Monyer, Hannah/Gessmann, Martin, Das geniale Gedächtnis
Monyer, Hannah/Gessmann, Martin, Das geniale Gedächtnis. Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht. Knaus, München 2015. 256 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die Komplexität der Gehirnfunktionen stellt den menschlichen Forschergeist vor erhebliche Herausforderungen. Dabei fließen gewaltige Summen Geldes in Projekte, deren Zielsetzungen so ehrgeizig wie fragwürdig sind. 2013 lief das sogenannte Human Brain Project der Europäischen Union an, gleichzeitig in den USA ein Parallelunternehmen unter der Bezeichnung Brain Initiative; insgesamt stünden damit „fast 4 Milliarden Euro bereit, um ein einziges Ziel zu verfolgen: die Aktivität eines jeden Neurons im Gehirn zu berechnen und nachzuverfolgen“ (S. 228). Gegen diesen Versuch, über viele Computer sämtliche Gehirnaktivitäten zu simulieren, seien mittlerweile erhebliche Vorbehalte laut geworden: Es sei „fraglich, ob die Übertragung der Daten vom menschlichen Gehirn auf den Computer wirklich gelingt“ und „ob wir mithilfe unserer Analyse-Algorithmen tatsächlich Hirnvorgänge nachvollziehen, oder doch nur jene Musterprozesse, die eine Rechenmaschine bei sich selbst vermutet“. Und: „Selbst wenn wir mithilfe eines Eins-zu-eins-Modells einen besseren Blick in das Innenleben des menschlichen Geistes bekommen, können wir doch nicht verstehen, was es mit diesem Geist auf sich hat, es sei denn, wir wissen zuvor schon, was er ist. So wenig, wie uns das mechanische Getriebe in der Mühle einsehen lässt, dass es sich um eine Mühle handelt [denn man muss, um zu verstehen, zuvor bereits wissen oder zumindest eine Ahnung haben, wozu eine solche Anlage dient, wie Leibniz schon vor 300 Jahren dargetan hat; W. A.], so wenig sagt uns der Datenaustausch zwischen den Laptops, die für unsere Neuronen einstehen, was der höhere Sinn und Zweck der Datenverschiebung sein soll“ (S. 231ff.).
Gehirnforschung führt also rasch, wie das Beispiel zeigt, über den medizinisch-biologischen Bereich hinaus in eine grundsätzliche, philosophische Sphäre. Die Heidelberger Autoren des vorliegenden Bandes, die Neurobiologin Hannah Monyer und der Philosoph Martin Gessmann, wagen daher den Schulterschluss und berichten über jenen Bereich der Gehirnaktivität, den sie für vorzüglich geeignet halten, aktuelle Fragen jenseits des Klein-Kleins der Einzelergebnisse der breit gefächerten Forschungsaktivitäten darzulegen: über unser Gedächtnis. Ohne dessen Zuarbeit im Hintergrund könnten wir nämlich „gar nichts denken und fühlen, nichts überlegen und planen“ (S. 15). Eine These, die Paul Valéry in einem Diktum auf den Punkt bringt, das der Schrift als Leitsatz dient: „Das Gedächtnis ist die Zukunft der Vergangenheit“.
Die Verfasser bemühen sich zu zeigen, dass das Gedächtnis deutlich mehr ist als ein Ablageort für Inhalte und Fähigkeiten, von wo sie bei Bedarf wieder aufgerufen werden. Vielmehr handle es sich um eine höchst leistungsfähige Netzstruktur, in der selbst Freiheit und Determinismus nicht als absolute Alternativen, sondern „bestenfalls als Effekte und Ergebnisse von Netzwerkaktivitäten“ erscheinen. Wenn also „festgestellt wird, dass Neurone diese oder jene Wirkung hervorbringen, muss zugleich auf einer höheren Ebene noch einmal mitbedacht werden, dass jene Wirkung wiederum zu Folgen in ganz anderen Zusammenhängen führt – Folgen, die über vielfache Bande gespielt am Ende wiederum dahin führen, schon den Ausgangspunkt der nun einzeln nachverfolgten Wirkungskette als eine Wirkung ganz anderer, umfassenderer Wirkungszusammenhänge anzusehen“ (S. 220f.).
