Röhr, Werner, Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte
Röhr, Werner, Hundert Jahre deutsche Kriegsschulddebatte. Vom Weißbuch 1914 zum heutigen Geschichtsrevisionismus. VSA, Hamburg 2015. 295 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Im Artikel 231 des Vertrages von Versailles wurde Deutschland und seinen Verbündeten 1919 zur Begründung von Reparationsforderungen trotz fortwährenden Protests die alleinige Verantwortung für den Ersten Weltkrieg angelastet; seither werden unausgesetzt Argumente um die historische Berechtigung oder Nicht-Berechtigung dieser Zuschreibung ins Treffen geführt, ganz abgesehen von der Realität eines weiteren blutigen Weltkrieges. Als sich vor nunmehr zwei Jahren der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal gejährt hat, war auch dieses Erinnern im Vorfeld begleitet von der üblichen Flut an Publikationen, die derartige Jubiläen mit sich bringen. Im günstigen Fall sind darunter Schriften zu finden, die über den bisherigen Stand des Wissens hinausführen, neue Perspektiven eröffnen und damit das bestehende Geschichtsbild einer Modifikation unterziehen. Eine ergebnisoffene Forschung mag dabei zu Resultaten führen, die an gemein gewordenen Vorstellungen kratzen und damit heftige Verteidigungsreflexe auslösen können.
Dem in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sozialisierten, promovierten und habilitierten Philosophen und Historiker Werner Röhr missfällt so manches, was im Zuge des Gedenkjahres vornehmlich im Hinblick auf die Kriegsschuldfrage an (wirklich oder vermeintlich) Neuem zu Tage getreten ist. Bekanntlich hat Christopher Clark in seiner viel beachteten Studie „Die Schlafwandler“ (2013) ein gesamteuropäisches Versagen der Diplomatie im Angesicht der drohenden Kriegsgefahr glaubhaft machen können, der Politologe Herfried Münkler in „Der Große Krieg“ (2013) die prekäre Lage des Deutschen Reiches in der Mitte Europas hervorgehoben, die seiner Ansicht zufolge keine Neutralität zugelassen und einer entsprechenden sensiblen Wahrnehmung durch die umgebenden Großmächte bedurft hätte, die jedoch weitgehend unterblieben sei (beide Arbeiten sind vom Rezensenten im Jahrgang 2014 der ZIER einer näheren kritischen Würdigung unterzogen worden). Werner Röhr spricht ihnen jedoch ihre Qualität als „seriöse[ ] wissenschaftliche[ ] Publikationen“ ab und nennt sie „zu Bestsellern hochgeputschte[ ] dickleibige[ ] Bücher[ ]“ (S. 122); Clarks Bucherfolg offenbare einem Diktum Hans-Ulrich Wehlers zufolge jedenfalls „ein tiefsitzendes, jetzt wieder hochgespieltes apologetisches Bedürfnis der Deutschen, sich von den Schuldvorwürfen zu befreien“, das Buch Herfried Münklers wiederum wirke „wie ein Fortsetzungsband zu Clark“ (S. 132). Beide „reduzierten die Diskussion über den Beginn des ersten Weltkrieges auf Diplomatie- und Militärgeschichte“ (S. 252).
Diesen die „kurzen Wege“ des Hineinschlitterns in den Krieg hervorhebenden Positionen stellt der Verfasser in der Tradition der Thesen Fritz Fischers die Bedeutung der von ihm für weit wesentlicher erachteten, „langfristig wirkenden strukturellen Sachverhalte“ gegenüber, konkret die Verflechtung des deutschen Finanzkapitals mit dem preußischen Militarismus, die Rivalität der imperialistischen Großmächte, unter denen sich das „verspätete“ Deutschland durch besondere Aggressivität hervorgetan habe, den preußisch-deutschen Militarismus als die „nur dürftig parlamentarisch verschleiert(e) faktische Militärdiktatur“ (S. 259), das Wettrüsten, die vorbereitenden Kriege und die Verfassungskrise seit Reichskanzler Bülows Sturz 1909. In ihrer Diktion unverkennbar vom Historischen Materialismus geprägt ist seine folgende, zusammenfassende Kausalkette: „Die mit dem Militarismus und dem Wettrüsten einhergehende Beutegier war nicht auf eine einzelne Klasse beschränkt, sie erfasste die Industriellen und die Militärs, das militaristisch geprägte Kleinbürgertum und selbst die Professorenschaft. Ausgehend von der Überschuldung erschien die Beutegier angesichts der Siegesgewissheit des Militärs als eine konstitutive Antriebskraft für die Entscheidung, den Krieg zu provozieren“. Durch die explizite politische Entscheidung für den Krieg seien diese „notwendigen“ schließlich zu „hinreichenden Kriegsursachen“ geworden: „Und diese Entscheidung haben der Große Generalstab und die Reichsregierung bewusst getroffen und damit die Verantwortung auf sich genommen. Die besondere Verantwortung des deutschen Imperialismus für den ersten Weltkrieg besteht darin, den Krieg provoziert zu haben und alle sich bietenden Chancen, ihn möglichst bald wieder zu beenden, immer wieder sabotiert und ausgeschlagen zu haben“ (S. 263f.).
