Schulze, Reinhard, Geschichte der islamischen Welt
Schulze, Reinhard, Geschichte der islamischen Welt. Von 1900 bis zur Gegenwart. Beck, München 2016. 767 S., 7 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die starke Zuwanderung von Menschen islamischer Kultur hat auch im mitteleuropäischen Raum zu Konflikten geführt. Eine Ursache dieser zumeist xenophobisch motivierten Verwerfungen darf in einem Mangel an interkultureller Kompetenz auf beiden Seiten vermutet werden. Das Unbekannte gilt seit jeher als potentiell gefährlich, doch ist spätestens seit der Aufklärung bekannt, dass die rationale, Wissen generierende Auseinandersetzung mit diesem Unbekannten erhellend wirkt und im Prozess des Verstehens Ängste und Vorurteile abgebaut werden. Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Präsenz des Themas Islam kommt somit der abseits der engeren Fachwelt lange wenig wahrgenommenen Islamwissenschaft eine immer größere Bedeutung zu. Ihren Erkenntnissen, verständlich aufbereitet und allgemein vermittelt, darf zugetraut werden, längerfristig das gängige, zwischen Terrorismusgefahr, Ehrenmorden und dem historischen Bild des brennenden und sengenden Türkenkriegers changierende Islamklischee durch eine realistische Wahrnehmung dieser differenzierten Kultur zu ersetzen.
Der an der Universität Bern Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie lehrende Reinhard Schulze hat sich der ambitionierten Aufgabe gestellt, die Entwicklung der heterogenen islamischen Welt über das letzte Jahrhundert zu verfolgen und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Dieses Unterfangen gestaltete sich insofern bereits als schwierig, dass zahlreiche, gemeinhin verwendete und auf den Islam bezogene Begriffe einer klaren, allgemein anerkannten Definition entbehren. So sei schon der Terminus der islamischen Welt eine in der Vorstellung der islamischen Öffentlichkeit verankerte, in erster Linie diskursive Selbstzuordnung. Formal-politisch setze sie sich aus drei Elementen zusammen: der Staatengemeinschaft der Organisation der Islamischen Zusammenarbeit (OIC) zu 81 Prozent, den alteingesessenen Minderheitengemeinschaften in anderen Ländern zu 17 Prozent und den neuen muslimischen Migrationsgemeinschaften zu 2 Prozent. Der Verfasser verzichtet bewusst auf eine Aneinanderreihung von Länderstudien. Seine Bezüge zur Geschichte der Länder und Regionen verstünden sich als Fallbeispiele: „Sie sollen verdeutlichen, in welcher Weise der politische, kulturelle und soziale Prozess der Moderne des 20. Jahrhunderts auf die Gesellschaften der islamischen Welt gewirkt hat, wie aus einer islamischen Perspektive die Moderne gestaltet wurde und wie Gemeinsamkeiten und Besonderheiten die einzelnen Ländergeschichten geprägt haben“. Die Fragestellung des Buches sei daher „auf die politische Öffentlichkeit ausgerichtet“ und beruhe „im Kern auf einer sozialgeschichtlichen Perspektive“; es solle erkennbar werden, „dass nicht etwa ‚die islamische Kultur‘ (oder gar ‚der Islam‘ selbst) die primäre Wirkungsmacht der islamischen Welt in der Moderne gewesen ist, sondern der Zeitkontext der Moderne, der sie fest in ein supranationales Weltgeschehen eingebettet hat“ (S. 29).
