Der Rechte Weg
Der Rechte Weg. Ein Breslauer Rechtsbuch des 15. Jahrhunderts, hg. v. Ebel, Friedrich unter Mitarbeit v. Carls, Wieland/Schelling, Renate. Böhlau, Köln 2000. 2 Bände, 1-634, 635-1301 S.
Das in einer einzigen Handschrift überlieferte Breslauer Rechtskompendium die „summa, der rechte weg gnant“ vom Ende des 15. Jahrhunderts liegt nunmehr geschlossen in einer von Friedrich Ebel und seinen Mitarbeitern besorgten Edition vor. Die Quelle ist seit mehr als 150 Jahren bekannt, kleine Auszüge wurden immer wieder einmal gedruckt, die Verfasserschaft des Breslauer Patriziers, Handelsherrn, Schöffen und Ratmitglieds Kaspar Popplau (geboren nicht vor 1435, gestorben 1499) kann seit den von Theodor Görlitz 1936 publizierten Forschungen zum „Verfasser der Breslauer Rechtsbücher ,Rechter Weg’ und ,Remissorium’ (Zs. d. Vereins f. Geschichte u. Altertum Schlesiens 70, 1936, S. 195-206) als gesichert gelten. Der „Rechte Weg“ ist eine unsystematisch angelegte Sammlung von 2034 Abschriften und Exzerpten aus Schöffenspruchsammlungen, dem Land- und dem Lehnrecht des Sachsenspiegels, aus Breslauer Willküren und Stadtprivilegien, aus Arbeiten von Nicolaus Wurm und Dietrich von Bocksdorf. Nur gelegentlich wurden die ausgewählten Stücke gebrauchsorientiert leicht bearbeitet. Die Quellen stammen aus der Zeit vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des Abfassungszeitraums 1493. Ihre Mehrzahl entzieht sich einer exakten Datierung. Soweit diese doch möglich ist, datieren die meisten Stücke, von den städtischen Privilegien abgesehen, aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der gesamte Stoff ist rein schematisch gegliedert in 20 Bücher (A-V) zu je 100 Kapiteln, während das wohl als Nachtrag zu sehende Buch X nur 34 Kapitel zählt. Die Erschließung der Sammlung erfolgte ausgangs des Mittelalters durch das ebenfalls von Kaspar Popplau stammende „Remissorium“, ein alphabetisch geordnetes, regestenartig verfasstes Sachregister, das zusätzlich zum „Rechten Weg“ noch weitere Quellen des sächsisch-magdeburgischen Rechts zugänglich macht. Eine baldige Edition dieses Abecedariums kündigt Ebel in seiner gehaltvollen Einleitung an.
Die Edition enthält nach alledem nicht nur Quellen, die bislang ungedruckt waren. Ihr Wert liegt andererseits nicht nur in den neuen Stücken, sondern – wie Ebel zu Recht sagt - in der Präsentation des gesamten Vorrats an Rechtstexten, der den nicht unbedeutenden Breslauer Gerichten „am Vorabend der Rezeption“ zur Verfügung standen. Der ,Vorabend der Rezeption’ ist nun freilich ebenso nur ein Bild wie es die „Vollrezeption“ ist, von der Ebel sagt, dass sie in Breslau dank der Rechtsschriften des Kaspar Popplau verhindert worden sei (S. XV). Eine Geschichte der Rezeption der gelehrten Rechte in Deutschland aus germanistisch-deutschrechtlicher Sicht ist bislang noch nicht geschrieben worden. Die wohl wichtigste Ursache des zunächst einmal rechtskulturellen Transfers, den wir als „die Rezeption“ zu bezeichnen pflegen, dürfte die zunehmende Verschriftlichung auch rechtlich relevanter Lebensvorgänge sein. Wir beobachten sie seit dem 13. Jahrhundert. Kulturgeschichtlich gesehen können also das schriftliche Verfassen und das Sammeln von Schöffensprüchen selbst als Teil der Rezeption neuer Vorstellungen vom Recht gewertet werden. Das Spannungsfeld, in das die ehedem rein mündliche Rechtskultur der Laien hier gerät, macht der bekannte Spruch D 78 zum Verhältnis von Weichbildrecht und Land- oder Lehnrecht deutlich, dessen Aussage doch