Diese auf Deutschland fokussierende Argumentation zeichnet sich nun nicht gerade durch eine besondere Originalität aus. Sie liegt ganz auf der Linie der von Fritz Fischer ab 1959 vorgetragenen Position, die in eine lange anhaltende, erst um die Mitte der 1980er-Jahre abklingende und als „Fischer-Kontroverse“ in die Geschichte der Geschichtswissenschaft eingegangene Fachdebatte münden sollte. Sozioökonomische Kriegsursachen erfuhren in der Folge eine verstärkte Beachtung, der lange dominierende nationale Abwehrkonsens erlitt eine nachhaltige Beschädigung. Dass sich die These von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands am Ende des Tages dennoch nicht durchsetzen konnte, ist gerade Forschungen zu verdanken, die im weiteren ihren Blick über den deutschen Tellerrand hinaus auf die gesamteuropäische Mächtekonstellation und das Verhalten dieser Akteure gerichtet haben und in deren Tradition auch Clark und Münkler stehen. Das sich aus solchem Perspektivenwechsel ergebende, mehrdimensionale und neue Gesichtspunkte eintragende Bild wird in jedem Fall immer das bestehende ergänzen und modifizieren, eine Totalrevision ist hingegen wenig wahrscheinlich. Weshalb dann also diese heftige Reaktion bei Werner Röhr, die ihn veranlasst, beginnend mit völkerrechtlichen Erörterungen zum ius ad bellum und ius in bello die Entwicklung der deutschen Kriegsschuldfrage, die sich von deutscher Seite lange als ein zäher, einst im Kriegsschuldreferat des Auswärtigen Amts gleichsam institutionalisierter Kampf um die Zurückweisung der Alleinschuldhypothese liest, aus seiner Sicht unter Einschluss aktueller Streitfragen im vorliegenden Band umfassend aufzubereiten und darzustellen?
Eine mögliche Antwort darf man in den Überlegungen des kurzen Nachworts (S. 271ff.) vermuten, das unter dem Titel „Der erste Weltkrieg und die Normalität imperialistischer Kriege in der Gegenwart“ eine funktionale Brücke schlägt. Denn hier unterstellt der Verfasser nichts weniger als eine Instrumentalisierung der Kriegsschulddebatte zur Rechtfertigung eines von ihm wahrgenommenen, neuen deutschen militaristischen Imperialismus: „Und so wie 1900 die gesamte Phalanx deutscher Historiker hinter den Weltmachtideen stand; während des ersten Weltkrieges hunderte Professoren den deutschen Militarismus beweihräucherten, die deutschen Kriegsziele legitimierten, die deutschen Kriegsverbrechen abstritten oder bemäntelten und dem Krieg einen höheren weltgeschichtlichen Sinn für die Erneuerung der Menschheit zuschrieben; nach 1919 ganze Legionen deutscher Historiker im Feldzug gegen die ‚Kriegsschuldlüge‘ sich die Finger wund schrieben, so stehen auch zum 100. Jahrestag des Beginns des ersten Weltkrieges konservative Historiker neben Politikwissenschaftlern in der ersten Reihe bei der Umwertung des ersten Weltkrieges zur Rechtfertigung der erneuten Militarisierung imperialistischer deutscher Außenpolitik“ (S. 275). Es sei „der deutsche imperialistische Nationalstaat“, der offen einfordere, „dass seine wirtschaftlichen, politischen, militärischen und ideologischen Bedürfnisse von den Nachbarn bedient werden“, und mit dem „Einsatz deutscher Streitkräfte 1999 im Krieg gegen Rest-Jugoslawien“ habe nach Werner Röhr „der Kampfeinsatz erstmals seit dem zweiten Weltkrieg wieder die Schwelle des Aggressionskrieges“ überschritten (S. 272f.). Die Wende von 1989/1990 ist für ihn - vielsagend - denn auch nicht zuallererst die Beseitigung einer Diktatur, sondern „der Erfolg des Eroberungsprogramms namens ‚Wiedervereinigung‘“, mit dem „in Europa erstmals nach dem zweiten Weltkrieg Staatsgrenzen verändert und ein international anerkannter Staat als Völkerrechtssubjekt beseitigt worden“ war, der erneuerte deutsche Nationalstaat durfte fürderhin „im erlauchten Kreis der ‚internationalen Staatengemeinschaft‘, sprich der imperialistischen Hauptländer im Gefolge der USA, einseitig das Recht auf Kriegführung für sich in Anspruch nehmen“ (S. 271f.).