Als Rahmen für die islamische Öffentlichkeit definiert der Verfasser die nationalstaatliche Ordnung in einem territorialen Gefüge, wie es der Kolonialismus präjudiziert hatte. Die Geschichte ihrer Diskurse zeige im Rückblick die folgende Entwicklung: Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war der Staat der hegemoniale Leitbegriff, sodann habe der Begriff der Gesellschaft dominiert, der wiederum 1990 seinen Vorrang an den Begriff der Kultur abgegeben habe. Mit der „Globalisierung ökonomischer und sozialer Bezüge“ hätte „die alte Gesellschaft und Religions-Ordnung der Moderne die soziale Integration nicht mehr umfassend gewährleisten“ können, mit der Folge einer „Desintegration der Ordnung, die bislang der Islam im öffentlichen Raum repräsentiert hatte“. Es sei ein „Epochenbruch“ eingetreten, dessen Auswirkungen nun überall zu gewärtigen seien: „Verkürzt gesagt ging […] der Konsens, was der Islam sei, verloren. Neben wertkonservative[ ] Deutungen aus der Mitte einer islamischen Bürgerlichkeit traten eine Vielfalt von Ausgestaltungen einer konsumorientierten Erlebnisfrömmigkeit sowie ultrareligiöse Islamdeutungen, die den Islam allein durch eine radikale Normativität Wirklichkeit werden lassen wollten. Diese Deutungen standen jenseits der Gesellschaft und der Religion. […] Die gleichzeitig einsetzende Konfessionalisierung des Islam zerstörte […] die Idee, dass es eine ,islamische Welt‘ gebe. […] Damit geriet auch die Stabilität der […] nationalstaatlichen Ordnung ins Wanken. Konkurrierende Weltsichten schufen etwa in Somalia, Afghanistan, dem Nordkaukasus, Syrien, Irak, Jemen und Libyen neue territoriale Herrschaftsräume, die als Anzeichen für eine weitergehende ‚Um-Ordnung‘ der alten Nationalstaaten gesehen werden können“ (S. 27f.).
Zur Konkretisierung des beschriebenen Modells wendet die Arbeit insgesamt sieben Kapitel auf. Wie der Verfasser ausführt, bauen die ersten fünf (chronologisch gegliedert in die Perioden 1900 - 1920, 1920 - 1939, 1939 - 1958, 1956 - 1973, 1973 - 1989), überarbeitet und ergänzt, auf seine „Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert“ (1994) auf, während die letzten beiden, dem Gebot der Aktualität folgend, völlig neu erstellt worden sind, mehr als ein Drittel der Darstellung einnehmen und die Phänomene des „Epochenbruchs“ („Die Erosion der islamischen Öffentlichkeit“ sowie „Der Arabische Frühling und danach“) zum Gegenstand haben. Sieben Karten im Anhang bieten eine sehr gute Orientierung über das jeweilige Ausmaß des islamisch dominierten Raums. Im Vergleich ergeben die Graphiken zur islamischen Welt um 1900 und um 1993 im Hinblick auf das Areal einer islamischen Mehrheitskultur nahezu Deckungsgleichheit: Diese umfasst im Wesentlichen die gesamte nördliche Hälfte des afrikanischen Kontinents, mit einem Vorstoß nach Süden an der ostafrikanischen Küste bis nach Madagaskar, sowie den gesamten Raum, der umschlossen wird von einer Linie, die, verlaufend im westlichen Indischen Ozean von Madagaskar bis Ceylon, dann, nach Norden springend, vorbei am indischen Subkontinent über Pakistan, Tadschikistan und Kirgisistan, sich nach Westen wendend durch Kasachstan, das Nordufer des Kaspischen Meeres, den Kaukasus, quer über das Schwarze Meer und den europäischen Teil der Türkei einschließend, schließlich entlang der kleinasiatischen Küste wieder Nordafrika erreicht. Malaysia mit der indonesischen Inselwelt und zwei Enklaven in China bilden gesonderte islamische Sphären. Unterschiede zwischen 1900 und 1993 lässt die Raumordnung vorwiegend auf dem Balkan und in Nordindien erkennen: Ersterer ist vorübergehend nicht mehr Teil der muslimischen Mehrheitsökumene, und durch das Verschwinden der islamischen Bevölkerung Nordindiens hat Bangladesch seine Landbrücke zur übrigen islamischen Welt verloren. Die Karte der islamischen Welt 2015 sieht den Islam auf dem Westbalkan wieder auf dem Vormarsch. Sie weist darüber hinaus die aktuellen territorialen Forderungen aus, wie sie von ultrareligiösen Kampfbünden, Verfechtern konfessioneller Ordnungen und ethnischen Sezessionisten vorgetragen werden.
