt der Urkunden, der in diesen als Dispositio meist nur zwei oder drei Zeilen ausmacht. Andererseits muss der Diplomatiker aber doch rechtliche Gegebenheiten im Formular des jeweiligen Urkundentyps und auch die rechtlich geord­nete Wirkungsweise der Urkunden in Betracht nehmen. Vor diesem Hintergrund sollen bezüglich der Placita einige Gedanken zu den Ausführungen Brühls formuliert werden.

 

Die Erforschung der königlichen Gerichtsurkunden der Merowinger gehört jeden­falls nicht zu den Glanzlichtern der Diplomatik. Nicht nur, dass in der Weimarer Zeit eine separate Edition sämtlicher fränkischer Gerichtsurkunden scheiterte, es hat die Diplomatik auch bis zur Stunde kein alle 20 Placita widerspruchsfrei erklärendes For­mular entwickelt. Seit vielen Jahrzehnten bemüht sich die Forschung um eine sinnvolle Deutung insbesondere des pfalzgräflichen Testimoniums und der mit diesem zusam­menhängenden Urteilsvorgänge des Verfahrens, vornehmlich der Definitivsentenz. Auch das Verschwinden des Pfalzgrafenzeugnisses wie schließlich der Placita selbst unter den Karolingern sind weithin ungeklärte Erscheinungen. Nichts davon kommt bei Brühl zur Sprache. Nun sind - vom Formular der Placita einmal abgesehen - die aufge­worfenen Fragen sicher keine Zentralpunkte einer Editionsvorbereitung. Andererseits finden sich aber Aussagen zu den Placita, literaturmäßig vornehmlich Hinweise auf Werner Bergmanns Untersuchungen zu den Gerichtsurkunden der Merowingerzeit im Archiv für Diplomatik 22 (1976), S. 1-186. Von Heinrich Brunner einmal abgesehen, sucht man von (deutschen) Rechtshistorikern verfasste Publikationen im Literaturver­zeichnis des Buches vergeblich. Dies deutet darauf hin, dass es mit den Beziehungen zwischen Diplomatik und rechtshistorischer Forschung nicht gerade zum Besten steht (vergleiche auch die Bemerkung S. 23 Anm. 188, dass sich Bruno Krusch als Editor von Rechtsquellen „mit der gesamten Gilde der Rechtshistoriker überworfen“ habe). Es fehlt folglich im Literaturverzeichnis auch mein 1985 erschienenes „Dinggenossenschaft und Recht“, das S. 806-913 in Auseinandersetzung mit Bergmann und der älteren Literatur die Gerichtsurkunden der Merowingerkönige ausführlich behandelt. Wie wenig die Diplomatik die Ergebnisse rechtsgeschichtlichen Arbeitens noch im Blick hat, zeigt nicht nur die Unkenntnis Brühls, sondern auch der Umstand, dass mir bis heute keine einzige Stellungnahme eines Diplomatikers - z. B. im Archiv für Diplomatik - zu dem 1985 vorgelegten Entwurf bekannt geworden ist. In der Sache äußert sich Brühl zu den Placita angesichts der bereits angesprochenen vir-inluster-Problematik sowie an einigen wenigen weiteren Stellen. Eine der Äußerungen betrifft D Mer 73, ein Placitum Childeberts III. von 703, die dritte einer Serie von sechs Urkunden, die einen sogenann­ten Scheinprozess bezeugen (vgl. Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, S. 830-849). Das Stichwort „Scheinprozess“ fällt jedoch nicht. Vielmehr weist Brühl der Urkunde eine Sonderstellung auch deshalb zu, weil sie „inhaltlich nicht mehr dem Charakter des Placitums“ entspreche (S. 115), beurkunde sie doch „in der Form des Placitums einen Sachverhalt, der überhaupt nicht streitig war“. Zu „Charakter des Placitums“ erfolgt in Anm. 53 der Hinweis: „zu diesen grundlegend Bergmann“. Dies meint die vorgenannte, in zentralen Punkten unklare, von mir kritisierte Arbeit. Die Aussage, dass ein Placitum, zu dem fünf weitere, nicht ausdrücklich erwähnte, gehören, „dem Charakter des Placitums“ nicht mehr entspreche, zeigt zusammen mit der Bewertung der Arbeit Berg­manns als „grundlegend“, dass hier der Charakter der Placita nicht voll und richtig er­fasst ist. Anderen Beobachtungen Brühls kann hingegen zugestimmt werden. So etwa, wenn er hinsichtlich der Überlieferungsdichte von Original-Placita problematisiert, dass von Dagobert I., auf den sehr viele Fälschungen erfolgten, ganze zwei Originale, von Theuderich III. (673-690) fünf und von Childebert III. (694-711) zehn Originale überlie­fert seien, obwohl diese doch nur wenige Jahrzehnte nach Dagobert regiert hätten und „politisch fraglos weit weniger bedeutend waren als dieser“ (S. 142). Hier bleibt Brühl zu Recht bei der herkömmlichen Auffassung von der Bedeutungslosigkeit der späten Merowingerkönige, während etwa Olivier Guillot 1995 Childebert III. angesichts der unter ihm ergangenen Placita trotz seiner Machtlosigkeit zum großen „Rechtskönig“ und Vorläufer Karls des Großen stilisiert hat.[i] Eine Auffassung, die hier nicht ausführli­cher kritisiert werden kann, die aber zeigt, dass gewisse Richtungen in der Geschichts­schreibung nicht mehr in der Lage sind, die kontrafaktische Behauptungsfähigkeit des Rechts auch ohne Stützung durch präsente politische Macht angemessen zu würdigen. Weiterhin ist Brühl beizutreten in der Einschätzung, dass mit einer hohen Zahl von Deperdita für Laien gerechnet werden muss (S. 43). Er stützt dies zu Recht auf folgen­den Befund: Alle erhaltenen Originale entstammen Kirchenarchiven. Von diesen 39 Originalen waren immerhin fünf für Laien bestimmt. Sie sind uns nur erhalten geblie­ben, weil sie nachfolgend in das Archiv von Saint-Denis gelangt sind. Vier dieser fünf Originale sind Placita. Man muss folglich mit einem hohen Verlust gerade an den für Laien ausgestellten Gerichtsurkunden rechnen.