über das Konstatieren der „Subsidiarität von Landrecht und Lehnrecht“ (so im Kopfregest) hinausgeht. Zur Sache spricht auch I 60: „Ymandis bucher czu corrigiren habe wir nicht gewonheyt“. Unter stärkerer Einbeziehung der Kompetenzfrage begegnet die angesprochene Problematik in Aussagen zum Verhältnis von städtischer Willkür und geschriebenem Recht: der städtische Rat darf ohne Wissen des Stadtherrn nur Willküren setzen, die das geschriebene gemeine Recht nicht verletzen (I 23 – im Kopfregest sollte deshalb nur von der Schranke des gemeinen Rechts die Rede sein). Ist eine solche Aussage außerhalb der gelehrten Rechtsquellenlehre zu deuten? Und B 43 nimmt mit dem Gegensatz von Ratmannen und Schöffen einen weiteren einschlägigen Problemkreis auf, indem am Vorrang des geschriebenen Gemeinrechts gegenüber abweichenden Willküren selbst dann festgehalten wird, wenn die Willküren vom König mit Brief und Siegel bestätigt wurden. Der Vorrang gilt freilich nur für die im Gericht urteilenden Schöffen, nicht auch für die Ratmannen. Mit diesem Spruch hat der urteilende Schöffenstuhl den Anfragenden, deren Stadt- und Gerichtsverfassung offensichtlich von der Magdeburgs abwich, wohl Steine statt Brot gegeben. Nur mit dieser Auslegung ist der ansonsten evidente Verstoß gegen die Regel vom Vorrang des engeren Rechtskreises (im wesentlichen) auszuräumen.
Freilich folgt die Masse der Regeln des materiellen und des Verfahrensrechts den einheimischen, sächsisch-magdeburgischen Rechtsgewohnheiten. Auch die zur Sprache kommenden Rechtsgebiete unterscheiden sich verständlicherweise nicht von den aus anderen Spruchsammlungen bekannten: Erb- und Ehegüterrecht sowie Verfahrensrecht stehen voran, die Bewältigung deliktischen Unrechts, Nachbarrecht und Vertragsrecht (Darlehen, Kauf, Werkvertrag, Gesellschaft, Frachtführung, Miete) scheinen auf. In welchem Umfange hier rezipierte Vorstellungen Einfluss genommen haben, kann nur in Detailanalysen geklärt werden. Hinsichtlich der Unrechtsbewältigung machen Sprüche wie A 48 zur Anklage durch den Richter bei städtischem Totschlag und zum Klagezwang nach wegen anderer Übeltaten erhobenem Gerüfte sowie B 25 zur Unzulässigkeit der Folter vor gerichtlicher Überführung das Heraufkommen neuer, auch vom gelehrten Recht beeinflusster Verhältnisse anschaulich.
Massiv und unverdeckt wird gelehrtes Recht aus Bocksdorfs und Wurms Arbeiten aufgenommen: R 93-100, S. 1-100, T 1-100 und V 1-100. Die Handschrift weist nach T 100 darauf hin, dass „czwehundert regiln des keyserrechtis“ den 2000 Regeln im Buch „Ad decus ad decorem sacri imperii“ entnommen wurden. Ebel erkennt (S. XIV), dass diese alphabeti
sche Sammlung von Rechtsregeln des Nicolaus Wurm mit der ebenfalls von Wurm stammenden „Blume des Sachsenspiegels“ identisch ist.
Einleitung, Kopfregesten, Hinweise auf anderweitige Überlieferung der Stücke, umfangreiche Register (Orte, Personen, Sachen, Zitate des gelehrten Rechts) sowie Konkordanzen zu deutschen Rechtsquellen erschließen zuverlässig das umfangreiche Material. Erneut ist dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern Dank für Grundlagenarbeit auszusprechen, die dazu beitragen wird, das spätmittelalterliche deutsche Recht und sein Verhältnis zum gelehrten ius commune besser zu verstehen. Der Hinweis darauf, dass der Quelle auch sprach-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Bedeutung zukommt, wie dies an anderer Stelle insbesondere RenateSchelling-Schiewer dargetan hat, soll hier nicht fehlen.
Würzburg Jürgen Weitzel