Rudolph, Harriet, „Eine gelinde Regierungsart

“. Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium. Das Hochstift Osnabrück (1716-1803) (= Konflikte und Kultur, Historische Perspektiven 5). UVK, Konstanz 2001. 407 S. Besprochen von Eva Lacour.

Rudolph, Harriet, „Eine gelinde Regierungsart“. Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium. Das Hochstift Osnabrück (1716-1803) (= Konflikte und Kultur, Historische Perspektiven 5). UVK, Konstanz 2001. 409 S.

 

Ausgeprägtes Gewicht legt Harriet Rudolph in ihrer Trierer geschichtswissenschaftlichen Dissertation auf den Sanktionsverzicht. Dieser Teil der Arbeit, welche die peinliche Strafjustiz im Hochstift Osnabrück im 18. Jahrhundert umfassend und gründlich von allen Seiten beleuchtet, zeichnet sich durch besondere Originalität aus. Den Verzicht auf die normativ eigentlich vorgesehene Strafe charakterisiert die Autorin als Strategie, denn gerade „im partiellen Verzicht auf die Durchsetzung der Rechtsnormen dokumentiert sich die Vielfalt der Herrschaftsmittel, die dem frühneuzeitlichen Territorialstaat zur Verfügung stand“ (S. 262). Mit Konfliktvermeidung, Schadensbegrenzung, Effizienz und Pragmatismus benennt sie die „Leitlinien der Osnabrücker Sanktionspraxis“ (S. 351). So war denn der Sanktionsverzicht am geringsten bei den Delikten mit dem höchsten „Konfliktpotential“ (S. 348): bei Mord, Kindestötung, Brandstiftung und Raub, weil diese Taten von der Justiz als besonders gefährlich bzw. gesellschaftlich und politisch destabilisierend empfunden wurden.

 

Rudolph unterscheidet verschiedene Varianten: Beim „vorprozessualen Sanktionsverzicht“ (S. 228) kam es nicht zu einem Verfahren, z. B. weil die Einhaltung der Normen unzureichend überwacht wurde. „Der Ausbau des Sanktionsapparates besaß [...] keine Priorität.“ (S. 229) Häufig setzte erst die Herstellung von Öffentlichkeit durch das Gerücht die Ermittlungen in Gang. Eine weitere Möglichkeit stellte die offene oder verdeckte Sanktionssabotage durch die Untertanen, Vögte oder Ämter dar; das Ignorieren einer Straftat, Fluchtbegünstigung, Zeugnisverweigerung oder offener Widerstand waren die Optionen. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, als die Zahl der Anzeigen stark anstieg, verzichtete die Kanzlei zunehmend auf die Einleitung eines ordentlichen Prozesses, wenn der Verdächtige geflohen oder die Beweislage schwierig, bzw. Arbeitsaufwand und Kosten hoch erschienen. Man begann Kosten und Nutzen gegeneinander abzuwägen. Bei geringeren Delikten wurde das Verfahren verkürzt, bei einfachem Diebstahl beispielsweise nur noch ein summarischer Prozess durchgeführt. Um Beschwerden gegen das Urteil zu vermeiden, wodurch die Kanzlei gezwungen worden wäre, dieses schriftlich zu rechtfertigen, verhängte sie in der Regel maximal zwei Jahre Zuchthaus. „So führte auch die Straffung des Verfahrens in der Konsequenz oft zu einem Strafteilverzicht.“ (S. 243)

 

Auch die zweite Variante, der – meist partielle – „Sanktionsverzicht innerhalb des Strafverfahrens“ (S. 246) gliedert sich in verschiedene Ausprägungen: die Instanzentbindung (absolutio ab instantia), die Ermessensstrafe (poena extraordinaria) und die Strafmilderung im Rahmen der landesherrlichen Bestätigung. Gerade bei professionellen Wiederholungstätern, also bei schweren Delikten, wurden im 18. Jahrhundert aufgrund der permanenten Arbeitsüberlastung der Justizbehörde, zur Beschleunigung des Verfahrens und wegen der sich verändernden Einstellung zur Folter häufiger Verdachtsstrafen verhängt. Die Gnadenakte des Landesherrn waren fast immer bereits von der Kanzlei vorgeschlagen worden – es handelte sich also nicht um die theoretisch mögliche Willkürjustiz –, nämlich in Fällen, in denen die Gesetzeslage eine als „unbillige Härte“ begriffene Strafe vorsah (S. 257). Mitunter forderten die Räte Delinquenten selbst zur Supplik auf. „Das Bestätigungsrecht bot Landesherr und Territorialbehörden die bequeme Möglichkeit, als überholt begriffene Rechtsnormen unwirksam zu machen, ohne sie ausdrücklich aufheben zu müssen.“ (S. 258)

 

Der Aussicht einer Supplik auf Erfolg war mit 70% erstaunlich hoch, bei besonders schweren Delikten natürlich relativ am geringsten. Bei Mord war eine Begnadigung von der Todesstrafe ausgeschlossen, lediglich hinsichtlich der Hinrichtungsart konnte dem Verurteilten entgegengekommen werden. Entscheidend waren Reue und demonstrative Rechtsakzeptanz, aber natürlich auch die soziale Verankerung des Delinquenten und das Engagement seines Umfeldes, das eine zukünftige Rechtstreue erwarten ließ. Über das in der Supplik erbetene Ausmaß an Gnade ging man niemals hinaus. Andererseits durfte der Bittsteller auch nicht zuviel fordern. In der Hierarchie der Strafarten konnte keine Stufe einfach übersprungen werden, z. B. von der Todesstrafe zur Geldstrafe.

 

Der Nutzen für bzw. die Wirkung der Sanktion auf Delinquent, Gesellschaft und Staat – nicht die Rechtmäßigkeit – bildete das zentrale Prinzip ihrer Bemessung. Ziel waren individuell angemessene und gesellschaftlich akzeptierte Strafen mit ausreichender spezial- und generalpräventiver Wirkung. Zwar handelte es sich bei den aufgezeigten Strategien nicht um „Neuentwicklungen des 18. Jahrhunderts“ (S. 345), doch neu war deren systematische und regelhafte Anwendung.

 

Auch aufgrund ihrer Systematik stellt diese Arbeit einen Gewinn für die Historische Kriminalitätsforschung dar.

  Anschau                                                                                                                    Eva Lacour