 

Jeder ernsthaft wissenschaftlich Interessierte wird wesentliche Teile des Buches mit größter Spannung lesen. Dies liegt zum einen an den dort zur Sprache kommenden menschlichen Schwächen und Verfehlungen im Forschungsprozess, zum anderen aber an den von Entdeckungen begleiteten und noch immer Entdeckungen ermöglichenden Sachproblemen. Die Grundlagenarbeit der Diplomatik zielt weithin auf Aussagen, die zutreffen oder aber nicht zutreffen. Über „falsch“ und „richtig“ können hier, wenn auch nicht immer sofort, meist definitive Urteile gefällt werden. Nicht zuletzt dies wird der Grund der von Brühl geschilderten intensiven Auseinandersetzungen zwischen Diplo­matikern gewesen sein. Andererseits ist die Arbeit an und mit mittelalterlichen Urkun­den eine Labsal angesichts der Beliebigkeit einer Geschichtsschreibung, die heute teil­weise auf „Fakten“ und „Begriffe“ verzichten zu können meint. Ihr bleibt als Richtig­keitsmaßstab nur noch der Erfolg im massenmedial betriebenen Verdrängungswettbe­werb.

 

Würzburg                                                                                               Jürgen Weitzel

 

 

[i]  Olivier Guillot, La justice dans le royaume franc à l’époque mérovingienne, in: La giustizia nell’alto medioevo (Secoli V-VIII) II, Settimane di studio del centro italiano di studi sull’alto medioevo 42 (1995), S. 653-736.