Zur konkreten Veranschaulichung erörtern Monyer und Gessmann die Gedächtnisleistung anhand bekannter Phänomene des humanen Alltags: Träume, Einbildung und falsche Erinnerung, Kindheitserinnerungen, das Älterwerden und das kollektive Gedächtnis. Untersuchungen haben beispielsweise zutage gefördert, dass es möglich ist, mittels elektrischer Stimulation des Gehirns in bestimmten Frequenzbereichen luzide Träume (also Träume, in welchen das Ich im Traum agiert und zugleich dieses Agieren von außen beobachtet) zu initiieren. Die Option, auf solche Art und Weise Einfluss auf Abläufe nehmen zu können, wird im Sport (Trainingswissenschaft) und bei der Behandlung von Ängsten genutzt. Die Auslösung von Kindheitserinnerungen, etwa durch Gerüche, habe unter anderem mit hirnphysiologischen Veränderungen während der Pubertät zu tun, wo rationale Zugangs- und Verarbeitungsweisen den Geruchsinn überlagerten, womit sich auf individueller Ebene (ontogenetisch) wiederhole, was die Gattung Mensch (phylogenetisch) schon durchlaufen habe. Klagen über das oft nur unter degenerativen Aspekten (Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, wozu der Band den wissenschaftlichen Stand der Erkenntnis referiert; S. 204ff.) wahrgenommene Altersgedächtnis konterkariert die Arbeit mit Forschungsergebnissen zu dessen eigenen, spezifischen Qualitäten. Ohne Zweifel von Nutzen seien in einem fortgeschrittenen Lebensalter neue Herausforderungen; es gehe dann nicht darum, „Ruhm zu verwalten, sondern noch einmal etwas Rühmliches zu beginnen. […] Eine solche Lebenssituation kann als der größte Motivator für eine neue Gedächtniskultur im Alter angesehen werden“ (S. 198), wofür Lebensläufe wie der Hans-Georg Gadamers beispielhaft Zeugnis ablegten. Funktionen des kollektiven Gedächtnisses seien „in der Lage, uns zu helfen, wenn wir nicht mehr weiterwissen. Es ist in dem Zusammenhang die Vernetzung der Inhalte, die uns voranbringt, paradoxerweise auch und gerade dann, wenn uns der eigentliche Inhalt vollkommen entfallen ist. Indem Erinnerungen eingelassen sind in Kontexte, die sie mitprägen, kann man im Umkehrschluss nämlich aus den Kontexten auch wiederum auf die Inhalte schließen“ (S. 225). Durch diesen Mechanismus wird etwa ein Quizkandidat in die Lage versetzt, aus einer Auswahl von Antworten die zutreffende zu erschließen, auch wenn er die abgefragte Information zuvor niemals abgespeichert hat.
Einbildung und falsche Erinnerung wiederum sind Faktoren, welche die Arbeit der Gerichte immer wieder herausfordern. An das Beispiel eines (fiktiven) Vergewaltigungsprozesses, in dem das (vermeintliche?) Opfer den Tathergang wiederholt detailliert schildern soll und der (vermeintliche?) Täter sich entsetzt fragt, wie man denn allen Ernstes so etwas komplett Erfundenes einfach behaupten könne, knüpfen die Verfasser Grundsatzfragen: „Kann man sich derart dramatische Ereignisse wirklich und wahrhaftig nur einbilden? Muss man nicht eher annehmen, dass die Frau entweder recht hat oder aber einfach lügt? Ist es möglich, eine Erinnerung an etwas derart Einschneidendes zu haben, auch wenn es in Wirklichkeit gar nicht passiert ist? Kann man etwa durch bloßes Wollen so weit kommen, eine bloße Fantasie für bare Münze zu nehmen? Man fragt sich, ob nicht wenigstens ein latenter, aber immer präsenter Zweifel bestehen bleiben müsste, dass man sich seine Wirklichkeit zurechtgelogen hat“ (S. 137). Antworten können hier nur im Näherungsverfahren und nicht mit endgültiger Gewissheit gegeben werden. Die Selektivität der Wahrnehmung, wie sie in Zeugenvernehmungen so oft greifbar ist, begünstigt jedenfalls falsche Erinnerungen, Leerstellen werden durch Intrusionen oder falsche Rekognition gefüllt, sodass man von einem technischen Versagen sprechen könnte. Schwieriger sei es wohl zu täuschen, vor allem sich selbst zu hintergehen, denn der neue Plot stehe „nicht schon beim ersten Wurf und muss wiederholt verhandelt und öfter überdacht werden“, und „erst recht schwieriger wird die Selbsttäuschung, wenn das dazugehörige Bild- und Tonmaterial und vielleicht noch andere Sinneseindrücke neu generiert werden müssen“. Das mehrfache Abfragen von Tathergängen aus anderen Blickwinkeln sei daher gängige Praxis bei Gericht, denn „wer wirklich dabei war, ist in der Lage, sich an immer neue Einzelheiten zu erinnern“, und irgendwann werde jeder einmal müde, „und spätestens dann beginnt der Schwindler, Fehler zu machen“ (S. 150ff.). Dass man sich selbst tatsächlich überzeugen könne, etwas sei völlig anders gewesen, als man es in Wahrheit erlebt hat, wird mit den Argumenten angezweifelt, dass „Hirnregionen ins Spiel kommen, deren Aktivität nur schwer unter der Bewusstseinsschwelle gehalten werden kann“, und dass echte und falsche Erinnerungen „offenbar nicht im selben neuronalen Netzwerk verhandelt“ würden (S. 154).
Insgesamt ist es wohl beruhigend zu lesen, dass die medizinische Forschung trotz bedeutender Fortschritte, welche die vorliegende Einführung allgemeinverständlich vermittelt, offensichtlich noch weit davon entfernt ist, dem Gehirn seine elementaren Geheimnisse zu entreißen. Wie bei philosophischen Themen scheint es auch hier so zu sein, dass sich mit einer Antwort nur zehn weitere Fragen auftun. Als erwiesen kann hingegen gelten, dass all das, was die Individualität unserer Persönlichkeit ausmacht, im Gehirn seine Heimat hat. Die Optionen, die mit einem erzwingbaren, nicht zu verhindernden Zugang zu diesem Intimsten des Menschen einhergingen, möchte man sich lieber nicht ausmalen.
Kapfenberg Werner Augustinovic