Gafke, Matthias, Heydrichs „Ostmärker“
Gafke, Matthias, Heydrichs „Ostmärker“ - Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939-1945 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart Band 27). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015. 329 S., Ill. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.
Die vorliegende Arbeit, zu der Werner Augustinovic schon überaus sachkundig Stellung genommen hat, gehört in den Kreis der sich häufenden Studien zur Täterforschung. Angesichts der schon zahlreichen Veröffentlichungen konnte der Autor viele Arbeiten auswertend heranziehen. Bei der Referierung von Arbeiten aus den Jahren vor 1989 wird von ihm übersehen, welche Schwierigkeiten die damaligen Autoren hatten, an relevantes Material heranzukommen. Das Document Center in Berlin stand der Forschung nur in Ausnahmefällen zur Verfügung. Gerichtliche Akten konnten zwar in Einzelfällen genutzt werden, jedoch waren bei einer Nutzung sehr restriktive Datenschutzauflagen zu beachten, so dass dem Datenschutz der teilweise noch lebenden Akteure vor den Erkenntnisgewinn einer wissenschaftlichen Arbeit Vorrang eingeräumt wurde. Eine Erwähnung der Krankheit, die zum Tode eines Probanden führte, wäre vor 1989 mit Namensnennung (S. 277, 307) unzulässig gewesen. Die Ermittlungsergebnisse der Ludwigsburger Zentralstelle wurden noch für die Suche nach Straftätern genutzt und nicht der Forschung zugänglich gemacht. Zeitgeschichtliche Gutachter, die sich mit großem Engagement ihrer Arbeit widmeten, hatten zu vielen Unterlagen, an die heute schon der Verfasser einer Hausarbeit im Studium gelangt, keinen Zugang. Falsch ist es insofern, Helmut Krausnick vorzuwerfen (S. 11), er habe Gutachten verfasst, mit deren Hilfe aus den Tätern „Tatgehilfen“ wurden. Nicht der Gutachter bereitete die Gehilfenrechtsprechung vor, sondern das urteilende Gericht (wenigstens in der Bundesrepublik Deutschland) erschuf – der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgend – den Gehilfen. Die Forschung an den Lehrstühlen der Geschichte der Neuzeit oder der Politikwissenschaften wandte sich nicht den Details der Befehlsstränge bei SS, SD und Polizei zu. Auf diesem Gebiet hat die Staatsanwaltschaft Berlin im Rahmen des Ermittlungskomplexes Reichssicherheitshauptamt die Arbeiten geleistet, die dann K. M. Mallmann, M. Wildt und andere auswerten konnten. Wenn während dieser Arbeiten eine gesetzliche Neuregelung alle diese Bemühungen zur Makulatur werden ließ, so sind alle am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten für ihre mangelnde Sorgfalt zu tadeln.
Der Autor belegt viele seiner Aussagen mit Zitaten, jedoch ist es eine Besonderheit der Arbeit gerade für solche Zitate, die er betont und zu denen er den Urheber nennt, keine Fundstellen anzugeben, so etwa Ettighoffer (S. 25), Zuckmayer (S. 27), Aly (S. 40), Höhne (S. 54) und Mommsen (S. 113). Alle Genannten haben nicht nur ein Buch geschrieben, so dass zu vermuten ist, dem Autor sei es zu mühsam gewesen, das jeweilige Zitat zu verifizieren. Die zahlreichen, recht ausführlichen Entnahmen aus Sekundärliteratur ersetzen nicht eine eigene Quellenforschung. Wenn der Streit um die Sprachenverordnung (1909) das Parlament in Wien bewegte, so wäre eine eigene Darstellung aus dem gedruckten Parlamentsbericht dem Autor im Rahmen einer Dissertation zumutbar gewesen. Für die Bestrafung eines Kirchenaustritts in Salzburg mit sechs Wochen Arrest (S. 48) wäre ein quellenmäßiger Beleg zu erwarten gewesen. Der „Vertrag mit dem Vatikan“ (S. 48) ist nichts anderes als das Konkordat, das zwischen der Republik Österreich und dem Heiligen Stuhl am 5. Juni 1933, und damit einen Monat vor dem Konkordat mit dem Deutschen Reich, geschlossen wurde und bis heute gilt. Die Zahlungen an den Klerus (Art. XV § 2) und die Zuschüsse zu Priesterseminaren (Art. XV § 6) wurden wie bisher gewährt, so dass insoweit keine Neuregelung erfolgte. Eine erkannte Unstimmigkeit bei einem anderen Verfasser (S. 94 Anm. 144) notiert der Autor und zeigt damit seine Auseinandersetzung mit seinen Vorlagen. Nicht ungern verwendet er Modeausdrücke wie mastermind und multitasking (S. 100) und nimmt auch auf die Bloodlands (S. 130 u. ö.) Bezug. Der Leser wird schon wissen, was gemeint ist. Ein rassisches High-End-Produkt (S. 80) wie auch Ego-Dokumente (S. 48) muss sich ein Autor erst einmal einfallen lassen.
Bei einem weniger voreingenommenen Verfasser wäre die Schilderung einer Gewaltanwendung in einer österreichischen Strafanstalt (1931) (S. 74) ‚bekam er eine so kräftige Abreibung erteilt, daß ihm mindestens ein Zahn ausgeschlagen wurde‘ sicher Anlass gewesen über Gewalt und Gegengewalt nachzudenken. Wie normal war für einen österreichischen Staatsbeamten 1931 die Anwendung von körperlicher Gewalt gegenüber einem Gefangenen?
Von einer Dissertation, anders als von einem Pamphlet, wird gemeinhin erwartet, dass der Ton ausgewogen gewählt wird. Peinlich berührt ist der Rezensent von der Wortwahl an zahlreichen Stellen, z. B. „SS gerecht vier Kinder zeugte“ (S. 52), „Himmlers Menschenzuchtverein“ (S. 64), „Leitwölfe“ (S. 59), „ein echtes SD-Gewächs“ (S. 92); sie unterscheidet sich wenig von der Bezeichnung der Juristen als „Bazillenkultur“ (S. 96). Gerade bei Sachverhalten und Beobachtungen, die einem Verfasser einer Qualifikationsarbeit für Historiker berühren, gehört es nach langjährigem Verständnis der Ausdrucksweise eines Universitätsfaches dazu, den inneren Abstand zum Thema auch sprachlich zu wahren. Die benutzten Quellen sollen für sich sprechen und zum Sprechen gebracht werden, Polemik lässt an der objektiven Würdigung des Quellenmaterials zweifeln.
Neu-Ulm Ulrich-Dieter Oppitz