Es ist ein allzu kühner Bogen, in dem der Verfasser seine grundsätzliche Ablehnung nicht nur jedes militärischen Engagements Deutschlands und der Übernahme von Verantwortung im Ausland, sondern offensichtlich auch des geeinten deutschen Nationalstaates überhaupt mit ihm nicht genehmen Forschungserkenntnissen zum Ersten Weltkrieg verquickt. Wenn dieser behauptete neue deutsche Imperialismus nun tatsächlich schon seit einem Vierteljahrhundert wieder so erfolgreich am Werk sein sollte, ist schwer einzusehen, warum er zu seiner Rechtfertigung der Entfernung der „Versiegelung der Sicht auf den ersten Weltkrieg durch die These von der Hauptschuld des Deutschen Reiches“ (S. 276) durch willfährige Wissenschaftler überhaupt bedürfen sollte, ganz abgesehen von der Frage, was den australisch-britischen Historiker und Bruno-Kreisky-Preisträger (ein Preis, der „im Sinne des Lebenswerks Bruno Kreiskys“ politische Literatur ehrt und fördert, die „für Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Toleranz, Kampf gegen Rechtsextremismus und für die Freiheit der Kunst einsteht“) Christopher Clark überhaupt dazu veranlassen sollte, seine unabhängige Forschung in den Dienst eines solchen Unterfangens zu stellen. Gelesen als generelle Kritik an der nationalstaatlichen Ordnung mag zwar Röhrs Skepsis gegenüber dem deutschen Nationalstaat ihre Berechtigung haben, doch beweist gerade die – weitgehend auf gegen deutsche Ambitionen durchgesetzte nationalstaatliche Egoismen zurückzuführende – offensichtliche Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union, dass in der Praxis der für eine Überwindung der nationalstaatlichen Organisation notwendige, breite europäische Konsens zurzeit bestenfalls als Utopie existiert. Die Wahrnehmung nationalstaatlicher Interessen in dem von der Rechtsordnung, den guten Sitten und der internationalen Solidarität vorgegebenen Rahmen ist somit nichts grundsätzlich Illegitimes oder moralisch Verwerfliches.
Werner Röhrs Fundamentalkritik an einem von ihm konstatierten, angeblich politisch instrumentalisierten oder zumindest instrumentalisierbaren Geschichtsrevisionismus scheint im Kern an seiner – Röhrs – eigenen ideologischen Fixierung zu leiden. Sein apodiktisches Festhalten am Bild einer deutschen Exklusivschuld am Ersten Weltkrieg und die Zuweisung von Verantwortung an nicht näher differenzierte Kollektive und deren Interessen wirken bisweilen wie ein anachronistischer Rückfall in Methoden, die eine moderne Forschung seit Jahrzehnten überwinden und durch adäquatere Mittel der Analyse ersetzen konnte, seiner Verknüpfung der historischen Fachdiskussion mit der Ausrichtung gegenwärtiger Politik haftet etwas Willkürliches an. Daraus soll nun nicht der voreilige Schluss gezogen werden, man könne dieses Buch nicht mit Gewinn lesen; das Gegenteil ist der Fall. Denn die Legitimität, ja Notwendigkeit der – wenn auch keineswegs ausschließlichen – Berücksichtigung strukturgeschichtlicher Perspektiven, die ganz wesentlich von der marxistischen Lehre angeregt worden sind, im historischen Prozess ist nicht von der Hand zu weisen. Und unter Beachtung der erwähnten Einschränkungen vermittelt der durch seine kritische Kommentierung aktueller Forschungspositionen im Detail sehr wohl inspirierende Band in seiner Gesamtheit vor allem einen Eindruck von der Art, wie historischen Streitfragen in Anwendung auf konkrete Gegenwartsphänomene in Politik und Gesellschaft eine Funktion zugeordnet werden kann.
Kapfenberg Werner Augustinovic