Den „Bezug zum Staat und zur Gesellschaft“ benennt der Verfasser als „die zwei bestimmenden Merkmale der politischen Öffentlichkeit auch in der islamischen Welt“. Mit der Ethnisierung wurde „ein neues Referenzsystem des Politischen geschaffen, in dem als drittes Merkmal die (mythisch begründete) Gruppe bestimmend wurde“, womit sich andeutete, „dass der Islam des 21. Jahrhunderts nur noch wenig mit dem des 20. Jahrhunderts zu tun haben würde“. Indem die hegemoniale Stellung der islamischen Öffentlichkeit schwand, erlangten zugleich ultraislamische Weltsichten „jenseits der Ordnung der Moderne“ Bedeutung, die ihre Macht „durch die Ausdeutung von Gewalthandeln als legitimem Ausdruck des ‚Willens‘ der Schicksalsgemeinschaft (bezogen), ja Gewalthandeln konnte zum Bestandteil der Normenordnung selbst werden“. Werde der Islam als „Daseinswahrheit“ begriffen, heiße das für manche, „dass Gewalthandeln nicht nur Kultpflicht bedeute, sondern zugleich auch dem Gewalthandelnden eine Katharsis ermögliche und Erlösung bringe, und zwar deshalb, weil sie im Falle des Selbstmords die höchste und letztmalige Form der Existenzerfahrung bewirke. […] Seit den frühen 1990er-Jahren […] ereigneten sich erstmals Massaker, die von den Tätern explizit oder implizit als islamisch gedeutet wurden. Zwischen 1993 und 2015 wurden mehr als 250 Einzelhandlungen unter dem Begriff ‚islamistischer Terrorismus‘ gezählt, denen insgesamt etwa 13000 Menschen zum Opfer fielen“, überwiegend in Ländern der islamischen Welt, Israel und Indien (S. 452ff.). Die Opfer der jüngsten Anschläge auf europäischem Boden vermehren diese erschreckende Bilanz. Konsequenter Weise sind die abschließenden Kapitel der Arbeit der Entwicklung des 2006 ausgerufenen „Islamischen Staates im Irak“ (IS), der sich 2012 als „Nukleus eines zukünftigen ‚islamischen Kalifats‘“ (S. 562) deklarierte und eine transnationale Territorialmacht aufzubauen begann, Boko Haram in Nigeria und den ultraislamischen Bünden in Mali gewidmet.
Reinhard Schulzes anspruchsvolle, hochaktuelle Darstellung entfaltet ein genaues Bild der komplexen Prozesse in den Ländern der islamischen Welt unter der Ägide der Dekolonisation und der Modernisierung. Sie zeichnet unter anderem die Genese der großen Konfliktherde nach und betont die herausragende Rolle der islamischen Öffentlichkeit(en), deren Bedeutungsverlust seit dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zunehmend den Raum für alternative, gewaltbereite Gruppierungen öffnete. Die Problematik der gegenwärtigen Entwicklung im Kontext verwickelter historischer Gemengelagen wird damit ebenso deutlich wie jene einer Reduktion des gesamten Islam auf eine Ideologie des Terrors. Hervorzuheben ist nicht zuletzt auch die vorbildliche Ausstattung des Bandes: Der Anmerkungsapparat beschränkt sich keineswegs nur auf Literaturbelege, sondern beinhaltet erhebliche Mengen an ergänzender Information, ein Glossar gibt Aufschluss über grundlegende Termini, meist arabischer oder türkischer Provenienz, von den „Abbasiden“ („Arabische Kalifatsdynastie, herrschte 750-1258 im Irak, 1258-1516 symbolisch in Kairo“) bis zur „zaidīya“ („Schiitische Rechtstradition, die das Imāmat von Zaid b. ‘Alī (gest. 740) anerkennt; als staatliche Tradition seit dem 9. Jh. bezeugt, im Jemen seit 893 fest verankert“), und das gemischte Register verzeichnet Personen, Orte und Institutionen, daneben aber auch Begriffe wie „Gerechtigkeit“ oder „Klassizismus“. Die sieben Seiten umfassende Zeittafel listet penibel die die islamische Welt berührenden oder mit dem Islam im Zusammenhang stehenden, relevanten historischen Ereignisse vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Jahr 2015 auf.
Kapfenberg Werner Augustinovic